Lockvogel (eBook)
432 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9653-0 (ISBN)
Masi Morris, Einzelkämpferin, Femme fatale und hartgesottene Detektivin in einem, heizt der Polizei als auch der High Society von Tel Aviv ordentlich ein. Eine Ermittlerin mit ebenso unangemessenem wie unwiderstehlichem Verhalten.
Daria Shualy ist ehemalige Redakteurin bei israelischen Print- und Online-Medien, TV-Autorin und zweifache Startup-Gründerin, die zur Startup-Beraterin wurde. Sie ist in Israel als Tochter englischsprachiger Eltern geboren und aufgewachsen, diente in der Air Force Intelligence und studierte Philosophie und Gender Studies an der Universität Tel Aviv. Ähnlich wie ihre Protagonistin Masi lernte sie im Alter von sechs Jahren das Schießen mit einer Waffe, was ihr Vater unter dem 'Bring dein Kind mit zur Arbeit Tag' verstand. Daria Shualy engagierte sich als Freiwillige für benachteiligte Jugendliche und kümmert sich heute um Frauen in der Prostitution. Sie liebt es zu lesen, zu schreiben und Snowboard zu fahren. Sie ist eine schreckliche Köchin. Daria Shualy lebt in Tel Aviv.
2. KAPITEL
»Schwesterherz, antworte bitte, please«, flehte Tilly – zwanzig Jahre alt und äußerlich etwas an Schneewittchen erinnernd –, als sie diesen Morgen zum vierten Mal Masi zu erreichen versuchte. Sie sagte sich in vernünftigem Ton, dass statistisch gesehen kein Grund zur Sorge bestehe, selbst wenn man jene Nacht vor zwei Jahren einberechnete. Danach überlegte sie kurz, ob – rein statistisch betrachtet natürlich – Masi als seelisch vorbelastet galt, und wie sich das auf die Wahrscheinlichkeit auswirkte, dass alles in Ordnung war oder auch nicht. Schließlich gelangte sie zu dem Schluss, dass sie nicht genug einschlägige Fakten besaß, um über diese Frage entscheiden zu können, und sie sich daher bei erster Gelegenheit informieren müsste. Sie fuhr auf ihrem nichtelektrischen Fahrrad den Chen-Boulevard hinauf. An der Ecke Netzach-Israel-Straße hing penetranter Aasgeruch in der Luft, und sie hielt den Atem an, um keine Partikel einer toten Katze einzusaugen, obwohl sie wusste, dass es nicht so funktionierte. Angeekelt spürte sie, dass ihr der Schweiß in zwei Strömen aus dem Büstenhalter zum Nabel lief, und zog den Bauch ein, um die Berührung der Bluse mit dem Schweiß zu reduzieren.
Jetzt hörte sie auf, »Schwesterherz, antworte bitte« zu beschwören, und ersetzte es durch »bitte kein Alarm, bitte kein Alarm«. Im vorigen Krieg hatte ein Alarm sie beim Radeln auf dem leicht ansteigenden Rothschild-Boulevard erwischt, und sie war, warum auch immer, abgestiegen und hatte mit dem Rad in der Hand zu rennen versucht, wobei sie sich im Pedal verfing, hinknallte und sich den Knöchel verstauchte. Sie wäre am liebsten im Boden versunken, zumal es auch noch ein Fehlalarm gewesen war. Als sie nun den Habima-Platz überquerte, erinnerte sie sich, dass darunter mal ein Atombunker gewesen war, und fragte sich, ob die Tiefgarage den nun praktisch ersetzt oder nur ergänzt hatte. Der Platz strahlte vor Weiß, und zwei Schwarze Arbeiter putzten ihn, der eine mit einem Schlauch in der Hand, der andere mit einem langen Schrubber. Tilly überquerte die Marmorek-Straße, hielt in der boshaften Sonne an und mühte sich, das Rad an eine Sitzbank anzuschließen, weil diese Schwachköpfe in der Stadtverwaltung berechnet hatten, dass vier Fahrradständer prima für die vierzig Räder reichten, die dort jeden Morgen standen. Mit strapazierten Nerven betrat sie die Bäckerei Lachmanina, um eine Geburtstagstorte für Masi zu kaufen.
