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Das Haus und das Lamm (eBook)

Fliegende Blätter zur Apokalypse des Johannes
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
267 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77752-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Haus und das Lamm -  Christian Lehnert
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In einer Lebenskrise zieht sich der Erzähler in ein altes, halbzerfallenes Gehöft im Osterzgebirge zurück. Es wird ihm zum Ausgangspunkt für Gänge in eine Natur, die ebenso menschengemacht wie versehrt ist und ihm doch in kleinen Details wie eine Wildnis gegenübertritt. In der spirituellen Bewegung dieses Rückzugs sucht der Erzähler Orte radikaler Fremde auf. Er vermutet sie in einer religiösen Erfahrung, die alle Ordnungen und ideologische Sicherheiten durchschlägt; er fastet, er meditiert. Zur begleitenden Lektüre wird ihm die 'Apokalypse des Johannes', ein Grundtext der europäischen Kultur, der alle Beheimatung in der Welt ausschließt und religiöse Endzeiterwartungen genauso prägte wie die geschichtsphilosophischen Utopien der vergangenen Jahrhunderte mit ihren gefährlichen Denkfiguren der Zerstörung des Alten zugunsten des Neuen.
Das Haus und das Lamm ist erkundende, fragende Prosa im Grenzgebiet zwischen Erzählung, Essay und poetischer Bildlichkeit. In Narration und Reflexion, Realität und Imagination ringt sie um ein Verständnis des Bösen und des Leids und konfrontiert uns mit den oftmals beklemmenden Erscheinungen eschatologischen Denkens. Es zeigt sich: Diese sind bis heute wirksam - in den realen wie forcierten Weltuntergangsängsten unserer postreligiösen Gegenwart.

<p>Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, ist Dichter und Theologe. Er leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut an der Universit&auml;t Leipzig. Seit mehr als 25 Jahren erscheinen im Suhrkamp Verlag Gedichtb&uuml;cher und Prosab&auml;nde, f&uuml;r die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Deutschen Preis f&uuml;r Nature Writing (2018).</p>

DAS HAUS I


Am zwanzigsten Mai des zweiten Jahres, das ich hier oben im Gebirge verbrachte, früh bei Sonnenaufgang, als ich um den Hügel ging, sah ich am Bachufer an einer der Salweiden ein Blatt, das sich schnell hin und her drehte. Es hing an einem ungewöhnlich langen Stiel und flimmerte weiß und graugrün. Wechselnd wurden seine Ober- und die pelzige Unterseite sichtbar. Ich sah Helle und Verdunklung, sah die grüne Offenheit des Blattes für das Licht und seine Blässe im Schatten, erkannte das Ein- und Ausatmen des Baums darin wieder, sah das Blatt als Gestalt und als ein Verströmen. Ich spürte, wie wohl alles in einer doppelten Bewegung stand: Aufgestört und ruhend, in sich werdend und ins Andere getaucht, sich behauptend und sich fremd. Ich betrachtete die wächserne Haut des Blatts, seine dichte Behaarung, und ich sah darin eine Verwandlung – des Sonnenlichts und Taus und der Atmosphäre in einen lebendigen Leib. Ein Ganzes war die Welt in dem Blatt, nicht als Zustand, aber als ein Näherkommen. Da entdeckte ich auch Adern und die kleinen Punkte der Spaltöffnungen. Ich war gerettet für einen Tag.

Anfang Juni begann ich am Dach zu arbeiten. Die alten Balken mussten auf ihre Haltbarkeit überprüft werden. Sie waren mehr als zweihundert Jahre alt. Man hatte die schweren Fichtenstämme einst frisch verarbeitet, weil sie im Saft weicher und leichter zu schneiden waren, und Schädlinge müssen eingedrungen sein, welche die feuchten Rindenreste und die oberen Holzschichten zerfressen hatten. Andere Insekten waren ihnen gefolgt. Nun galt es zu schauen, ob die tragenden Kerne stark genug waren für das Dachgebälk, auch wenn heftigere Stürme kämen.

