Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Mary Wigman (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02050-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mary Wigman -  Gabriele Fritsch-Vivié
Systemvoraussetzungen
5,99 inkl. MwSt
(CHF 5,85)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Mary Wigman (1896-1973), die Tänzerin, die «den Expressionismus in Bewegung umgesetzt hat», wie Oskar Kokoschka schreibt, gehört zu den interessantesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Tanz ist eine vergängliche Kunst, das wusste sie nur zu gut: «Was ist mir Zukunft, was Vergangenheit, Gegenwart bin ich, mein Leben ist Tanz», das war ihr Bekenntnis und ihre Lebensweise zugleich. Sie hat alles für den Tanz getan, sie empfand ihn als Glück und Aufgabe. Sie nahm die Umbrüche ihrer Zeit auf und entwickelte sich in ihnen zur Künstlerin. Ihr Einfluss auf den modernen Tanz ist unbestritten und hält bis heute an.   Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Gabriele Fritsch-Vivié studierte Theaterwissenschaft, Musik, Philosophie und Psychologie und promovierte über Ödön von Horváth. Nach dem Studium lernte sie 1968 Nelly Sachs in Stockholm kennen. Praktische Theaterarbeit bei Oskar Werner, danach als Regieassistentin und Dramaturgin an verschiedenen Theatern. Schriftstellerische Tätigkeit, Essays, Libretti, Mitspieltheater, Kindertheaterstücke. Veröffentlichungen in Anthologien und freie Mitarbeit an Zeitungen als Rezensentin. Gabriele Fritsch-Vivié erhielt den Würzburger Literaturpreis.

Gabriele Fritsch-Vivié studierte Theaterwissenschaft, Musik, Philosophie und Psychologie und promovierte über Ödön von Horváth. Nach dem Studium lernte sie 1968 Nelly Sachs in Stockholm kennen. Praktische Theaterarbeit bei Oskar Werner, danach als Regieassistentin und Dramaturgin an verschiedenen Theatern. Schriftstellerische Tätigkeit, Essays, Libretti, Mitspieltheater, Kindertheaterstücke. Veröffentlichungen in Anthologien und freie Mitarbeit an Zeitungen als Rezensentin. Gabriele Fritsch-Vivié erhielt den Würzburger Literaturpreis.

«Schaffe du Mensch, daß deine Arbeit dich überlebe» (1886–1913)


Anklang: Rom 1912/13


Die Schaffenskraft, die unausweichliche innere Notwendigkeit, schöpferisch tätig zu sein, und die dazu erforderliche Energie, das ist es, was das Leben der Mary Wigman ausmacht. Das Wort, unter dem dieses Kapitel steht, stammt aus den ersten Seiten des Rom-Tagebuchs, das als die erste Aufzeichnung von Mary Wigman erhalten ist. Und an diesen ersten Eintragungen (zusammen mit dem zweiten Tagebuch, das die Romreise reflektiert) lassen sich bereits die Vitalität, das wache und aufnahmebereite Wesen und der elementare Schaffensdrang dieser Frau ablesen. Es ist erstaunlich, dass sich innerhalb jener stimulierenden Umgebung in Rom und innerhalb nur weniger Wochen das Sich-Öffnen eines jungen Menschen hin zu seiner konkreten Bestimmung so konzentriert vollzieht und sich gleichzeitig in der spontanen Niederschrift eines Tagebuchs dokumentiert.

Das Rom-Tagebuch, geführt von November 1912 bis April 1913, und das zweite Tagebuch vom Frühsommer 1913 spiegeln die Frau und Künstlerin Mary Wigman in fast vollkommener Weise, und dies nicht einmal nur in Ansätzen, sondern schon in vitaler Fülle und in einer bereits offenen Perspektive in die Zukunft. Hier beginnt Mary Wigman die Saiten am Instrument ihres Lebens zu spannen. Zwar lässt sich dies erst im Überblick über ihr gesamtes Leben so deutlich erkennen, aber auch in unvoreingenommener Lesart geben die ersten Tagebücher Zeugnis von der schöpferischen Potenz Mary Wigmans, mit der allein sie ihren alle Traditionen und Tabus durchbrechenden Weg als Tänzerin zu einer völlig neuen Ausdrucksform gehen konnte.

