Nachbarn (eBook)
304 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3535-0 (ISBN)
Ein Buch, auf das die Welt 60 Jahre warten musste - große Literatur, in der Aktivismus und Poesie in explosiver Weise aufeinandertreffen.
»Nachbarn« ist eines jener seltenen Werke in der Literatur, die ihre Zeit einfangen und ihr doch weit voraus sind. Diane Oliver erkundet darin die sich wandelnden sozialen Umstände: Beäugt von den Nachbarn, fragen sich Ellie und ihre Familie, ob es richtig ist, den kleinen Bruder morgen als einziges Kind auf die Schule der Weißen zu schicken. Ein Paar wird durch rassistische Übergriffe dazu getrieben, im Wald zu leben, und entwickelt eine mörderische Wut. Meg heiratet einen Schwarzen, doch die Liebe fordert über die Grenzen der Hautfarbe ihren Preis. Über allem könnte die Frage stehen: Gibt es einen Unterschied zwischen dem, was für die Gesellschaft am besten ist, und dem, was das Individuum braucht? Oliver geht es immer um beides, um das Politische und das Persönliche, und damit um allgemeingültige Fragen unserer Existenz und unseres Miteinanders.
»Diane Oliver ist die größte amerikanische Autorin des 20. Jahrhunderts. Mit ihr reise ich in die Zeit der Bürgerrechtsbewegung und in die Seele der Menschen. Wenn Nina Simone die High Priestess of Soul war, ist Diane Oliver die High Priestess of Literature.« Julia Franck.
»Diane Olivers überwältigende Geschichten tauchen in einer Zeit wieder auf, in der uns die Brutalität des Rassismus immer wieder vor Augen geführt werden muss. Oliver ist weder an Raum noch an Zeit gebunden und gibt uns ergreifende Einblicke in das Leben derjenigen, deren Menschlichkeit ständig verleugnet wird.« Emilia Roig.
Diane Oliver wurde 1943 in Charlotte, North Carolina, geboren und besuchte nach dem Highschool-Abschluss das Women's College, die spätere University of North Carolina. Sie war Chefredakteurin der Unizeitung und veröffentlichte zu ihren Lebzeiten vier Kurzgeschichten, darunter die Story »Nachbarn«, die mit dem O. Henry Award ausgezeichnet wurde. An der University of Iowa nahm sie am Writers' Workshop teil und erhielt den Master-Abschluss postum, wenige Tage nachdem sie 1966 im Alter von 22 Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war.
Die Kammer im obersten Stock
Alle trugen weiße Regenmäntel, nur ihrer war hellblau, sodass sie herausstach. Aber sie war zu sehr damit beschäftigt, das Gepäck aus dem Wagen in den siebten Stock von Wingate Hall zu schaffen, um über Regenmäntel nachzudenken. Außerdem flößten ihr all die weißen Gesichter, die sich an die Fensterscheiben drückten, allmählich Angst ein.
»Das wird schon, Spatz …« Ihr Vater tätschelte ihr den Arm. »Wir würden dich nicht hierherschicken, wenn wir Zweifel hätten, dass du mithalten kannst. Überleg doch mal …« Er lächelte. »Du wirst die erste Green-Hill-Absolventin sein. Ist der Kofferraum leer?«
Sie sah ihren Vater an und wünschte sich, er würde aufhören, sie Spatz zu nennen. Er liebte sie, das stand außer Frage, aber sie war es leid, das Experiment zu sein. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie es vorher gewesen war. Und sie fragte sich, wie es wohl hinterher wäre: Wie sie sich fühlen würde, tagein, tagaus nur schwarze Gesichter zu sehen. Sie hatte vier Jahre Highschool überstanden, und in vier weiteren Jahren hätte sie es geschafft. Dann wäre sie frei, könnte tun und lassen, was sie wollte.
Ihr Vater hatte alles unternommen, damit sie dieses College besuchen konnte – Bittbriefe an das Kuratorium geschrieben, sogar mit einer Klage gedroht –, und sie hatte sich dafür geschämt, dass sie nicht gehen wollte. Gewiss, die Uni hatte einen guten Ruf, aber welches Mädchen, das klar bei Verstand war, wollte an einem Frauencollege in den Südstaaten studieren? Wenigstens war Green Hill eine Privathochschule, und es würden sie dort keine Fotografen belästigen. Die meisten Leute, hatte ihr Vater gesagt, wüssten nicht einmal, dass sie hier anfing. Das würde sich weiß Gott bald ändern. Mit einem Mal überkam sie eine innere Unruhe, und sie versuchte, sich an die Atemübungen zu erinnern, die der Arzt ihr verordnet hatte.