Beim krassen Übergang in den klimatisierten Laden kam sie sich vor wie eine Cola-Dose, die man endlich geöffnet hat. Etwas ruhiger nun stellte sie sich hinter ein paar Leuten an, die mehr schlecht als recht eine Schlange mimten, und lauschte ihrem geistlosen Gequatsche: Wo sie beim Alarm um neun Uhr abends gewesen waren und wo bei dem um ein Uhr nachts, und boah, was für eine Hitze, ist ja gar nicht so sehr die Temperatur, sondern die Feuchtigkeit, als wir Kinder waren, hat es diese Hitze nicht gegeben, ich weiß noch, dass wir bloß einen Ventilator hatten, es heißt, dieser Sommer sei der heißeste seit fünfzig Jahren, na gut, das meinen sie mit globaler Erderwärmung. Lächerliche Kreaturen, dachte sie, wieder überrascht uns die Hitze, und ausgerechnet im Sommer. Sie verabscheute den israelischen Sommer, die Israelis und Israel, obwohl sie selbst eine geborene Israelin war. Ihr Handy klingelte.
»Ja«, antwortete Tilly in abweisendem Ton, der ihr an diesem Morgen mit Leichtigkeit kam.
»Schalom, ich suche Masi Morris«, sagte eine Frau.
»Sie ist im Moment nicht frei.« Unwillkürlich kam ihr das Bild einer halb bekleideten Masi in den Sinn. »Kann ich behilflich sein?«
»Mit wem spreche ich?«, forschte die Frau mit geldgeschwängerter Stimme.
»Mit Tilly«, antwortete Tilly.
»Verzeihen Sie, Zilly, aber in welchem Verhältnis stehen Sie zu Frau Morris?«
»Wollen Sie ihr eine Nachricht hinterlassen?«
»Ja«, sagte Geld etwas ungeduldig, »richten Sie ihr bitte aus, dass David Peretz sie heute um drei Uhr nachmittags treffen möchte. Hotel David Intercontinental. King-Club-Room. Dringend.«
»Richte ich aus. Bye.«
Tilly rollte die Augen und schickte Masi einen sachlichen Geburtstagsgruß, einschließlich der Angaben für das gewünschte Treffen. Zehn Minuten später war sie schon in Masis Wohnhaus, wo sie die Geburtstagstorte dem Nachbarn von gegenüber anvertraute, einem Typen, den ihre Schwester sicher attraktiv fand und der sie mit jenem Lächeln bedachte, das gesunden Frauen von einundzwanzig bis fünfunddreißig Jahren vorbehalten war. Und als sie dann schwitzend zum Büro radelte, klingelte das Telefon erneut. Geld war dran. »Spreche ich mit Zilly? Herr Peretz lässt ausrichten, es gehe um Leben und Tod.«
Etwa um dieselbe Zeit erwachte Masi in einem unbekannten Bett, neben einem Mann, der ihr halb bekannt vorkam, vielleicht nur ein Viertel. Gar nicht mal hässlich. Große, seidige Locken umrahmten ein ruhiges Marmorgesicht. Sie wusste nicht mehr, wie er hieß, und kramte auch nicht in ihrem Gedächtnis. Sie wollte sich anziehen und verduften, ehe er aufwachte und sentimental wurde, oder merkte, dass er mit einer grünäugigen Blondine schlafengegangen und neben einem braunäugigen Glatzkopf aufgewacht war. Sie hatte einen Kater und setzte sich stückweise auf. Der Boden um den Futon war gepolstert mit einer Schicht aus Notenblättern, Kleidungsstücken, Büchern, Kabeln, Plektren und Aschenbechern. Sie kam langsam hoch, berechnete, wie sie leise zu ihrem kleinen Weißen und ihrem Slip am anderen Ende des Zimmers gelangen könnte. »Der Tatort ist wie ein Mikado-Spiel«, hatte Halevi ihnen im Polizeikurs gesagt, »man muss behutsam vorgehen.« Also bewegte sie sich mit geübter Vorsicht und schlich mit den Kleidungsstücken zum Badezimmer. Das war dreckig. Megascheiße, Masi. Sie wusch die Hände ungeachtet der ekligen Schicht im Waschbecken und putzte die Zähne mit Zeigefinger und Zahnpasta. Sie besah sich im Spiegel. Die Perücke war strubbelig, aber ansonsten hätte die Lage schlimmer sein können. Sie setzte sie ab, wusch sich das Gesicht und ging weg.
