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Das ferne Dorf meiner Kindheit (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
325 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-573-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das ferne Dorf meiner Kindheit -  Yavuz Ekinci
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Ein großer Familienroman, der fast ein Jahrhundert umspannt, die gewaltvolle Geschichte eines zerrissenen Landes widerspiegelt und von zwei Völkern erzählt, die ihrer Herkunft, ihrer Sprache und all dessen beraubt werden, was einen Menschen ausmacht. Rüstem wächst in einem kleinen Dorf in den Bergen auf. Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, er lebt mit seinem Vater und den älteren Geschwistern im Haus seiner Großeltern. Zwischen dem Vater und dem Großvater herrscht ständiger Streit, auch das Verhältnis zwischen den Großeltern ist angespannt. Doch sind sie Rüstems wichtigste Bezugspersonen in einer archaischen Welt, die geprägt ist von patriarchalischen Strukturen, religiösen Riten, Aberglaube, Gewalt und einem politischen Konflikt, der sich dem Jungen nur nach und nach erschließt: Sein ältester Bruder ist in die Berge gegangen, immer wieder durchsuchen Soldaten das Haus der Familie und in der Schule wird ihm verboten, seine Muttersprache Kurdisch zu sprechen. Als seine Großmutter im Sterben liegt, entdeckt Rüstem ein Familiengeheimnis, das viele Jahrzehnte zurückführt in eine Zeit, als in dem längst verfallenen Nachbardorf noch armenische Familien lebten. Zusammen mit seinem Vater macht Rüstem sich auf den Weg dorthin, um der Großmutter ihren letzten Wunsch zu erfüllen.

Yavuz Ekinci, 1979 in Batman geboren, arbeitet als Lehrer und ist Herausgeber einer Reihe zur kurdischen Exilliteratur. Für sein Prosawerk erhielt Ekinci zahlreiche Preise, darunter den Human Rights Association Story Award. Zuletzt erschienen die Romane »Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam« (2017) und »Die Tränen des Propheten« (2019). Ekinci lebt in Istanbul.

Yavuz Ekinci, 1979 in Batman geboren, arbeitet als Lehrer und ist Herausgeber einer Reihe zur kurdischen Exilliteratur. Für sein Prosawerk erhielt Ekinci zahlreiche Preise, darunter den Human Rights Association Story Award. Zuletzt erschienen die Romane »Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam« (2017) und »Die Tränen des Propheten« (2019). Ekinci lebt in Istanbul.

ZWEI


MIŞRÎTA WAR EIN ZWISCHEN STEILE BERGE eingezwängtes größeres Dorf mit an die hundert Häusern. Es erinnerte an eine weit verstreute Schafherde und bestand aus Grüppchen von vier, fünf aneinandergebauten Häusern, die jeweils um einen Brunnen herum angeordnet waren. Form und Bauart dieser Häuser hatten die Menschen geprägt, die hier als Erste sesshaft geworden waren und den Gedanken an feste Behausungen überhaupt erst aufgebracht hatten. Vereinzelt gab es im Dorf aus Ziegeln oder Zement gefertigte Häuser, die allermeisten aber bestanden aus Stein und Lehm.

Ein Haus mit irdenem Dach und steinernen Mauern zu errichten, dauerte Tage, Monate, Jahre. Aus riesigen Felsen mussten mit Vorschlaghämmern Steinblöcke herausgeschlagen werden, die man mit kleinen Hämmern in die gewünschte Größe und Form brachte. Das war nicht nur äußerst mühsam, sondern erforderte auch viel Geduld. Mit dem Senkblei in ihren verschwitzten, schwieligen Händen stellten die Maurer zwar genaue Berechnungen an, doch wurden die Mauern irgendwie nie so richtig gerade. Die einen waren bauchig, die anderen nach innen gewölbt. Anstrengend war auch, die Mauern mit Lehm zu verputzen und mit farbiger Erde zu tünchen. Die Wände wurden erst weiß gestrichen, dann färbte man sie vom Boden bis auf halbe Höhe mit violetter Erde. Weil das Steineklopfen, das Verputzen und Tünchen so eine Plackerei war, bauten die Leute die Häuser aneinander und sparten sich so ein paar Mauern. Was dadurch entstand, glich in der Regel einem unförmigen Eisenbahnwagon. Ziegel- oder Betonhäuser ließen sich innerhalb weniger Tage errichten. Dann noch ein wenig verputzen und tünchen, und schon konnte man einziehen. Doch bestand zwischen den beiden Bauarten noch ein weiterer beträchtlicher Unterschied. Häuser aus Stein und Lehm waren nämlich im Winter schön warm und im Sommer kühl, die aus Beton oder Ziegeln hingegen im Winter kalt und im Sommer heiß. Außerdem hielten Steinhäuser eine Ewigkeit.