Unter dem Schlag der Axt rieselte aus den Sparren und Balken braunes Mehl. Ich beilte morsche Schuppen ab, bis im Inneren festes Holz stehen blieb, Skelettteile im Mürben, mal dicker, mal dünner. In manchen Winkeln des Dachstuhls krümmten sich am Ende unter den Latten nur einzelne Rippen wie schwebende Gewölbeelemente, gotische Muster im Zerfall. Die längst verlassenen Fraßgänge der Käferlarven durchzogen oftmals auch die noch beständig erscheinenden Teile. Selbst tiefer in den Stämmen befand sich dann nur noch weicher Mulm. Unter der Oberfläche fest erscheinender Hölzer wirkten unaufhörlich Kräfte der Auflösung, ein nagendes Nein in den Konstruktionen, das sich lautlos fortsprach, und es war mir, als würde das ganze bergende Haus als ein Staubwirbel davonwehen.

Wenn der Holzstaub in der Luft zu dicht wurde und im Hals brannte, öffnete ich die Dachluke, kletterte hinaus und blickte über die Gegend – über den Hügel nach Osten hin, der einen Tümpel und den Fahrweg verdeckte, über den kleinen eingefassten Teich im Westen und die Wiesen nach allen Seiten, wie ausgebreitete Schwingen, den Bachlauf dazwischen, wo die Weiden standen mit ihren krausen, zersägten Köpfen. Ich stieg höher auf die Trittbretter unter dem First, die für die Schornsteinfeger eingehängt waren. Der Stand in luftiger Höhe veränderte schlagartig die Wahrnehmung: Unter mir stand das Haus, fest und schwer wie ein künstlicher Berg aus Felsgestein und Stämmen, und ich spürte seine Beständigkeit trotz des Zerrinnens. Der alte Bau mit seinen kühlen Kellern über der Gründung, mit seinen Treppen und kleinen Fenstern, mit seinen Bruchsteinmauern und breiten Dielen erschien nun wie ein Bollwerk, ein mitfühlendes, seelenstarkes Gehäuse. Ich aber als sein Bewohner hatte mich tätig gegen den materiellen Verfall zu stemmen, hatte zu arbeiten bis zur Erschöpfung, war gerufen, dem hohlen Holz- und Steinleib zu dienen, und ich fragte mich am Abend über den Büchern: Warum werden auch Gedanken alt und Haltungen porös? Warum siedeln sich auch in geistigen Gestalten, in Weltbildern und Göttern und grundlegenden Überzeugungen, Zweifel und Unglaubwürdigkeit ein wie schmarotzende Pilze und Insekten in altem Gebälk? War nichts beständig außer der Notwendigkeit für Menschen, irgendwo zu wohnen?

Wenn ich mehrere Stunden mit dem Gebälk beschäftigt war, verschob sich etwas in mir. Das Beilen, die ungewohnte schwere Arbeit ließ mich die Grenzen meines Körpers anders empfinden. Die dicken Sparren, die unter das Dach griffen, wurden dann allmählich zu starren Fortsätzen meiner selbst. Während meine Hände emsig wirbelten, gab ihr Holz Befehle. Auch die Balkenansätze schienen bald in mich eingewachsen zu sein. Sie steuerten mich und die Richtung jedes meiner Hiebe. Ich war ihr atmendes Anhängsel, nicht mehr als ein Glied, ihr Organ. Tätig war das Dach – mittels meiner Körperkraft und meiner Gedanken.

Die Verwirrung setzte sich fort, wenn ich dann taumelig und erschöpft in der Küche saß und einen Kaffee schlürfte. Ich hatte die sicheren Bezugspunkte verloren: Was war außen, was war innen? Ich spürte eine absurde Umpolung: Der sich eben für einen Bewohner hielt, war plötzlich bewohnt vom Haus. Das Gebäude war in mir – mit seiner Konstruktion und seinen vielen Erinnerungen, seinen Geheimnissen, den Gängen und Kammern, den Schlafstätten und Nischen, den Regalen und den Truhen und den Kellern. So wurden wir beide miteinander still und spürten uns als Fremde, einer des andern Haus, einer des andern Vorstellung, gar dessen Traum.

Jemand macht die Tür auf für die letzten Dinge.