Die Luftfeuchtigkeit klatschte ihr wie eine nasse Ohrfeige ins Gesicht. In der stehenden Luft hing der satte Geruch von nicht abgeholtem Müll und den abgefallenen Früchten der Feigenpappel, die den Bürgersteig der Immanuel-HaRomi-Straße in einer saftig matschigen Schicht bedeckten, sich an die Sohlen hefteten und so in die Häuser gelangten. Ihr fiel ein, dass sie Geburtstag hatte, und beschloss, das Telefon erst später anzuschalten. Geistesabwesend suchte sie ihre Honda CBR 250 R, in deren Kasten sie Kleidung zum Wechseln verwahrte. Aber das Motorrad war nicht da. Sie zerbrach sich den Kopf über den Verlauf der Nacht und erinnerte sich schließlich, dass sie zu groggy zum Fahren gewesen war. Sie hatte das Motorrad sicher beim Delikatessenladen stehen lassen. Vorsichtigen Schritts, um den Kopf nicht übermäßig zu erschüttern, bog sie rechts in die Eliyahu-Bachur-Straße und war eine halbe Minute später in der Ibn-Gabirol. Sie hob die Hand und hielt ein glänzendes Mercedes-Taxi an.
Masi kletterte auf den Rücksitz, in der Hoffnung, ein Gespräch zu vermeiden. Klimaanlage und Radio arbeiteten bis zum Anschlag. Öffentlich-rechtlicher Sender, 2. Programm. Tali Kahanov und Ofer Weiss unterhielten sich über die »Affäre Mamilla-Station«.
»Heute Morgen«, sagte Kahanov, »hat der Investigativjournalist Amir Guetta –«
»Der, der die Affäre mit den Geldkuverts aufgedeckt hat«, fügte Weiss an.
»Die mit den Umschlägen, die um den Abriss und Neubau von Mehrfamilienhäusern, die um die Israel Aerospace Industries … an Affären mangelt es nicht, Ofer, wirklich nicht. Also nun hat Guetta aufgedeckt, dass mutmaßlich –«
»Mutmaßlich, klar mutmaßlich.«
»Genau, also mutmaßlich hat der Ministerpräsident Bestechungsgelder erhalten, damit Schechter-Tiefbau den Zuschlag für den Bau der unterirdischen Bahnstation in Jerusalem erhält –«
»Der Station Mamilla«, konkretisierte Weiss.
»Noch damals, als er, wie ihr euch sicher erinnert, Bürgermeister von Jerusalem war.«
»Ich bin ein waschechter Jerusalemer«, der Fahrer drehte das Radio leiser und knüpfte das unvermeidliche Gespräch an: »Wissen Sie, was das heißt? Ein Urjerusalemer. Achte Generation in Jerusalem. Wie lange ist Ihre Familie hier? Zwei Generationen? Mein Urgroßvater stammte von König David ab. Ehrenwort. Sie können es im Diasporamuseum nachprüfen. Jetzt frage ich Sie, wäre es dann nicht logisch, dass ich meinen Töchtern eine Wohnung in Jerusalem kaufen kann? Und glauben Sie, ich könnte das? Wovon denn wohl?«
Masi rückte ihre Ray-Ban-Wayfarer-Sonnenbrille auf der Nase zurecht und behielt ihre Gedanken für sich.
»Wozu braucht er noch mehr Geld, sagen Sie mir?« Der Fahrer ließ sich durch ihr Schweigen nicht stören. »Er strotzt vor Geld. Hat vier Häuser. Nicht Wohnungen. Häuser. Das haben Sie nicht gewusst, was? Ich kann sie Ihnen zeigen. Der Sohn meiner Schwester hat ihnen die Rohre verlegt, mir allllles erzählt. Ich kann Sie auf eine Rundfahrt mitnehmen. Auf meine Rechnung, möchten Sie?«
»Vielleicht bei anderer Gelegenheit. Heute bin ich in Eile.«
»Wohin eilen Sie denn? Ihr jungen Frauen von heute seid dauernd auf dem Sprung. Zeit zum Kindermachen haben Sie gefunden?« Er stellte das Radio wieder lauter, dort sprach man jetzt vom Krieg, »Jalla, sollen sie doch alle wieder hingehen, wo sie hergekommen sind. Sollen sie nach Gaza gehen. Wenn man sie dort so liebt, sollen sie sie mit Kusshand aufnehmen. Warum nicht.«
»Halten Sie bitte an«, sagte...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2024 |
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Übersetzer | Ruth Achlama |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | KALI BARAK (ברק כל) |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Ethnische Zugehörigkeit • Familiengeheimnis • Femme fatale • High Society Tel-Aviv • Hitze • Israel-Krimi • Kriminalroman • Masi Morris • Neo-Noir • Noir-Krimi • Polizei • Privatdetektivin • Sommer • Starke Frauen • Tel-Aviv Krimi • Unterwelt |
ISBN-10 | 3-0369-9653-2 / 3036996532 |
ISBN-13 | 978-3-0369-9653-0 / 9783036996530 |
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