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Heimatträume -  Literaturlabor Leverkusen,  Christian Linker,  Regina Schleheck

Heimatträume (eBook)

Neue Texte aus dem Literaturlabor Leverkusen
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
140 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-5691-9 (ISBN)
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9,99 inkl. MwSt
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Heimat ist ein Apfel und ein Wolkenspiel, ein Löwe, ein Treppenlift, das Bayer-Kreuz. Heimat ist nah oder fern, kann das Geschlecht wechseln, riecht nach Topfengolatschen. Heimat wird verkauft, verleugnet, neu entdeckt, Heimat tröstet dich, verfolgt dich, lässt dich nicht los. Heimat ist im Kopf, im Herzen, am Rhein, an der Abbruchkante. In Träumen und Erinnerungen, mit Laptops und Notizbüchern hat sich das Literaturlabor Leverkusen auf Heimatbesuch begeben, haben sich die Autorinnen und Autoren mit echten, fiktiven und autofiktionalen Heimaten auseinandergesetzt und die Ergebnisse zusammengetragen. 27 Geschichten voller Spannung oder Freude, Wehmut oder Glück, Verlust oder Humor - manchmal auch von allem zugleich.

Das Literaturlabor Leverkusen hat sich 2019 auf Initiative eines ortsansässigen Unternehmens gegründet, um Schreibtalente in der Farbenstadt am Rhein zu fördern. In wechselnder Zusammensetzung arbeiten rund zwanzig Autorinnen und Autoren im Alter zwischen 15 und 70 Jahren gemeinsam an Texten und entwickeln ihr Schreiben weiter. Mit "Traumfabrik" 2019 und "Traumbilder" 2020 haben bislang zwei Anthologien vorgelegt.

JACQUI FREVEL


DER TREPPENLIFT

Ja. Ich wollte es auch. Hatte mich einverstanden erklärt. Der Liebe wegen. Natürlich wollte ich endlich wieder ankommen, mein Herz öffnen, ein Zuhause für die Kinder, für mich und auch für dich finden.

Sollte ich es wirklich toll finden, künftig auch noch deinen behinderten Kumpel mitzuversorgen? Ich hatte ihn noch nicht einmal mit Beinen gekannt – also bevor er sich vor den Zug geschmissen hatte. Du erzähltest mir nun ständig, dass er vorher, mit Beinen, genauso groß gewesen wäre, wie du – als könnte mich dieses Argument irgendwie zum Umdenken bewegen.

Die Kinder waren sofort einverstanden, es gab sogar Streit. Darum, wer Michael zuerst in unsere Etage tragen dürfte, damit er unten nicht so alleine wäre.

Auch als ich ihnen erklärte, dass Michael kein Haustier sei, das man beliebig umhertragen könne, blieben sie fest in ihrer Absicht, einen Transportdienst einzurichten. Vielleicht fanden die Kids aber auch nur die Jugendstil-Villa so verlockend. Die würden wir nur beziehen können, wenn Michael mit uns einzöge.

Ja. Finanziell wäre diese Konstellation eine attraktive Lösung. Wir würden leben wie die Von-und-Zus dieser Welt – eine Vorstellung, die mich reizte, aber mir auch ein wenig Bauchschmerzen bereitete.

Die Villa erstreckte sich über drei großzügige Etagen. Wir würden uns somit gut aus dem Weg gehen können, jeder bekäme seinen Freiraum, und trotzdem könnten wir immer, wenn uns danach wäre, zusammen sein. Außerdem gefiel mir, dass die Villa mitten im Grünen stand, mit viel Platz und noch mehr frischer Luft. Und das war es dann wohl, was mich letztlich umgestimmt hatte: ich ließ mich also in eine andere Stadt verpflanzen und auf das Abenteuer ein.

Als wir endlich mit Sack und Pack eingezogen waren, hattest du den glorreichen Einfall, einen Treppenlift einbauen zu lassen. Ich fand das total unnötig. Es hätte meiner Meinung nach völlig ausgereicht, wenn du Michael hin und wieder im Erdgeschoss besucht hättest. Mit dem Treppenlift aber konnte er, wann immer er wollte, bei uns auf der Matte stehen oder, besser gesagt, sitzen. Kein schöner Gedanke.