Im ersten Sommer hier oben hatte ich Pappen ausgelegt, die ich mit altem Kompost und Steinen beschwerte. Die zerlegten Kartons fand ich in der Scheune auf dem Heuboden zu einem riesigen Stapel geschichtet. Die alte Bäuerin, die hier bis zu ihrem Tod vor sieben Jahren gelebt hatte, musste Pappen von Postsendungen aller Nachbarn gesammelt haben, vermutlich, um sie im Winter zu verfeuern. Sie waren klamm und stockfleckig. Ich trug sie in die Sonne und breitete sie auf der blühenden Wiese aus.

Ich fühlte mich dabei wie ein Totengräber. Denn über die Sommerwochen würden im Dunkel darunter das Gras und der Löwenzahn und die Schafgarbe sterben. In der feuchten Wärme würden die Würmer und Nacktschnecken die Reste der Pflanzen zernagen und Pilzfäden die festen Halme und Wurzeln erweichen. Irgendwann brächen die Regenwürmer, Larven und Käfer durch die Papplagen, und der Humus quölle auf. Selbst die harten Stängel der Disteln würden gilben, würden blass werden wie Menschenfinger und sich schließlich verwandeln in ein makroskopisch körperloses Kriechen und Gären.

Die Erde hier vertrug kein Umgraben. Nur eine dünne Humusschicht, durchsetzt mit vielen Steinen, deckte eine feste Lehmplatte, durch die kaum die Spitzhacke drang, darunter war Geröll. So musste ich Beete anlegen, ohne die Pflanzennarbe zu entfernen. Das Töten war ein Anfang, ein Raumschaffen, schonende Öffnung für anderes. Ein Jahr später schon hatte ich mehrere fruchtbare Beete, wo Bohnen, Kartoffeln und Kürbisse wuchsen.

Wurzeln – die alte Metapher für etwas, was ich hier suchte? Bevor ich die in Töpfen gezogenen kleinen Kohlpflanzen eingrub, wog ich ihre weiße, erdige Haarpracht in der Hand. Die hängenden Fasern würden im Beet ausgreifen und Totes, die Moderreste des vergangenen Pflanzenjahres, und den tieferen Lehmgrund durchlässig für das Kommende machen, sie würden die Zeiten vermengen, ihr Wuchs wäre ein Tausch. Doch die Wurzeln vermischten nicht nur Beginn und Verlöschen, sondern auch Licht- und Erdraum. Über Wochen verströmend an ihrem Ort sollten sie emsige Schmuggler sein von oben nach unten und umgekehrt. Ein feines System von Gängen und Schächten würden sie durch den Bergboden ziehen. Dann saugten sie Nässe aus der Tiefe herauf ins Blattwerk. Sie trügen im Gegenzug das verwandelte, Pflanzenleib gewordene Tageslicht ins Erdreich und ins Geröll hinunter. Wuchernd sollten die zarten Grünkohl- und spirrligen Kohlrabiwurzeln die Sonne im Finstern abbilden. Denn wie ihr Geflecht sich nach dem Erdmittelpunkt orientierte, so die Blätter und Stängel nach dem Himmel. Paariges Wachsen: des Feuers in die Erde, der Erde ins Licht. Ist die Lebensachse der Pflanzen die Vertikale? Und ich, als ein Mensch, als ein immer Fluchtbereiter, fließe vor allem aus, weiß wenig vom Dunkel und wenig vom Hellen und viel von den vorübergehenden Zuständen, den Passagen mit offenem Ausgang, dem Dämmern, dem flächigen Treiben der Erscheinungen?

»Alles Reden ist so voll Mühe, dass niemand damit zu Ende kommt. Das Auge sieht sich niemals satt, und das Ohr hört sich niemals satt. Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Apokalypse • Autobiografie • Bibel • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Der Gott in einer Nuß • Deutscher Preis für Nature Writing 2018 • Eichendorff-Literaturpreis 2016 • Einsamkeit • Endzeit • Erzgebirge • Fremde • Hölty-Preis für Lyrik 2012 • Jakob Böhme • Johann Georg Hamann • Jüngstes Gericht • Krise • Natur • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Neues Testament • Offenbarung des Johannes • Selbstversuch • Theodizee • Unbehaust • Zuhause
ISBN-10 3-518-77752-1 / 3518777521
ISBN-13 978-3-518-77752-7 / 9783518777527
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