Unvollendete Zeiten (eBook)
446 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-02150-2 (ISBN)
OF
TÜRKEI
9. JULI 1929
Vom Westufer des Solaklı Flusses konnte Mahmut das komplette Flussdelta überblicken, das sich hier an der Mündung zum Schwarzen Meer über eine solch enorme Fläche ausbreitete, dass er beinahe glaubte, er befände sich an der Mündung eines gigantischen Stroms. Tatsächlich war der Solaklı aber alles andere als ein Strom, eher ein kleiner Fluss, dessen Größe je nach Jahreszeit und Regenfall variierte. Sein Blick verfolgte den Flusslauf in Richtung Süden. An den Gebirgshängen erkannte er vereinzelt die braunen Flächen der vom Regen abgetragenen Erde. Vor drei Tagen waren dort noch tiefgrüne Wälder gewesen, die voller Leben waren.
Wie viele Tiere wurden wohl aus dem Leben gerissen?, dachte Mahmut. Ein paar Vögel flogen scheinbar orientierungslos über ihm hin und her. Hatten auch sie ihr Zuhause verloren? Wussten auch sie nicht, wo sie jetzt leben sollen? Der Regen war allem gegenüber unerbittlich.
Die Sonne stand tief und schwebte wie ein gleißender Feuerball über dem Horizont des Schwarzen Meeres. Unter dem sich langsam aufklärenden Himmel herrschte eine schwüle, drückende Hitze, die sich wie ein feuchtes, heißes Handtuch um Mahmuts Nacken legte und von dort aus seinen ganzen Körper einnahm. Er trug an einem so heißen Tag wie heute mehr Kleidung als nötig. Seine noch immer durchnässten, halbhohen schwarzen Lederstiefel, an dessen linkem Paar sich schon die Sohle ein wenig löste, brannten wie Feuer auf den in feuchte Baumwollsocken gekleideten Füßen. Die schwarzgraue Tweedhose war zwar nur noch im Bereich des Saumes ein wenig feucht, sog aber gleichsam mit jedem Schritt, den er tat, das Wasser des Solaklı Flusses auf. Sein weißes Hemd klebte schweißnass an seinem Oberkörper und als er sich dafür entschied, den dicken, kakifarbenen Baumwollmantel auszuziehen, der ihn im Ersten Weltkrieg bei der Schlacht um Erzurum das Leben gerettet hatte, konnte der Schweiß unter seinen Achseln trocknen. Er sah an sich herunter. Das war alles, was er noch besaß. Er war sich des Fragens, wie es dazu kommen konnte, über geworden. Vor einer Woche hatte er noch Träume, Ziele, ein Leben gehabt. Doch nun war er auch des Lebens müde.
Mahmut legte den Mantel über seinen Arm und lehnte sich an den zerbrochenen Rest einer Hauswand, die noch vor ein paar Tagen zu einem Wohnhaus gehörte. Die Ruine erhob sich wie eine weitere, klaffende Wunde ins Stadtbild von Of. Eine Wunde, dachte Mahmut, sie wird wieder verheilen. Nicht so wie die, die ihm zugefügt wurde. Diese würde er für immer mit sich herumtragen müssen.
Was hätte ich denn anders machen können?, dachte er abwesend.
Er hatte seine schwangere Ehefrau Mevlüde, die mit schrecklichen Unterleibsschmerzen zu kämpfen hatte, zu einem Arzt bringen müssen.
Er musste seine sechsjährigen Zwillingstöchter Hülya und Fatma und seinen fünfjährigen Sohn Hüseyin zu den Nachbarn bringen, damit sie auf sie aufpassen.
Er musste Mevlüde auf der dreistündigen Fahrt nach Of im Ochsenkarren beruhigen.
Er musste den Arzt in Of bestechen, damit er seine Frau zuerst behandelte.
Er musste dennoch zwei Stunden das Wehgeschrei seiner Frau mit anhören, ohne ihr helfen zu können.
Er hatte Freude und Erleichterung verspürt, als er seinen neugeborenen Sohn in den Armen hielt. Doch er wusste damals noch nicht, dass er zum selben Zeitpunkt seine anderen Kinder verloren hatte.
Mit einem schwermütigen Gesichtsausdruck blickte Mahmut hinaus aufs Meer, während er langsam mit seinem Taschentuch den Schweiß von seinem Nacken wischte.
Auch wenn es im ostpontischen Gebirge sehr häufig regnete, konnte sich Mahmut nicht daran erinnern, dass der Solaklı jemals auf solch eine Breite angeschwollen war. Die Kraft, mit der die scheinbar unaufhörlich tosenden Wassermassen ihren Weg ins Schwarze Meer suchten, hatten ihn anfangs beeindruckt und gleichzeitig verängstigt. Auch die Fassungslosigkeit und Verzweiflung über das Leid, das diese Naturkatastrophe den Menschen zugefügt hatte, beschäftigte ihn. In diesem Moment aber waren all diese Gedanken und Gefühle verschwunden und von einer selbstmörderischen Apathie ersetzt.
Wären wir doch nur im Dorf geblieben, dachte er, während er mit tränenerfüllten Augen etwas in den rauschenden Wellen zu erkennen versuchte.