Nach Rom ist sie nicht allein gekommen, sie reist mit einem Maler, den sie als alten Mann (ihre Vater-Sehnsucht?) bezeichnet, doch mit einem jungen Herzen, der sie liebt und den sie auch liebt, der ihr Impulse gibt und sicherlich ihr überaus sinnliches Gespür für alles sie Umgebende und ihre wahrhaft opulente Wahrnehmung für den Raum, für Farben, Formen und Materialien verstärkt und mit dessen Augen sie zum erstenmal den Wunsch hat, zeichnen zu können.[2] (Später hat sie auf ihren Reisen immer gezeichnet.) Sie ist gerade 26 Jahre alt, hat noch nicht mehr an körperlich-rhythmisch-tänzerischer Ausbildung erfahren als die kurzen zwei Jahre in der «Bildungsanstalt für Rhythmische Gymnastik» des Émile Jaques-Dalcroze in Hellerau bei Dresden, die sie mit einem Diplom als «Rhythmiklehrerin» abgeschlossen hat. Als einzigen Anhaltspunkt für die nächsten Monate hat ihr Jaques-Dalcroze eine neue Aufgabe als Rhythmiklehrerin in Köln im Rahmen der Werkbund-Ausstellung zugesagt, die erhoffte Berufslaufbahn scheint möglich zu werden. Doch ist es das, was sie sucht? Sie ist sich dessen, was sie nun eigentlich will und auch kann, noch gar nicht bewusst.

Aber das Aufbruchsverlangen ist stark und drängend, sie gibt sich dem Erlebnis Rom ganz hin. O Rom, du wundervollstes, du größtes, wie schwer ist es, dich zu erleben. Ich bin der Schönheit nicht gewachsen, das ist es! Und hier ist alles schön, überall, immerzu! Jeden Tag neue Erlebnisse, neue Eindrücke. Kann man so viel Schönheit denn ertragen? Ist es nicht zuviel? Wohin mit all dem, was sich drinnen bei dir aufhäuft? Schaffen solltest du, aus dir heraus etwas Ganzes, Eigenes schaffen, das wäre Erlösung. Mir aber sind die Hände, die Gedanken, der ganze Körper wie gebunden. Gerade als ob eine Macht von irgendwo mich bannt und mich zwingt untätig zu verharren.[3]

Sie spürt die Fülle des Daseins und den unbändigen Drang, daran erleidend und gestaltend teilzuhaben, weiß aber für sich noch keinen Weg. Diese Hingabe und Erlebniskraft tragen viel von ihrer sie lebenslang begleitenden schöpferischen Vitalität in sich. In den Tagebüchern klingt schon an, was sie immer wieder von sich sagen wird, dass der Drang nach eigenständigem Schaffen und Gestalten übermächtig spürbar sei. Viel später wird sie in einem Lebensresümee bekennen: Was hat die Kraft gegeben zum Kämpfen, Durchhalten, Tragen der weitverzweigten Lebensaufgabe? Und was war das Schönste? Ich habe nur eine Antwort darauf: der schöpferische Prozess selber, das Erleben und Erschaffen, das Erfinden und Gestalten – jene kurzfristigen Stunden der Fülle, in denen man der Begnadung teilhaftig wird: der Begegnung und Vermählung des eigenen, ungeteilten Seinsgefühls mit der Ganzheit des lebendigen Lebens selbst.[4]

In allem, was sie in jenen frühen Tagebüchern schreibt, spürt man ihre Erlebnisfähigkeit, ihren Lebensgenuss und die Lebensbejahung, nicht in hybridem Anspruch, sondern als Antwort auf ein tiefes Angesprochensein. Bezeichnend ihre Beschreibungen der Werke des Michelangelo: Sie sieht die Skulptur des Moses und sieht die Macht, Kraft, Größe und Herrlichkeit, sie sieht die Kuppel des Petersdoms und empfindet Jubel und Staunen, sie sieht die Sixtinische Kapelle und ward ergriffen, sie sieht sein Bildnis und wird stille vor dem Leiden deines Angesichts, nun knie ich vor dir, Michelangelo.[5]

Diese vier Attribute, Kraft und Größe, Jubel und Staunen, Ergriffenheit und Stille vor Erhabenheit und Leid könnte man als Schlüsselbegriffe ihres Schaffens bezeichnen. Und wenn es auch gewagt erscheint, sie in die Nähe Michelangelos zu rücken, so sei doch darauf hingewiesen, dass später immer wieder die durchgeistigte Plastizität und Skulpturhaftigkeit ihrer Tanzgestaltungen genannt werden und dass in der Rezension eines ihrer Tanzabende von 1925, geschrieben von dem sensibel beobachtenden Kritiker Alfred Jürgens, sie als eine «fast michelangelesker Intuition nahe, schaffende Künstlerin» bezeichnet wird.

