MERKUR 12/2023 (eBook)
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12179-7 (ISBN)
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Beiträge
DOI 10.21706/mr-77-12-5
Gregory Jones-Katz
Bildungskapitalismus in China
Im Westen bewundert man, sagen wir es offen, den chinesischen Fokus auf Erziehung. Oft geht es dabei um ein spezifisches Modell: Konfuzius nämlich, der in Vier Bücher und Fünf Klassiker die Betonung auf kindliches Wohlverhalten gegenüber den Eltern, auf Menschlichkeit und Rituale gelegt hat. Mir ist ohnehin nicht wohl, wenn man im Westen Konfuzius heranzieht, um Verallgemeinerungen über die chinesische Kultur daraus abzuleiten. Besonders skeptisch bin ich allerdings, seit ich an einer von neun Hochschulen gearbeitet habe, die in China in Kooperation mit westlichen Bildungsinstitutionen entstanden sind. Zum selben Thema, ja manchmal im selben Atemzug, äußern Menschen im Westen regelmäßig unfreundliche Stereotype, darunter das von den auf eine akademische Karriere besessenen »Tiger-Eltern« und der fleißigen chinesischen (oder überhaupt asiatischen) Studentin. Dabei ist die »Tiger-Mutter« ein in den USA entstandenes Konzept, popularisiert von Amy Chua in Die Mutter des Erfolgs, einem Buch, das den Begriff ironischerweise überhaupt erst nach China gebracht hat. Nicht zu Unrecht haben westliche Leser in Chuas Tiger-Mutter eine Art elternpädagogischen Gegenentwurf zu Thomas L. Friedman entdeckt, der in Die Welt ist flach besorgt gefragt hatte, ob amerikanische Schülerinnen und Schüler nicht zu abhängig seien von kurzfristigen Reizen, zu beschäftigt mit den jeweils neuesten Unterhaltungsgeräten und zu faul, um sich dauerhaft konzentriert mit fortgeschrittener Mathematik, Naturwissenschaft und Technik zu beschäftigen – und darum schlecht dafür ausgestattet, auf dem weltweiten Markt zu konkurrieren.
Es ist kein Geheimnis, dass chinesische Eltern mit ziemlich beispiellosem Eifer enorme Summen in die Ausbildung ihrer Kinder stecken. Was sie sich davon erhoffen, ist die Beförderung des Nachwuchses in die akademische Stratosphäre, wobei die Kinder die Familie dann in Richtung Kapital und Kultur katapultieren sollen. Diese Träume und Erwartungen chinesischer Eltern, weltweit sicher an einem extremen Ende angesiedelt, wurzeln in der Tradition, aber mindestens ebenso sehr in ökonomischen Trends und Zwängen jüngeren Datums. Während meiner fünf Jahre in China ist mir klar geworden, dass kein geringer Teil der Leidenschaft von Eltern und Großeltern für die Bildung sich sehr direkt dem gegenwärtigen chinesischen Arbeitsmarkt verdankt, der sich erst nach den ökonomischen Reformen Deng Xiaopings und seiner Getreuen im Jahr 1978 entwickeln konnte.
Diese Veränderungen brachten China mit ausländischen Unternehmungen, ausländischen Bildungssystemen und ausländischer Technologie in Kontakt – mit der reinen Planwirtschaft war es damit vorbei. Allerdings geriet das Land mit dieser Entwicklung auch in die unvertrauten Gewässer dessen, was Zygmunt Bauman »flüchtige Moderne« genannt hat: »die Entfesselung der Macht des Kapitals, gesellschaftliche und gemeinschaftliche Bande zu lösen«. Wobei diese Reformen, indem sie ganz auf den Markt setzten, die tief wurzelnden Ungleichheiten bei den Bildungsressourcen und auch den Wettbewerb noch verschärften. Mit dem epochalen Eintritt der gewaltigen Masse verfügbarer Arbeitskraft in den Weltmarkt wurde aus dem einst nationalen Bildungswettbewerb ein Wettrennen im globalen Rahmen.
Über das chinesische Bildungswettrennen und seine nationalen und (post)-Trumpischen globalen Kontexte in Leitartikeln, Essays und Büchern nachzudenken, ist das eine; etwas durchaus anderes ist es, als amerikanischer Akademiker vor Ort damit konfrontiert zu sein. Als Geisteswissenschaftler und als Vater dreht sich mein Leben um Erziehung und Ausbildung, wobei meine eigenen Überzeugungen in den Jahren, die ich in China verbrachte, immer wieder, und manchmal sehr heftig, mit den verstörenden kapitalistischen Realitäten des Bildungssystems im kommunistischen China in Konflikt gerieten.