Am 6. Juli 1929 war die Region um der Stadt Of von heftigen, manche mögen sagen apokalyptischen Regenfällen heimgesucht worden. Ununterbrochen fiel der Regen vom Himmel herab und löste somit eine Naturkatastrophe aus, wie die Menschen aus der Region sie noch nicht erlebt hatten und in ihren mündlich weitergegebenen Geschichten so beschrieben:
Berggipfel, die seit Jahrtausenden die Landschaft prägten, zerbrachen an der Last ihres Schöpfers und vergossen brockenweise Tränen.
Die Wälder, Jahrhunderte lang der ihr nährenden Erde treu, ergaben sich schließlich ermattet den unausweichlichen Klagen und stürzten mit krachendem Geschrei in die Tiefe.
Die aufwendig gebauten Fachwerkhäuser, die sich vormals so voller Stolz und Ehrfurcht an den Berghängen aneinanderreihten, wurden wieder eins mit ihren Brüdern und Schwestern, von denen sie Jahrzehnte zuvor durch Menschenhand getrennt wurden.
Schließlich waren da noch die Menschen, die als schwächstes Glied in dieser leidvollen Kette von Katastrophen dazu verdammt waren, die Klagen der Natur aufzunehmen.
Hunderte von ihnen, niemand weiß es genau, taten dies.
Das letzte Glied der Kette und bei Weitem das stärkste war allerdings der Solaklı. Fortwährend und scheinbar unersättlich nahm er die mittlerweile verstummten Klagen der Hilflosen auf und wurde somit zu einer offenen Wunde, aus der das Leid und die Qualen mehrerer Generationen davon floss.
Die Zeit stand still und schien für viele auch keine Bedeutung mehr zu haben. Für die Menschen der Region war es ein so einschneidendes Ereignis, dass man sich noch Jahrzehnte später in Unterhaltungen an diese Katastrophe mit den Wörtern ›Selden önce1‹ und ›Selden sonra2‹ erinnerte.
Die Überlebenden, die es bis nach Of geschafft hatten, waren anfangs mit ihren Schmerzen allein. Außer den Erinnerungen an ihre Lieben hatten sie nichts Greifbares, anhand dessen sie trauern konnten. So floss auch ihre Trauer ungehindert flussabwärts. Als der Wasserstand des Solaklı etwas gesunken war, lag das ganze Ausmaß der Zerstörung buchstäblich vor ihren Füßen. Hier an der Mündung hatte der Fluss ein wenig an Kraft und Geschwindigkeit eingebüßt und gab somit nach und nach preis, was sich der Regen genommen hatte. Bis zu zwei Meter hoch türmten sich die zahllosen Schutthaufen, die sich dunkel und bedrohlich über die gesamte Mündung verteilten, zu Grabmälern auf. Trotz des Schreckens blieben die Menschen neugierig und fuhren mit kleinen Booten in Richtung der Schutthaufen, um in ihnen Überbleibsel ihres alten Lebens zu finden. Die Neugier, oder auch Sehnsucht nach Gewissheit verdrängte die Gefahr, in die sie sich begaben. Viele von ihnen erlitten dasselbe Schicksal wie die, nach denen sie suchten. Vielleicht würden sie einander in den Tiefen des Schwarzen Meeres wiederfinden.
Denen, die es bis zu den Trümmern und zurück geschafft hatten, bot sich ein entsetzliches Bild, über das sie berichteten. Zwischen den Resten vormaliger menschlicher Zivilisation fanden sich bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsene Leichen; einige nackt, andere bekleidet, abgetrennte Gliedmaßen, deren Fleisch teilweise vom Geröll abgeschabt worden war. Sie blickten in Gesichter, in denen der versteinerte Ausdruck des Todes zu sehen war. Dieser Anblick zermürbte einigen Betroffenen so sehr die Hoffnungen, dass sie noch an Ort und Stelle buchstäblich an ihrem Kummer starben.
Mahmut war einer von ihnen, ein Suchender, einer, der dem Grauen ins Gesicht blickte. Das Dorf Mavrotaş, in dem er mit seiner Familie gelebt hatte, lag wie die meisten anderen Dörfer in der Gegend an einem Berghang. Umgeben von einem dichten Buchenwald und im Schatten eines bedrohlich geneigten Felsgipfels, zählte es 67 Einwohner und war somit eines der größeren Dörfer in der Umgebung. Doch von all den Bewohnern hatte Mahmut hier in Of noch niemanden zu Gesicht bekommen. Sämtliche Wege, die ins Landesinnere und auf die Berge führten, waren vom Regen weggespült worden. Eine bedrückende Vorahnung trieb ihn um. Als dann am zweiten Tag der Katastrophe die Überlebenden des Nachbardorfes kamen, bestätigten sie ihm die grausige Gewissheit. Die Bewohner aus Mavrotaş hatten keine Chance auf eine Flucht gehabt. Schon am Abend des ersten Tages, sagten sie, hatte der Regen einen massiven Erdrutsch ausgelöst, der zuerst Teile des Felsgipfels und Sekunden später den gesamten Gipfel zum Einsturz gebracht hatte....
Erscheint lt. Verlag | 1.11.2023 |
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Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Deutschland • Geschichte • Migration • Sprache • Türkei |
ISBN-10 | 3-384-02150-9 / 3384021509 |
ISBN-13 | 978-3-384-02150-2 / 9783384021502 |
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