Ihre sinnliche Wahrnehmung ist stark und ausgeprägt, überall spürt sie Raum, Rhythmus, Bewegung und Ausdruck. Und dort, wo in den Museen die Statuen restauriert und von den Spuren der Zeit gereinigt sind, sieht sie sie durch Restaurieren und Ersetzen als verstümmelt an, weil sie ihrer Authentizität, ihrer Einmaligkeit und Jetzthaftigkeit und ihres ursprünglichen Rhythmus beraubt sind. Bereits in ihrer Wahrnehmung erweist sich Mary Wigman als schöpferisch und ganz und gar als ein Jetzt-Mensch, der das Hic et Nunc als Lebenskern erlebt, wie ja dann auch der Tanz nur im Jetzt existiert. Die absolute Gegenwärtigkeit des Mediums Körper hat sie in Rom im Eingehen auf die steingehauenen Götterbilder bereits angesprochen und es ein Leben lang so empfunden. Im Lebensresümee spricht sie es deutlich aus: Das Wissen um die Vergänglichkeit des tänzerischen Kunstwerkes hat mich nie mit Schmerz erfüllt. Es schien so selbstverständlich wie das Werden und Vergehen in der Natur.[6]

 

Besonders eindrucksvoll ist ihr intuitives Eingehen auf die griechischen Vasenbilder, die sie in den Museen des Vatikans lange betrachtet und die sie dann, nach Hellerau zurückgekehrt, zu beschreiben beginnt: O Eros, gewaltiger! aus diesem Empfinden stürzen sich die Amazonen in den Kampf, tanzt der Satyr, rasen die Mänaden – wir heute wissen nicht, was und wie sie tanzten, aber es gibt für uns ein nachträgliches innerliches Erleben, das uns von all den geschauten Gestalten her kommt. Ein Wissen gibt es nicht. Es tut auch nicht not, aber ein Verstehen, ein Begreifen ohne zu wissen, das gibt es für uns. Und zu diesem gelangen wir durch ein Erfassen des Lebens, des pulsierenden, warmen Blutes in all den Gestalten.[7]

In den Aufzeichnungen zu den Vasenbildern ist angesprochen, was im schöpferischen Arbeiten Mary Wigmans je eine Rolle spielen wird; und es ginge am Wesen jener Zeilen vorbei, wollte man sie als erste theoretische Niederschrift über Tanz ansehen, sind sie doch spontane Tagebuchaufzeichnungen, die ihre Empfindungen unmittelbar widerspiegeln. Es ist eine ganz persönliche und assoziative Antwort auf ein Sehen und Erkennen, es ist das Lesen einer Lebensschrift, die sie als die ihre zu begreifen beginnt.

Ob Amazonen, Mänaden oder Tänzerinnen und Tänzer: Eines verbindet dies alles und was auch uns es möglich macht, das bewegte Leben als Tanz zu empfinden: die Form! die künstlerische Form, der sich alles unterordnet und die wohl durchtränkt ist von warmem Leben, aber niemals von ihm zersprengt wird. Und so durchglüht von lebendigem Empfinden ist die reine Form, daß man sie nicht mehr als etwas Selbständiges herausfühlt, […] sondern Form und Leben als eine höhere Einheit empfindet. Über sie wird es später heißen: «Ihre Tänze sind das Leben selbst. In geklärter und geläuterter Form offenbaren sie uns unser eigenes Leben.»[8]

Und ein drittes tritt hinzu: das ist der Rhythmus! Wohl ist Rhythmus Leben, aber gebändigtes, beherrschtes Leben. Und all die rhythmisch bewegten Gestalten auf den Vasen und Reliefs zeigen uns klar und eindringlich, bis zu welch hohem Grade eine lebendige Körperbeherrschung möglich ist, wie sie entwickelt ist zu einer solchen Höhe, daß man auch sie nicht mehr als etwas Selbständiges empfindet, sondern sie einordnet in den Gesamtbegriff: Griechischer Tanz. Gesteigertes Lebensgefühl in künstlerische Form gebannt und beherrscht vom Rhythmus, das ist, was wir von griechischen Vasen verstehen lernen. Die Kritik wird schreiben: «Nur eine Tänzerin, bei der die meisterlichste Technik so völlig im...

Erscheint lt. Verlag 14.11.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Ausdruckstanz • Ballett • Choreographie • Dresden • Expressionismus • Freier Tanz • Gret Palucca • Hans Prinzhorn • Hellerau • Monografie • Nationalsozialismus • Olympiade 1936 • Pina Bausch • Rudolf von Laban • Tanz
ISBN-10 3-644-02050-7 / 3644020507
ISBN-13 978-3-644-02050-4 / 9783644020504
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
E-Book Endkundennutzungsbedinungen des Verlages

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Erinnerungen 1954 - 2021

von Angela Merkel; Beate Baumann

eBook Download (2024)
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
CHF 29,30
Mein Leben in der Politik

von Wolfgang Schäuble

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
CHF 29,30
Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten

von Florian Illies

eBook Download (2023)
S. Fischer Verlag GmbH
CHF 22,45