»Danke, Daddy«, sagte sie. »Es gibt hier sicher jemanden, der die Truhe hinaufträgt.« Sie beugte sich vor und küsste ihn.
»Pass gut auf dich auf, Winifred.« Das Gesicht einer Frau erschien am hinteren Wagenfenster. »Wenn du etwas brauchst, ruf an. Warte um Himmels willen nicht wieder so lange wie beim letzten Mal. Wir können uns die Telefonkosten leisten.« Ihre Mutter schwieg einen Augenblick. »Ich würde mir wirklich gerne dein Zimmer ansehen, Liebes, aber die vielen Treppen wären nicht gut für meine Kopfschmerzen.« Dann sank der Kopf so langsam, wie er sich erhoben hatte, zurück auf das Schaumstoffkissen und das pastellgelbe Leintuch, das auf dem Rücksitz ausgebreitet war.
Eine Welle der Übelkeit durchfuhr Winifred, als sie den Kopf auftauchen und wieder verschwinden sah. Ihre Mutter litt an einer Stauballergie, und das Reisen war beschwerlich für sie. Dennoch begleitete sie ihren Mann auf seinen Fahrten im Dienst der Bürgerrechtsbewegung durch den ganzen Südosten. Für die gute Sache opferte sie gerne ihre Gesundheit.
»So, das wär’s, Spatz.« Ihr Vater drückte ihr einen Scheck in die Hand und justierte den Rückspiegel. »Vergiss nicht, Tante Millicent zu schreiben – sie macht sich Sorgen um dich.«
Großer Gott, dachte sie, erst Spatz, jetzt Tante Millicent. Auf einmal wünschte sie sich, der Wagen würde endlich losfahren. »Ja, Daddy, ich denke dran.«
Er drehte den Schlüssel, und der Motor sprang an. »Sieh zu, dass du aus dem Regen herauskommst – sonst erkältest du dich noch.« Ihr Vater legte den Gang ein, und auf dem Rücksitz hob sich eine rundliche Hand, bevor der Wagen hinaus auf die Straße fuhr.
Winifred sah dem Wagen hinterher, bis er um die Ecke bog, griff nach dem letzten Gepäckstück, ihrer Trockenhaube, und eilte zum Eingang des Studentenwohnheims. Regen tropfte auf ihren Mantel, während sie schützend den Kopf über das Stofftier in ihren Armen beugte. Es war ein rosa Hund mit orangen Augen, und da die Plastiktüte sein Fell nicht ganz bedeckte, befürchtete sie, er würde klitschnass werden.
Am Tag nach ihrer Ankunft schrieb sich Winifred für ihre Kurse ein. Wie ihr Vater vorausgesagt hatte, taten alle so, als wäre sie gar nicht da. Ihre Zimmergenossin hieß Norma Parker. Bis Winifred zu Beginn des zweiten Quartals mit dem rosa Hund auftauchte, hatte sie das Zimmer für sich allein gehabt. Winifred wäre ein Einzelzimmer lieber gewesen, aber ihr Vater bestand darauf, dass sie genauso behandelt wurde wie alle anderen Studentinnen. Also musste sie es wohl oder übel darauf ankommen lassen. Norma war groß und schlank mit blonden Locken, und auch ihre besten Freundinnen sahen nicht so aus wie Winifred. Ellen und Bonnie wohnten auf demselben Flur, und die beiden und Norma waren seit der Highschool unzertrennlich. Alle drei studierten Chemie, und Winifred sah sie nur selten, da die Kurse, die sie besuchte, im Gebäude der Geisteswissenschaften stattfanden.
