Emily Tesh veröffentlichte zwei Fantasy-Kurzromane, für die sie mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde. »Die letzte Heldin« ist ihr erster Science-Fiction-Roman.
1
AGOGE
Der Himmel wurde von grünen, subrealen Blitzen durchzuckt, als ein Weisheitskreuzer aus dem Schattenraum stürzte. Kyr atmete tief ein, kniff die Augen zusammen, um in den Hyperraum dahinter sehen zu können, und hielt nach dem winzigen Geschoss Ausschau, das im Windschatten des Kreuzers den Durchbruch schaffte, fast unsichtbar hinter dessen glänzender Masse. Ihr ramponierter Kampfanzug registrierte es noch nicht, aber im sichtbaren Lichtspektrum waren menschliche Augen Sensoren mit großer Reichweite, die die Majo immer wieder unterschätzten.
Da.
Sie hatte noch zwei Ladungen ihres Sprunghakens übrig. Ihn jetzt einzusetzen, würde jedoch den Alarm des Majo-Schiffs auslösen. Im letzten Nahkampf war ihre Maske zerbrochen und nur Kleber und Hoffnung hielten sie noch notdürftig zusammen. Wenn sie erneut riss, hier oben, weit über den Wolken in der äußeren Erdatmosphäre, wo die Schlacht tobte, würde Kyr ersticken.
Ein Kreuzer dieser Größe bot locker siebentausend Soldat*innen und zahllosen tödlichen Drohnen Platz, aber er war nur eine Ablenkung. Der Pfeil war die eigentliche Bedrohung. Die faustgroße Bombe aus Antimaterie, die er mit sich trug, hatte die Kraft, das Herz des Planeten dort unten zu zerfetzen. Die Sekundärnutzlast würde Kern und Kruste vernichten. Wenn Kyr das Geschoss nicht erwischte und unschädlich machte, würde von der lebendigen blauen Rundung des Planeten unter ihr bald nichts mehr übrig sein als eine endlose Spur aus Eis, irgendwo zwischen Mars und Merkur.
Kyr zögerte, dachte nach. Sie hatte noch sechs Minuten, ehe der Lauf der Rakete nicht mehr zu verändern und der Planet verloren war. Sie konnte ihren Sprunghaken verwenden, um sie zu erreichen. Dadurch würde sie jedoch den Kreuzer alarmieren und sich mit der Kampfkunst der Majo auseinandersetzen müssen, während sie versuchte, die Bombe zu entschärfen. Oder sie konnte ihre Gegner*innen überlisten. Die Verteidigungsplattform, auf der sie stand, war übersät mit Wracks abgeschossener feindlicher Kampfflugzeuge. Kyr konnte versuchen, eines davon wieder zum Fliegen zu bringen, um sich an dem Kreuzer vorbei zu dem tödlichen Stachel an dessen Schwanzende zu stehlen. Der Rest ihrer Einheit war weg, die Plattform zerstört. Selbst wenn die Majo ahnten, dass noch eine menschliche Kriegerin übrig war, würden sie sie nicht als Bedrohung empfinden.
Und das war ihr Fehler.
Solange die Kinder der Erde leben, soll der Feind uns fürchten.
Die in Kyrs Kampfanzug eingebauten Alarmvorrichtungen schrillten los, und der Feed am Rand ihres Sichtfeldes informierte sie darüber, dass sie dauerhafte neurologische Schäden riskierte, als sie, mit einer kaputten Kampfmaske als einzigem Schutz, seitwärts durch den Schattenraum geschleudert wurde. Sie rang nach Luft, spürte, wie erst arktische Kälte und dann unerträgliche Hitze durch ihre Adern jagten und wieder verschwanden. Wellen grünen Lichts wogten um sie herum, als sie auf der schmalen Nase der Rakete landete. Sie warf sich flach auf den Bauch, klammerte sich mit ihren Schenkeln fest und fing an, mit dem Knauf ihres Feldmessers auf deren Verkleidung einzuschlagen.