Ich hatte nämlich bereits beobachtet, dass ihr beide euch ganz wunderbar in den kleinsten Details verlieren konntet. Ob es um Musik, Comics oder Fußball ging, war dabei völlig egal. Ihr verbrachtet Stunden damit, in alten Musikzeitschriften zu blättern und zu fachsimpeln. Ihr schautet Serien und Filme oder diskutiertet über Fußball. Nächtelang.

Wir beide hingegen lebten schon bald relativ antizyklisch und hatten immer weniger voneinander. Wenn die Kinder und ich aus dem Haus gingen, schliefst du noch. Wenn wir wieder nachhause kamen, arbeitetest du. Und die Abende verbrachten wir vor dem Fernseher.

Irgendwie hatte ich mir das neue Familienleben anders vorgestellt. Es glich jetzt eher einer Wohngemeinschaft. Und die Arbeitsaufteilung, die für unser Zusammenleben vorgesehen gewesen war, würde auf diese Weise nicht funktionieren. So konnte das nicht bleiben.

Ich sprach euch darauf an.

Michael wies schulterzuckend auf seine Beinstümpfe, worauf ich erwiderte, dass seine Hände ja wohl noch ganz gut funktionierten. Auch mit amputierten Beinen könne man abspülen. Du hingegen beteuertest, dich morgen, ganz sicher morgen, um alles zu kümmern. Jetzt aber würdest du unbedingt Zeit mit mir verbringen wollen …

War ich zu engstirnig? War es wirklich wichtig, zu staubsaugen? Musste der Müll täglich nach draußen gebracht werden? Mussten die Bäder wirklich alle paar Tage geputzt, der parkähnliche Garten gepflegt und Holz gehackt werden, damit der Kaminofen im Flur befeuert werden konnte? Nahm ich den Männern mit meiner Zwanghaftigkeit, die erst zur Ruhe kam, wenn alle Aufgaben abgearbeitet waren, ihren Freiraum? Möglicherweise. Der gallige Teil meines Ichs blieb dennoch beharrlich.

Michaels wissendes, hämisches Grinsen, wenn er dank Treppenlift in der oberen Etage ankam, brachte mein Blut zum Kochen. Er richtete es direkt an mich, ohne dass du etwas davon mitbekamst. Dieses elende Grinsen, das sagte: »Du nimmst mir meinen Kumpel nicht weg.«

Des lieben Haussegens wegen verhielt ich mich ruhig. Noch. Denn tief in mir tobte längst die Bestie. Eine, die Michael am liebsten in tausend Stücke gerissen oder, wahlweise, die Treppe hinuntergestoßen hätte. Als ich dich darauf ansprach, reagiertest du mit Unverständnis, warfst mir vor, völlig unbegründet eifersüchtig zu sein. Micha habe das auch schon bemerkt.

Micha! – Wenn ich diese Kurzform schon hörte. Überall hinterließ er Spuren der Unordnung und sah mich dabei mit zusammengekniffenen Augen an. Wenn er unten war, rief er etwa halbstündlich nach dir. Er tyrannisierte uns nach Strich und Faden. Du wolltest oder konntest dir das nicht eingestehen. Ich vermutete, dass du immer noch ein schlechtes Gewissen hattest wegen Michael. Denn bevor er vor den Zug gesprungen war, hatte er dich noch angerufen und angedeutet, dass etwas Schreckliches passieren würde.

Du hattest das damals nicht ernst genommen und Michael gesagt, er solle dir mit seiner Spinnerei nicht auf die Nerven gehen. Du hättest jetzt weit Wichtigeres zu tun. Genau genommen hattest du damals gerade »Zwölf Uhr mittags« in den DVD-Player eingelegt, wie du mir viel später einmal gestanden hast. Michael aber hattest du in dem Glauben gelassen, dass du arbeiten musstest.