Um ihr Zimmer zu verschönern, hatte Winifred einen ganzen Zoo mitgebracht. Außer dem Hund gab es einen kleinen Tiger mit Leopardenflecken, der ihre Kleider bewachte, ein gelbes, fast einen Meter großes Kaninchen namens Mandy, eine grüne Ente und ein flauschiges Schaf. Morgens beim Aufwachen sah sie als Erstes nach den Tieren. Wenn sie aus dem Bett kroch, hatte sie immer das ungute Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn ihr nichts auffiel, das Anlass zur Sorge gab, schaute sie in den Kalender auf ihrem Schreibtisch, um sich zu vergewissern, welcher Tag heute war. Mit dem Datum im Kopf knöpfte Winifred akkurat den Bademantel zu, machte ihr Bett und begann das morgendliche Sieben-Uhr-Ritual.
Zuerst öffnete sie die oberste Kommodenschublade, holte frische Unterwäsche heraus und drapierte sie auf dem Bett. An diesem Morgen schlich sie auf Zehenspitzen in die Kleiderkammer – Norma stand nie vor neun auf – und kam mit einem grünen Faltenrock, einer grünen Bluse und einem grünen Pullover zurück. Sie legte die Sachen auf die Unterwäsche, aber vorher nahm sie die Stabbrosche aus dem Schmuckkästchen und befestigte sie am Kragen der Bluse. Leise griff sie zu Seife und Handtuch, öffnete mit nur zwei Quietschgeräuschen die Tür und ging den Flur hinunter.
Zu dieser frühen Stunde war die Hausbeleuchtung noch abgeschaltet, und das Porzellan des Wasserspenders schimmerte im Morgenlicht, das durch das Fenster am Ende des Flurs schien. Sie ging zur mittleren Dusche, bevor eines der anderen Mädchen ins Bad kam. In der ersten Unterrichtswoche hatte sie alle drei Duschen ausprobiert. Bei der Dusche gleich neben der Tür war der Seifenhalter kaputt. Die Seife rutschte durch, fiel auf die Fliesen und weichte im Wasser auf. In der am anderen Ende war der Strahl zu fein, und sie mochte es nicht, dass ihr ständig Wasser in die Ohren spritzte. Also hatte sie beschlossen, immer die Erste unter der mittleren Dusche zu sein. Und das war ihr auch gelungen, dachte sie zufrieden, als sie ihre Badelatschen aus der Strandtasche zog. Nur einmal war Edie Roddey früher aufgestanden, um für eine Biologieprüfung zu lernen, und ihr zuvorgekommen. An Edie Roddey zu denken regte sie auf, und Winifred blieb länger unter der Dusche als geplant. Sie musste zurück ins Zimmer laufen und sich schnell die Haare kämmen, um pünktlich um zwanzig vor acht beim Frühstück zu sein. Als Norma aufwachte, saß Winifred bereits zwischen den gebundenen Jahrgängen von American Girl und American Journal of Sociology im Keller der Bibliothek und lernte für Geschichte.
Alle außer Winifred waren in einer Studentinnenverbindung. Das machte ihr nichts aus. Irgendwie hatte sie sich daran gewöhnt, nicht eingeladen zu werden, und als sie – natürlich versehentlich – doch eine Einladung zum Nachmittagstee bekam, warf sie den Umschlag achtlos in den Papierkorb.
Es war ihr schwergefallen, sich für ein Hauptfach zu entscheiden. Ihre Mutter hatte Schauspiel vorgeschlagen, aber Winifred konnte sich einfach nicht vorstellen, vier Jahre lang den Part des Hausmädchens zu übernehmen. Sie war recht bewandert in Biologie, aber da standen das ganze Jahr über Exkursionen auf dem Programm. In den Motels war die Segregation zwar angeblich abgeschafft, aber sie wollte es auf keinen Fall unter den Augen der anderen ausprobieren. Also musste sie ein Fach wählen, bei dem sie weder mit anderen Menschen zu tun noch unangenehme Szenen zu befürchten hatte. Schließlich hatte sie...
Erscheint lt. Verlag | 22.1.2024 |
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Nachwort | Tayari Jones |
Übersetzer | Brigitte Jakobeit, Volker Oldenburg |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Neighbors And Other Stories |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Aktivismus • Alice Hasters • amanda gorman • Bürgerrechtsbewegung • dachbodenfund • Gleichberechtigung • Judith Hermann • Liteartaur • People of Color • Storys • Tove Ditlevsen • Widerstand • Wiederentdeckung |
ISBN-10 | 3-8412-3535-2 / 3841235352 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3535-0 / 9783841235350 |
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