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Die Ballade des letzten Gastes (eBook)

Das neue Buch des Literaturnobelpreisträgers

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
185 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77758-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Ballade des letzten Gastes -  Peter Handke
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Von einem anderen Erdteil kehrt Gregor zurück in die Heimat. Das »vormalige Vieldörferland« ist eine städtische Agglomeration geworden, vertraut und zum Verirren fremd zugleich. Auch die Familie hat sich verändert: Zwar wartet der Vater wie früher mit den Spielkarten, doch hat die Schwester überraschend einen Säugling auf dem Arm. Er, der große, ältere Bruder, soll der Taufpate des Kindes werden. Vom jüngeren Bruder Hans bleiben derweil nur die Todesnachricht, vom älteren der Familie verschwiegen, und Erinnerungen, zum Beispiel an den Unfall in den Brennesseln. Selbst der Obstgarten ist ein anderer geworden, noch immer an Ort und Stelle, aber längst nicht mehr zu retten. Es zieht ihn also in die Straßen und Gassen, ins Kino, ins Fußballstadion, in den Wald, und er geht und geht immer weiter.
In Peter Handkes neuem Buch durchdringen sich Gegenwart und Vergangenheit, scheint das eine ins andere zu kippen, steht alles »auf Messers Schneide«. Auf seinem Weg zurück zur Familie, durch einstmals bekannte Landschaften hält der Erzähler immer wieder inne, Kindheitserlebnisse werden wachgerufen, innere Stimmen treten ins Zwiegespräch. Was einmal war, hat sich unwiderruflich verändert - und bleibt dennoch vertraut.

<p>Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (K&auml;rnten) geboren. Die Familie m&uuml;tterlicherseits geh&ouml;rt zur slowenischen Minderheit in &Ouml;sterreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach K&auml;rnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (K&auml;rnten) und das dazugeh&ouml;rige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im M&auml;rz 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschlie&szlig;enden Pr&uuml;fung abgebrochen, erscheint sein erster Roman <em>Die Hornissen</em>. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legend&auml;ren Theaterst&uuml;cks <em>Publikumsbeschimpfung </em>in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann.</p> <p>Seitdem hat er mehr als drei&szlig;ig Erz&auml;hlungen und Prosawerke verfasst, erinnert sei an: <em>Die Angst des Tormanns beim Elfmeter </em>(1970), <em>Wunschloses Ungl&uuml;ck</em> (1972), <em>Der kurze Brief zum langen Abschied </em>(1972), <em>Die linksh&auml;ndige Frau </em>(1976), <em>Das Gewicht der Welt</em> (1977), <em>Langsame Heimkehr </em>(1979), <em>Die Lehre der Sainte-Victoire </em>(1980), <em>Der Chinese des Schmerzes </em>(1983),<em> Die Wiederholung </em>(1986), <em>Versuch &uuml;ber die M&uuml;digkeit</em> (1989), <em>Versuch &uuml;ber die Jukebox</em> (1990), <em>Versuch &uuml;ber den gegl&uuml;ckten Tag</em> (1991), <em>Mein Jahr in der Niemandsbucht </em>(1994), <em>Der Bildverlust </em>(2002), <em>Die Morawische Nacht</em> (2008), <em>Der Gro&szlig;e Fall</em> (2011), <em>Versuch &uuml;ber den Stillen Ort</em> (2012), <em>Versuch &uuml;ber den Pilznarren</em> (2013). </p> <p>Auf die <em>Publikumsbeschimpfung </em>1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgef&uuml;hrt, <em>Kaspar. V</em>on hier spannt sich der Bogen weiter &uuml;ber <em>Der Ritt &uuml;ber den Bodensee </em>1971), <em>Die Unvern&uuml;nftigen sterben aus </em>(1974), <em>&Uuml;ber die D&ouml;rfer</em> (1981), <em>Das</em> <em>Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land </em>(1990), <em>Die Stunde da wir nichts voneinander wu&szlig;ten</em> (1992), &uuml;ber den <em>Untertagblues </em>(2004) und <em>Bis da&szlig; der Tag euch scheidet </em>(2009) &uuml;ber das dramatische Epos <em>Immer noch Sturm</em> (2011) bis zum Sommerdialog <em>Die sch&ouml;nen Tage von</em> <em>Aranjuez </em>(2012) zu <em>Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstra&szlig;e</em> (...

1

Über den Tod eines Fremden


Es muß ein stiller Nachsommer- oder Vorherbsttag gewesen sein. Der fragliche Mensch war auf dem Weg in seine Heimatgegend. Schon die paar Tage vorher war er dorthin unterwegs gewesen, zu Anfang seiner Heimreise mit dem Flugzeug, dann umgestiegen in ein zweites, zuletzt, zum Flug in sein Geburtsland, noch in ein drittes. Für die restliche Strecke jetzt fuhr der Mann, obwohl er mit der Eisenbahn weit früher hier in der großen Agglomeration angekommen wäre, wie einst in der Kindheit und Schulzeit mit dem Bus.

