Das Geheimnis der schönen Unbekannten (eBook)
336 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60589-2 (ISBN)
André Winter lebt als freier Autor in der Schweiz. 'Die schöne Unbekannte' ist der erste Roman des Antiquitätenhändlers und Sammlers mit beeindruckendem Spezialwissen über Kunstkriminalität.
André Winter lebt als freier Autor in der Schweiz. "Die schöne Unbekannte" ist der erste Roman des Antiquitätenhändlers und Sammlers mit beeindruckendem Spezialwissen über Kunstkriminalität.
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PARIS, SECHSTES ARRONDISSEMEN T, RUE DES BEAUX-ARTS
Sie hörte seine schlurfenden Schritte in der Wohnung, seinen Gang zur Toilette, seinen Weg in die Küche, wo er sich den ersten Kaffee des Tages – dem noch viele weitere, ganz gegen den dringenden Rat seines Arztes, folgen würden – zubereitete, bevor er sich in seinem burgunderroten Morgenmantel in die Bibliothek setzen würde, um ein paar Seiten Montaigne zu lesen oder in einer Kulturgeschichte der antiken Mysterien zu blättern. Wie immer würde Agnès alles vorbereitet haben, denn Julien Silva war unfähig, in der Küche mehr zu bedienen als den Schalter der Kaffeemaschine. Agnès war die gute Seele des Hauses, sie kam jeden Morgen gegen zehn Uhr und blieb bis zum Abend, nachdem sie das Souper aufgetragen hatte. Ohne sie wären Julien Silva und seine Enkelin Isabelle vollkommen hilflos gewesen.
Sie hatten eine gemeinsame Firma, die Galerie Lumière. Eine Kunstgalerie von einigermaßen solidem Ruf, mitten in Saint-Germain-des-Prés gelegen, wie es sich in Paris gehört. Die Straße hieß sinnigerweise Rue des Beaux-Arts. Im Erdgeschoss befanden sich die Ausstellungsund Büroräume, am Hauseingang war ein Messingschild, auf dem in gravitätischen Versalien Silva & Co. Art Inquiries eingraviert war. Die Galerie betrieben Julien und Isabelle Silva mit viel Lust und Liebe, doch ihre wahre Leidenschaft galt einem anderen Metier: dem Aufspüren von verschollenen, verlorenen oder gestohlenen Gemälden. Hinter der seriösen Fassade der Kunsthändler und -experten verbarg sich noch eine andere Profession, die mit »Kunstdetektive« vielleicht besser zu beschreiben war und die sich nicht mit Pflichtübungen wie Expertisen oder wissenschaftlichen Abhandlungen aufhielt. Diese Profession erforderte einiges rhetorisches Geschick, gutes Reaktionsvermögen, enorme Hartnäckigkeit und natürlich ein gewisses Gespür dafür, in welchem staubigen Winkel dieser oder jener Sammlung die Leinwand hing, für die ein Vermögen bezahlt werden würde. Der Kundenkreis war klein und erlesen: Kaum mehr als zwanzig Kunstsammler und Galerien in Rom, Paris, London, Wien, Barcelona oder Genf waren es, welche die Dienste von Silva & Co. in Anspruch nahmen. Und einige der berühmtesten Museen des Kontinents.
Was Isabelle betraf, so fühlte sie sich bisweilen einer Reliquienjägerin wie Lara Croft ähnlicher als einer in irgendeinem Museum vor sich hin verstaubenden Kuratorin. Ihre Arbeit war abwechslungsreich, aufregend, ja oft genug richtig spannend. Man hätte auch sagen können: ihr Leben, denn neben der Jagd nach verlorenen Schätzen konnte bei ihr von einem normalen Privatleben eigentlich keine Rede sein. Und von einem romantischen Leben erst recht nicht.
Mittlerweile hatte Julien – inzwischen über siebzig – sich weitgehend aus dem Geschäft zurückgezogen und Isabelle den größten Teil der Verantwortung übertragen. Für Recherchen stand ihr seine riesige Bibliothek zur Verfügung. Teils geerbt, teils jahrzehntelang zusammengetragen, war sie wohl eine der umfangreichsten und bestsortierten Privatbibliotheken des europäischen Kontinents. »Nur Umberto hat mehr«, pflegte Julien zu sagen; für ihn war sein Freund Umberto Eco das Maß aller Dinge. Und Julien Silva war – noch immer – einer der gefragtesten Experten für Kunstgeschichte, mit einem kaum zu übertreffenden Spezialwissen in Sachen Kunstkriminalität – angefangen von Raub über Fälschung bis hin zu den fragwürdigen Aspekten des Handels mit Kunst. Sein Rat war ebenso teuer wie mittlerweile auch selten, seit er vor fünf Jahren seine einst weltweite Tätigkeit mehr oder weniger an seine Enkelin abgetreten hatte, die gerade ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag und ihren Studienabschluss an einem Tag feierte.