Auch unser Haus in Mişrîta war aus Stein und Lehm gebaut. Wenn es auch hieß, den Grundstein dazu habe mein Ururgroßvater Vezir gelegt, so blieb doch ein Rätsel, ob es wirklich so gewesen war. Als Erstes sei der Stall angelegt worden, dessen Außentür aus einem einzigen Stück Holz bestand, angeblich vom Stamm eines Weißdornbaums. Die Nachkommen meines Ururgroßvaters bauten bei Familienzuwachs an die vorhandenen Mauern jeweils ein weiteres Haus oder Zimmer an und verputzten das Ganze erneut. Da die Anbauten aus unterschiedlichen Zeiten stammten und von verschiedenen Maurern durchgeführt worden waren, ergaben sie ein sehr unförmiges Bild.

An Regentagen tropfte es durch die Zimmerdecken, besonders schlimm im Frühling und im Herbst. Mein Vater zog dann stundenlang die Steinwalze übers Dach, um den aufquellenden Lehm zu glätten, doch er war bereits so aufgeweicht, dass das Wasser problemlos seinen Weg fand. Und wenn ich zu meinem Vater hinaufkletterte, um das Unkraut auszurupfen, das dort im Frühjahr wucherte und die im Vorjahr an den Zimmerdecken befestigten Plastikfolien durchbohrte, begann es nur noch mehr hereinzutropfen. Meine Großmutter und meine Schwestern mussten dann so viele Teller, Eimer, Töpfe, Pfannen und alte Teekessel aufstellen, dass unser Haus im Frühjahr und im Herbst einem Feld aus Behältnissen glich.

Die Decke unseres Wohnzimmers hatte mein Großvater mit bunten, blumengemusterten Folien ausgelegt. Anstatt mir die Feldblumen draußen in der Natur anzusehen, konnte ich nun stundenlang drinnen auf dem Rücken liegen und unsere Decke anstarren. Manchmal huschten Ratten übers Dach, und wo der Lehm weggespült war, trappelten sie über die Folien, was uns gehörig auf die Nerven ging. Mein Großvater überlegte, wie dem beizukommen sei, und hatte schließlich die Idee mit der Stechahle, die er von da an immer in der Tasche trug. Sobald er wieder hörte, wie eine Ratte über uns hinwegtrappelte, fasste er sich in die Tasche und befühlte das kühle Metall der Stechahle, so, wie ein Räuber sich mit einem lautlosen Griff an die Pistole oder den umgeschnallten Patronengurt seiner Waffen vergewissert. Die Ratte war sich nicht bewusst, dass sie ein Geräusch verursachte, und hielt sich daher für unsichtbar. Erst hastete sie über die Folie, dann hielt sie schnuppernd inne. Mein auf der Lauer liegender Großvater war aufgeregt wie ein Jäger, der endlich das Wild vor dem Lauf hat, und sobald er die Position der Ratte ausgemacht hatte, stieß er zu und rammte der Ratte das kalte Metall in den Unterleib. So, wie ein geköpftes Huhn eine Zeit lang weiterflattert, wand sich die Ratte noch eine Weile, und meinem Großvater war anzusehen, wie sehr er es genossen hatte, sie zu töten. Stolz auf seine Methode, holte er ein Taschentuch heraus, wischte das Blut von der Stechahle und steckte sie wieder ein, griffbereit für die nächste Jagd.

Das im Frühjahr und im Herbst durchs Dach sickernde Regenwasser sammelte sich erst auf den Folien und lief schließlich durch die Löcher, die mein Großvater auf der Rattenjagd hineingestochen hatte. So tropfte es auf unsere Teppiche und Kissen herab, bis sie klatschnass waren. Wenn dies geschah, hatte meine Großmutter für die Ratten, die Folien, die Stechahle und meinen Großvater nichts als Flüche übrig.