Er freute sich auf die bevorstehenden Tage – seine Urlaubswoche – mit seinen Eltern und seiner viel jüngeren Schwester, und wie!, und mehr noch, nein, anders, auf den Ort, die Örtlichkeit, das Dorf und den Wald, die Nachbardörfer und die Folge-Wälder, und wieder nein, vielmehr auf das, was von dem allen da und dort, in den Zentren wie an den Rändern, nach den Jahrzehnten, noch übriggeblieben war, bruchstückhaft, in der Form anderer »Findlinge«, auf den ersten Blick unsichtbar geworden, jedoch, dessen war er sich gewiß, vorhanden, um aufgespürt zu werden. – Nur: wozu? Kein wozu.

Von Zeit zu Zeit fuhr der Bus wie abseits jeder Zivilisation auf einer breiten und fast kurvenlosen Straße über ein wie freies Land. Bis zu sämtlichen Horizonten, einmal nah, einmal fern, eine menschenleere Natur; und er fand sich wieder in einem der alten Überlandbusse, als Markenzeichen auf die Flanken, statt des langgestreckt dahinfliegenden »Greyhound«, eine noch ganz anders durch die Lüfte schnellende Antilope gemalt, wenn nicht gar ein Delphin.

Also wieder das abendliche Kartenspielen mit dem Vater, welches, bis auf die Ansagen, meist unter Schweigen stattfände? Recht so. Und wieder das Befragtwerden von der Mutter, das stumme, allein mit den Augen, wie es dann regelmäßig überginge ins stimmhafte Erzählen, in der Küche oder auf der Hofbank, trotz der, denk doch an alle die Neubauten, Parzelle um Parzelle, verdrängten und schlußendlich aus der Welt geschafften »Hofstatt« – eine Armlänge weg von der Bank eine Trennmauer mit den unbekannten, einzig an ihren Stimmen zu vernehmenden Nachbarn? Wieder all die Muttergeschichten? Schön und gut, gut und schön. Und wieder die Männergeschichten der Schwester, welche sie, samt Liebeskummer, dem älteren Bruder, seit jeher ihr Vertrauter, auftischen würde nebenan in dem zu einer Einzimmerwohnung umgestalteten Werkzeugschuppen, all die schwesterlichen Liebeskummerlieder, diesmal womöglich noch akzentuiert vom Dazwischen- und Dreinschallen eines, so die Nachricht, gerade erst wackelig auf seinen zwei Kinderbeinen stehenden Kleinkinds (ah, Scheu, von Anbeginn, oft nah an etwas wie Schuldbewußtsein, angesichts sämtlicher, noch ohne eine übliche Sprache durch die Straßen und über die Plätze transportierten und kutschierten Frischlinge, insbesondere angesichts der, wieder sämtlich, so übergroßen Augen)? Warum nicht? Warum nicht sich dem aussetzen, sich gar, wie gesagt, darauf freuen, wenigstens jetzt, noch allein, hier in dem Überlandbus, dem beileibe nicht alten, dem, ja doch, wie fabrikneuen, bestärkt von dem sonoren, zugleich wie aus einer Ferne, einer unbestimmten, kommenden Motorröhren, fernes Röhren, für Momente auch ein Klang, aus der Tiefe, dem tiefen Untergrund, und dazu er der einzige der Passagiere auf der letzten der Sitzreihen, die anderen, spärlich, im Abstand, da und dort ein Hinterkopf? »Ja, warum nicht? Wir werden sehen« – »›Wir‹?« – »Ja, wir.«

Er war, seit langem, ohne Frau, hatte auch keine Kinder, lebte und betätigte sich seit Menschengedenken – dem eigenen – auf einem anderen Kontinent, sprich »Erdteil«, oder, nach seinem eigenen Sprachgebrauch, »Teil der Erde«. (Auf oder in welchem, möge ein jeder sich selber vorstellen.) Und er hatte dort auf dem anderen Kontinent, für die Woche in der Heimat, und zwar von heute auf morgen, gerade das unterbrochen, wofür – und im übrigen wovon – er, wieder seit seinem Menschengedenken, lebte, und was er bei sich »meine Ein-Mann-Expeditionen« nannte. Und unterbrochen worden war diese eine Expedition nach Erreichen der vorletzten Station, mitten in den Vorbereitungen hin zur Endstation. »Vorbereitungen«? »Zurüstungen«.