Ich nahm mir fest vor, ruhig zu bleiben, beschloss aber, mir Michael allein vorzuknöpfen. Entweder wir würden die Sache von Angesicht zu Angesicht klären können, oder dieses Zusammenleben wäre von meiner Seite aus tatsächlich gescheitert. Es hing viel davon ab. Ein Versuch war es also wert.

Nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, mit Michael zu reden, fuhr ich früher als erwartet von der Arbeit nach Hause. Aus Michaels Zimmer drang laute Musik. Das war ungewöhnlich, und ich freute mich sogar, weil er normalerweise eher in einer düsteren Stimmung anzutreffen war. Ich vermutete allerdings, dass er auch vor seinem Suizidversuch eher kein »Sonnenschein« gewesen war, hatte aber bisher vergessen, dich dazu zu befragen.

Ich legte Mantel und Tasche ab, begab mich zu seinem Zimmer, klopfte und wartete auf Antwort. Nichts. Ich klopfte abermals. Wieder nichts. Jetzt wurde ich unruhig. War die Musik zu laut, als dass er mich hätte hören können? Oder hatte er etwa einen weiteren Versuch gestartet, seinem Dasein ein Ende zu setzen? Hoffentlich, so schoss es mir durch den Kopf, hatte er im Fall eines weiteren Suizids keine Sauerei veranstaltet! Eins stand fest: Dann würdest du dich höchstpersönlich darum kümmern müssen!

Ich klopfte ein weiteres Mal und beschloss, nachdem erneut keine Reaktion zu vernehmen war, einfach einzutreten. Vorsichtig öffnete ich die große Tür. Der Anblick, der sich mir bot, war mit »skurril« nur unzureichend beschrieben. Michael saß mit dem Rücken zu mir in seinem Rollstuhl. In der rechten Hand hielt er eine dicke Zigarre, und vor ihm tanzte lasziv eine etwa Mitte zwanzigjährige, überaus attraktive Brünette. Ihre straffen Brüstchen wippten im Takt der Musik, und Michaels linke Hand nestelte an dem Hauch von Nichts, das sie untenrum trug. Gerade versuchte er, einen 50-Euro-Schein hinter das Bündchen des Slips zu klemmen, was ihm aber nicht so recht gelingen wollte. Aber was mich wirklich irritierte: Warum, in Gottes Namen, trug er einen Cowboy-Hut und eine Fransenweste mit der Aufschrift Sheriff auf dem Rücken? Gerade als ich wortlos den Rückzug antreten wollte, bemerkte mich das Mädel und machte Michael auf mich aufmerksam. Er fuhr herum, lief puterrot an und stammelte: »Es ist nicht so, wie du denkst …«

Eigentlich fand ich das Szenario, das sich mir geboten hatte, witzig und durchaus nachvollziehbar. Sollte er ruhig auch etwas Freude im Leben haben.

Als ich allerdings später in die Küche kam und die Dose, die normalerweise unser gemeinsames Haushaltsgeld beherbergte, geleert vorfand, war es mit dem Spaß und dem Verständnis vorbei. Sofort entstand in meinem Kopf ein Plan. Fuchsteufelswild stampfte ich in den Keller, wo sich unser Werkzeug befand. Kramte einen Lötkolben, Lötzinn und diverse Schraubendreher hervor und begab mich damit wieder nach oben. Im Sicherungskasten legte ich die Hebel der für den Treppenlift zuständigen Sicherungen um.

Das Mädchen war mittlerweile verschwunden, ich hatte die Tür ins Schloss fallen hören. Von Michael vernahm ich keinen Laut. Das passte zu ihm. Aber warte, Bürschchen, dachte ich mir, dir werde ich es schon gehörig zeigen. Mit mir hättest du dich besser nicht angelegt!

Ich begab mich zum Steuerungskasten des Lifts. Vorsichtig schraubte ich die Metallblende ab, unter der sich die Platine des Lifts befand. Niemand außer mir würde sich darum kümmern, dass jemand käme und den Lift reparierte. Michael würde auf Wochen festsitzen.

Ich lötete ein bisschen hier und ein bisschen dort an der Platine herum. Befestigte anschließend die Blende wieder und...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7583-5691-1 / 3758356911
ISBN-13 978-3-7583-5691-9 / 9783758356919
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