Wenn das Wasser in die Gefäße prasselte, klang es in der Nachtstille wie ein gewaltiges Rumpeln. In meinem Bett zählte ich die Tropfen, was mich entweder einschläferte oder ewig wach hielt. Wer nachts auf die Toilette musste oder zum Morgengebet aufstand, stieß manchmal gegen ein Gefäß und verschüttete das Wasser. Am häufigsten passierte das meinem Vater, während mein Großvater, obwohl er nicht besonders gut sah und meist mit einem Stock ging, kaum je etwas verschüttete. Wenn mein Vater wieder etwas umstieß, schimpfte mein Großvater ihn aus wie ein kleines Kind und seufzte: »Nach wem ist dieser blinde Tollpatsch nur geraten? Höchstens nach einem seiner Onkel.«

Meine Großmutter legte sich nach dem Morgengebet nicht wieder ins Bett, sondern leerte die Gefäße aus, bevor wieder jemand dagegenstoßen konnte. Manchmal, wenn ich selbst nicht mehr schlafen konnte, half ich ihr dabei.

Wir hatten einen weißen Teekessel mit rotem Tulpenmuster, von dem die Farbe stellenweise abgeblättert war wie Schuppen von einer Haut. Der Henkel war schon seit jeher kaputt, und ich wollte wissen, wie das passiert war, doch jedes Mal, wenn ich danach fragte, hieß es bloß, der Kessel sei eben auf den Boden gefallen. Ich hatte aber das Gefühl, dass man mir etwas verheimlichte, denn die Erwachsenen schluckten, wenn ich danach fragte, hatten plötzlich Schweißperlen auf der Stirn, und in ihren Augen lag ein seltsames Schweigen, sodass ich immer wieder nachbohren musste. Was von der weißen Farbe noch übrig war, wirkte verschossen, wohingegen das Rot der Tulpen glänzte wie neu, und gerade deshalb mochte ich den Teekessel so gern.

Als ich noch klein war, kochte meine Großmutter mir in dem Teekessel jeden Tag ein oder zwei Eier. Wegen des kaputten Griffs war es schwierig, den Kessel vom Feuer zu nehmen, und meist verbrannte sie sich dabei die Fingerspitzen. Irgendwann musste sie das leid gewesen sein, denn sie hörte auf, den Kessel zu benutzen. Wie jeder Gegenstand, der seine Funktion eingebüßt und somit ausgedient hatte, wurde der Teekessel mit dem Tulpenmuster und dem kaputten Griff irgendwohin verräumt. Nicht aber weggeworfen, denn meine Großmutter hatte große Not erlebt und konnte sich deshalb von aussortierten Dingen nur schwer trennen. Entweder weil sie noch daran hing oder weil sie dachte, irgendwann würden sie vielleicht doch noch zu etwas nütze sein. Als uns schließlich die Gefäße zum Tropfenauffangen ausgingen, holten wir den Kessel wieder hervor, und meiner Großmutter war ihre Genugtuung anzusehen.

Wenn er voll war, leerte den Teekessel immer ich aus. Meine Großmutter sagte, er habe zur Aussteuer meiner Mutter gehört und sei einmal ziemlich teuer gewesen. Heute kriegte man für den Preis gerade noch zwei Säcke Mehl oder einen Sack Zucker. Weil meiner Mutter der Kessel sehr lieb gewesen sei, habe sie ihn fast nie benutzt und ihn nur aus seinem Karton geholt, wenn von auswärts Gäste ins Dorf oder zu uns nach Hause gekommen seien. Deswegen erinnerte mich der Kessel immer an meine Mutter, die ich nie kennengelernt hatte, an ihr blasses Gesicht auf den paar Schwarz-Weiß-Fotos, die wir von ihr hatten. Und ich wurde ganz still und grübelte, warum sie mich verlassen hatte.

Das trübe Regenwasser aus dem Kessel schüttete ich vom Balkon auf die unten scharrenden Hühner und lachte lauthals, wenn sie vor Schreck auseinanderstoben. Meine Großmutter schimpfte, weil ich die Hühner so quälte, doch ich machte ungerührt weiter. Eines Tages, als ich vor dem Haus mit...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2023
Übersetzer Gerhard Meier
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Armenier • Autonomie • Befreiungskampf • Familienroman • Generationenroman • Herkunft • Identität • Kurden • Selbstbestimmung • Transgenerationales Trauma • Türkei • Völkermord
ISBN-10 3-95614-573-9 / 3956145739
ISBN-13 978-3-95614-573-5 / 9783956145735
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