Fremdartige Worte waren in die Abdeckung eingeritzt, und ein Wort darunter kannte Kyr: Ma-jo. Es war der Name, den sie sich selbst gegeben hatten, ihrem Volk, ihrer Sprache und ihrer Kraftquelle.
Es bedeutete »Weisheit«.
Die Unterseite des Kreuzers öffnete sich nun, und aus dem dunklen Inneren strömten Reihen um Reihen von Majo-Krieger*innen hinaus in die Finsternis. Die unbemannte Rakete schwankte beträchtlich von einer Seite zur anderen.
Kyr fluchte triumphierend, als sich die Verkleidung löste, um fünfzehntausend Meter unter ihr ins Meer zu stürzen. Ohne sich umzusehen, erledigte sie zwei herannahende Majo mit ihrer Schusswaffe.
Die planetenvernichtende Bombe steckte in einer Kugel aus Kupfer. Mit angehaltenem Atem starrte Kyr sie an. Sie hatte keine Ahnung, wie man sie öffnete oder gar entschärfte. Doch der Auslösemechanismus kam ihr bekannt vor. So etwas hatte sie schon einmal auf einer Skizze gesehen. Ruhig, ganz ruhig, dachte Kyr und machte sich mit langsamen Handgriffen an die Arbeit, wobei sie versuchte, an alles zu denken, was sie über die Ingenieurskunst der Majo gelernt hatte.
Nur noch vierzig Sekunden. Kyr hatte es fast geschafft, da schob sich plötzlich eine zweite Abdeckung über die Kugel, grün glitzernd im Licht der Schattenraum-Materialisierung, und eine Stimme sagte: »Sie handeln im Widerspruch zur Weisheit. Unterlassen Sie diese Handlung.«
»Ihr könnt mich mal«, knurrte Kyr und holte erneut ihr Messer hervor.
»Ihre Handlungen sind unklug«, wiederholte die Stimme. »Ihre Handlungen sind unklug. Die Weisheit handelt zum Wohle der Allgemeinheit. Ihre Handlungen sind unklug.«
»Da unten leben vierzehn Milliarden Menschen, verdammt«, keuchte Kyr und schlug auf die Abdeckung ein. Sie war noch nie so weit gekommen wie heute.
Ein stechender Schmerz fuhr ihr in den Oberschenkel. Der Schuss des Majo-Kriegers war an einer bereits beschädigten Stelle ihres Kampfanzugs eingetreten. Kyr verlor den Halt und fiel und fiel und fiel, und im Fallen sah sie, wie der Kreuzer so schnell, wie er aufgetaucht war, wieder im Nichts verschwand. Die Rakete schoss hinab, dem Blau entgegen.
Das Letzte, was Kyr sah, war die Explosion der Antimaterie, die nun begann. Das Ende ihrer Welt. So, wie sie es schon Hunderte Male beobachtet hatte.
Die Simulation endete. Langsam setzte sich Kyr auf dem grauen Boden aus Plastahl auf und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Zum vierten Mal hatte sie das Doomsday-Szenario heute durchgespielt, und jetzt quälte sie der dumpfe Kopfschmerz, der einsetzte, wenn man zu viel Zeit in der Agoge verbrachte. Sie rieb sich den Kiefer, als könnte sie den Schmerz einfach wegmassieren, und kam dann langsam auf die Füße.
»Gut gemacht, Valkyr«, rief ihr Onkel Jole zu.
Er machte einen schleppenden Schritt auf sie zu. Selbst mit der alten Kriegsverletzung war Commander Aulus Jole noch immer eine beeindruckende Erscheinung. Wie die meisten Soldaten überragte auch er seine Mitbürger*innen deutlich – Kyr um einen ganzen Kopf, und sie war nicht gerade klein –, und auch der Rest seiner Physis wies auf für den Krieg selektierte Gene hin, auf militärtaugliche Nanotechnologie-Implantate und darauf, dass hier jemand als Kind immer genug zu essen bekommen hatte. Er sah Kyr ähnlich genug, um tatsächlich ihr Onkel sein zu können. Sie beide hatten die gleiche weltraumblasse Haut wie die meisten hier auf Station Gaia. Aber auch das Grau ihrer Augen war gleich, genau wie das Blond ihrer Haare – obschon Onkel Joles kurz geschnitten waren, während Kyr, wie vorgeschrieben, einen Pferdeschwanz trug. An Com mander Joles Kragen prangten zwei Geschwaderabzeichen: die eingravierte Erdkugel des Führungsstabs und eine Nadel in Lilienform für das Hagenen-Geschwader, die Elite des Terranischen Expeditionskorps, seiner alten Einheit.