Die Sorte geisteswissenschaftlicher Bildung, die ich erhalten habe und schätze, steht »zuhause« in den Vereinigten Staaten zunehmend unter Druck – Austeritätspolitik, Kulturkämpfe und zwei Jahre Covid haben ihre Spuren hinterlassen. In China sieht sich das Bildungssystem ebenso starkem Druck ausgesetzt; auch hier spielt der Kapitalismus dabei eine wichtige Rolle, jedoch in einer Variante, in der staatliches Management und die Ideologie eines freien Marktes eng verflochten sind. Während der moderne Kapitalismus immer schon mit der amerikanischen Gesellschaft und Kultur verbunden war, hat sich diese Verbindung in China längst als nicht weniger disruptiv und destruktiv erwiesen. Natürlich kennt jeder die ökonomische Erfolgsgeschichte Chinas in den vergangenen Jahrzehnten, aber ich hatte schlicht keine Vorstellung von den konkreten Folgen.
China gegen Amerika gegen Amerika
Nach Ansicht mancher gegenwärtiger chinesischer Eliten (und einiger amerikanischer Konservativer) ist die intellektuelle Neigung des Westens zur postmodernen Ungläubigkeit mindestens teilweise verantwortlich für die politischen Beben, die die gesellschaftlichen Grundlagen der USA weiter erschüttern. Während die Völker der Welt die amerikanischen Trump-Konvulsionen beobachteten, haben die gebildeten Chinesen sich an »Chinas Kissinger« erinnert, den führenden Theoretiker der Kommunistischen Partei Wang Huning, vor allem an sein Buch Amerika gegen Amerika von 1991, das sich nach dem Sturm der Trump-Unterstützer auf das Kapitol enorm gut verkaufte. Ursprünglich für eine politikorientierte Leserschaft nach den Protesten vom Tiananmen-Platz und Dengs Deregulierung des Markts verfasst, hatte Wang die These vertreten, dass Spannungen innerhalb des »amerikanischen Geistes« – zwischen demokratischer und oligarchischer Macht, Egalitarismus und Klassenprivilegien, Arm und Reich, Schwarz und Weiß, individuellen Rechten und geteilter Verantwortung – einen unaufhaltsamen »Unterstrom der Krise« produzierten. Das Ergebnis dieser Konflikte, die die Seele Amerikas plagen, sei die Dekonstruktion der nationalen Einheit und eines gemeinsamen Ziels.
Die Handvoll anderer mir bekannter Expats in China, die Auszüge aus einer inoffiziellen Übersetzung von Amerika gegen Amerika gelesen haben, nicken einigermaßen verzweifelt zu Wangs Thesen. Leider ist es auch für die Artikuliertesten von uns nicht leicht, seine schwerverdauliche Botschaft unseren Mitbürgern in den USA zu vermitteln. Wie Alexis de Tocqueville schon vor zweihundert Jahren festgestellt hat: »Es gibt gewisse Wahrheiten, die nur Ausländer zu Gehör bringen können.« Nach Trumps Wahl 2016 haben wir Auslandsamerikaner die von Wang identifizierten unaufgelösten Spannungen zwischen einem ideologischen Glauben an die Demokratie und den real existierenden demokratischen Praktiken geradezu körperlich zu spüren bekommen.
Wang war der Überzeugung, China könnte es gelingen, Amerikas Schicksal zu entgehen und die auflösenden Effekte des neoliberalen Kapitalismus, seines Konsumenten-Modells von Identität und die zersetzende Weltsicht des globalen Liberalismus zu vermeiden: indem das Land nämlich weiterhin auf den zentralisierten Ein-Parteien-Staat setze. Ein auf diese Weise robuster Staat könne, indem er die Konflikte aufhebe (im Hegelschen Sinn), den sozialen Zusammenhalt stärken und eine einheitliche und selbstbewusste nationale Identität konstruieren.
Als Anhänger des demokratischen Projekts lehne ich Wangs Vorschläge zum Umgang mit den Gefahren der flüchtigen Moderne ab. Ich kann aber nicht umhin, zu beobachten, wie in den Vereinigten Staaten seit Reagan beide politischen Seiten eine Politik unterstützen, die sich vom jahrzehntelang geltenden sozialen Wohlfahrtsstaats-Kompromiss mit dem Kapitalismus verabschiedet hat: indem sie öffentliche Güter wie das Bildungswesen attackiert und dadurch massiv zur Instabilität der Gesellschaft beiträgt. In dem Moment, in dem ich dies schreibe, verkündet der texanische Gouverneur Greg Abbott seine Absicht, eine Gerichtsentscheidung zu revidieren, die allen Kindern kostenlosen Unterricht garantiert. Einst bedurfte es der Gefahr, den Wettlauf ins All zu verlieren, um 1958 den National Defense Education Act und 1965, auf dem Höhepunkt des Parteien-Konsenses, den National Foundation on the Arts and the Humanities Act zu verabschieden. In seinem Bemühen, alles auf das Produkt von finanziellen Austauschprozessen zu...
Erscheint lt. Verlag | 24.11.2023 |
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Reihe/Serie | MERKUR | MERKUR |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Debatte • Essay • Geschichte • Gesellschaft • Kunst • Literatur • Philosophie • Politik |
ISBN-10 | 3-608-12179-X / 360812179X |
ISBN-13 | 978-3-608-12179-7 / 9783608121797 |
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Größe: 1,4 MB
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