Es hatte ihm dort nämlich jenseits der Meere, wer weiß warum, geschienen, es gehöre zu solchen Zurüstungen, eine Zwischenetappe in seiner vormaligen Stammgegend zurückzulegen. Dabei hatte er von dem Was und Wie dieser Etappe keinerlei Vorstellung gehabt, höchstens momentweise eine Ahnung, ohne ein einziges, und noch so flüchtiges Bild. Er wollte dergleichen auch gar nicht. Nur keine Bilder, und vor allem keine festumrissenen! Und wenn er doch dann und wann etwas »Bildartiges« witterte, das ihn gleichsam hinterrücks anzufliegen drohte, tat er, in seinem Innern jedenfalls, einen Seiten-und-Ausweichschritt wie auf einer Tanzfläche oder in einer Arena, und vorbei schoß der Bildpfeil. Und jetzt hinten im Überlandbus: nicht einmal mehr eine Ahnung von dem, was ihm im sogenannten Heimatkreis bevorstehen könnte, geschweige denn, was er dort für den Abschluß seiner Expedition etwa aufspüren oder suchen hatte wollen. »Ich habe nichts mehr zu suchen daheim, rein gar nichts!« sprach er im stillen zu sich selber. – »Und gerade das macht dich heiß.« – »Ja, seltsam.« – »Oder auch nicht.« – »So oder so: Freude.« – »Verdirb sie dir nicht, als dein eigener Freudeverderber, wie nicht so ganz selten. Komm mir nicht aus dem Tritt, Freund: Schritt für Schritt!« – »Als Fahrgast, still sitzend?« – »Ja, zugleich im Stillsitzen, ein Fahrgast.«

Längst war der Überlandbus abgebogen in die Agglomeration. Ohne Übergang kurvte er da, und kurvte, und kurvte. Dabei war es, als würde, sagen wir, nach jeder dritten Kurve, die Straße entweder wieder ins Freie führen, auf die weiten Horizonte zu, oder, im Gegenteil, etwas wie das Zentrum, oder zumindest eins der Zentren, sich bemerkbar machen. Nichts da: statt dessen jedesmal wieder die Peripherie, wenn auch ein jedes Mal eine andere; und aber kaum je eine befremdende oder vielleicht gar feindselige, vielmehr, wohl auch dank der jeweils eher sanften Kurven, eine (fast) freundschaftliche, dem ersten Anschein nach jedenfalls (fast) willkommen heißende. Auffallend dazu, daß von den vielen, doch auch nicht wenigen, Hochhäusern ein jedes für sich allein stand, und das folgende ebenso, eine Lanzenwurfweite weg, »im Mittelgrund« verglichen mit dem im Vordergrund – und dergestalt (fast) die Rhythmik aller der Hochhausbauten der großen Agglomeration – Hochhäuser, die, auf den ersten Blick jedenfalls wiederum, abgewandelt das Wort des Poeten zu einem der noch lange nicht so hohen Häuser aus einem vergangenen Jahrhundert, »im Freien« standen. Dazu paßte, daß in dieser die Landschaft weniger füllenden als sprenkelnden Neustadt auch die sich kreuzenden und voneinander entfernenden Waagrechten, die im Hintergrund jedenfalls, ihn, den Fremden, oder hier jetzt Fremdgewordenen, zu bewillkommnen schienen, in Gestalt der unhörbar und dabei pausenlos als bewegliche Tangenten auch noch die fernsten Siedlungskreise in die Zivilisation eingemeindenden Lokalzüge, Straßenbahnen wie auch die streckenweise auf hohen Pfeilern verkehrenden oberirdischen Metros. Auf den zweiten oder dritten Blick erkannte er dann da und dort sogar den Turm einer der »nicht vielen, aber auch nicht wenigen« Dorfkirchen, Türme zu Füßen der Hochhäuser, so klein geworden in der Erinnerung an die Vorzeit, wie geschrumpft. Und wiederum recht so, daß diese Kirchtürme jetzt nicht mehr kreuz und quer durch das Land, so auffällig und alleinherrscherlich, Fingerzeige himmelwärts waren, wenn sie nicht gar mit dem Himmel drohten. »So wie sie heute jetzt dastehen, unauffällig geworden, geradezu spielzeughaft, scheinen sie mehr und besser am Platz.« – »Spielzeuge?« – »Ja, für ein ernstes Spiel.« – »Gute Neue Stadt: dein Ernst?« – »Fast.«

Auch der Busbahnhof, obwohl der Länge und Breite nach die ganze Straße einnehmend, gab keinen Eindruck von einem Zentrum, sondern bildete in der Aufeinanderfolge all der Peripherien eine zusätzliche. Auf das Aussteigen im Mittelgang wartend, er unter den Passagieren als der hinterletzte, fiel ihm auf, daß an einem der Stiefel der Frau vor ihm sich die sehr langen Schnürbänder gelöst hatten. Die Frau schien in Eile, als würde sie jetzt und jetzt, beim Öffnen der Bustür, gleich losrennen. In der Vorstellung ...

Erscheint lt. Verlag 29.10.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Bruderstreit • Bruderzwist • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Erinnerung • Expedition • Familie • Fremde • Generation • Gregor Keuschnig • Heimat • Heimkehr • Kärntner Landesorden in Gold 2018 • Kindheit • Kindheitserlebnisse • Landschaft • Literaturnobelpreis • Nestroy-Preis 2018 • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Nobelpreis für Literatur 2019 • Nobelpreisträger • Österreich • Streit • Über die Dörfer • Vergangenheit • Versöhnung • Zwiegespräch
ISBN-10 3-518-77758-0 / 3518777580
ISBN-13 978-3-518-77758-9 / 9783518777589
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