»Training in der Pause?«, fragte er. »Du bist ja schlimmer als ich.«
Das war ein Witz: Niemand war schlimmer als Aulus Jole, wenn es um Agoge-Simulationen ging. Die meisten oberen Level basierten auf seinen eigenen Erfahrungen als Mitglied des Hagenen-Geschwaders, in dem er einer der erfolgreichsten Agent*innen der Terranischen Föderation gewesen war. Er hatte Stützpunkte der Majo hochgenommen, bürgerliche Einrichtungen verteidigt und seine Truppen in die offenen Feuergefechte der letzten Kriegstage geführt. Und dann war da natürlich noch das Szenario, das Kyr gerade durchlaufen hatte. Aulus Jole war es gewesen, der auf einer manövrierunfähigen Verteidigungsplattform gestanden und dem Ende seiner Welt entgegengesehen hatte. Aulus Jole war es gewesen, versehrt durch das Feuer der Majo, der nur Sekunden zu spät gekommen war.
Kyr wusste, dass er einmal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, denn ihre ältere Schwester Ursa hatte ihn gefunden. Wahrscheinlich, dachte sie, war es mehr als einmal gewesen. In ihren Träumen sah sie, wie sich der Blaue Planet auflöste. Es fühlte sich an, als würde die entstandene Leere frisch behauene Eissplitter aus ihrem Herzen ziehen – und sie war noch nicht einmal dabei gewesen. Sie war noch nicht einmal geboren.
»Ich habe trotzdem versagt«, sagte Kyr. »Ich habe es nicht geschafft. Tut mir leid.«
»Wir alle haben versagt. Doch die Kinder der Erde harren aus. Und solange wir leben …«
»… soll der Feind uns fürchten«, schloss Kyr gemeinsam mit ihm.
Jole legte eine Hand auf ihre Schulter, sodass sie zusammenfuhr und zu ihm aufblickte. »Ich bin stolz auf dich, Kyr«, sagte er. »Ich sage dir das nicht oft genug. Geh zu den anderen und ruh dich aus. Du hast jetzt eine Pausenschicht.«
Pause war ein Witz. Kyr wusste, wo die anderen Mädchen vom Haus der Sperlinge waren: Sie übten sich im Nahkampf auf den Bodenmatten, machten Schießübungen oder absolvierten ihren Freiwilligendienst im Systeme-Geschwader oder in der Krippe. Pausen waren Zeitverschwendung, ein Luxus für Leute, die einen Planeten ihr Eigen nennen konnten. Für die Soldat*innen der Station Gaia, die letzten echten Kinder der Erde, existierten so etwas wie Pausen nicht.
Kyr ging trotzdem, wenn auch widerwillig. Ihr Kopf tat noch immer weh. Als sich die Agoge hinter ihr schloss, sah sie ein Schimmern in der Luft, wo die Verteidigungsplattform wieder auftauchte. Jole spielte das Szenario noch einmal durch.
Sie war noch keine fünf...
Erscheint lt. Verlag | 12.6.2024 |
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Übersetzer | Nina Lieke |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Some desperate Glory |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2024 • action • Antifaschismus • anti rassismus • eBooks • Faschismus • found family • Hugo Award Nominierung • Neuerscheinung • Queer • queer identity • Queer Love • queer romance • Rassismus • Space Opera • Starke Frau • weibliche Heldin • Weltraumabenteuer |
ISBN-10 | 3-641-31508-5 / 3641315085 |
ISBN-13 | 978-3-641-31508-5 / 9783641315085 |
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