Isabelle hatte alles von ihrem Großvater gelernt, alles, was ihr die Universität nicht beibringen konnte, also das Wichtigste. Für sie war ihr Großvater ein Glücksfall: Er lebte seit Jahrzehnten in Paris, hatte diese riesige Wohnung, einen unüberschaubar großen Bekanntenund Freundeskreis, einen Salon, in dem sich die kulturelle Elite der Hauptstadt traf, die besagte Bibliothek, die ihr zum Studium offenstand (so dass sie tatsächlich während ihrer ganzen Studienjahre nicht einmal einen Fuß in die Bibliothèque Nationale und andere Büchereien setzte). Er wurde ihr Mentor, ihr Förderer und auch ihr Lehrer. Bei ihm lernte sie mehr als in Vorlesungen und Seminaren, die sie pflichtbewusst besuchte. Sie lernte von ihm Kunst – in einem ganz umfassenden Sinn. Nicht nur das Wesen und die Geschichte der Kunst, sondern die Kunst zu schauen, die Kunst zu verstehen, die Kunst zu leben.
Das war mehr, als ihr Vater ihr jemals beizubringen vermocht hatte. Dessen ganz mit roten Seidentapeten ausgestatteter Laden mit dem Namen La Donna dei Sogni lag mitten in Florenz, unweit des Ponte Vecchio, jedoch nur in einer Seitengasse der großen Flaniermeilen, auf denen sich die Touristen zwischen Duomo und Signoria und den Uffizi drängten. Die versteckte Lage des kleinen Geschäfts, das den Traum der Belle Époque am Leben hielt, passte zu dem Geschäftsverständnis von Signor Giancarlo Silva und seiner französischen Frau Mélanie: Er war nämlich der festen Überzeugung, dass all der antike Schmuck, die schon verblichenen Seidenstoffe, die Preziosen und Posamenten, die entzückenden Ballettschühchen, die mit verwegenen Federn geschmückten Hüte, die Roben und Rüschen am besten mit Ausrufen freudiger Überraschung entdeckt werden sollten. Und nicht von jedermann. Doch Touristinnen verirrten sich nicht zufällig in sein Geschäft; wenn, dann kamen sie ganz gezielt vorbei, weil sie von Donna dei Sogni als einem Geheimtipp gehört hatten. Ihnen bot Signor Silva eine Bühne zum Ausleben dramatischer, skurriler, surrealer, nostalgischer Wünsche.
Aus dieser Welt kostbaren Trödels und heimlicher Sehnsüchte nach schönen Stoffen und Gegenständen war Isabelle Silva im Alter von achtzehn Jahren nach Paris gekommen, zu ihrem Großvater, der sich hier seit seinem vierzigsten Geburtstag, nach dem allzu frühen Tod seiner Frau, niedergelassen und seinen Vornamen Giuliano seiner französischen Wahlheimat angepasst hatte. Seinen einzigen Sohn hatte er in der Obhut einer Tante zurückgelassen, da er in sich keinerlei Talent für erzieherische Bemühungen spürte. Er bezog das Haus seiner Schwiegereltern in der Rue des BeauxArts und war heilfroh, dass mit herannahendem Alter, das er fürchtete, plötzlich eines Tages seine Enkelin Isabella vor der Tür stand, ihn bat, bei ihm während des Studiums wohnen zu dürfen, und sich – der Tradition folgend – fortan Isabelle nannte.
Obwohl sie am liebsten sofort in seine Zimmer gelaufen und ihm triumphierend das Bild entgegengehalten hätte, bezähmte Isabelle sich – sie wusste, dass Julien zu solch früher Stunde in keiner Weise ansprechbar, sondern im Gegenteil grantig und abweisend war. Sein berühmter Charme schien erst mit dem wachsenden Morgenlicht zu erwachen. Wenn die Sonne ihre Strahlen durch die hohen Sprossenfenster fallen ließ, würde er die Bücher zuklappen und sich rasieren gehen, und die Bettflucht, zu der ihn sein Alter trieb, würde vergessen sein, die Missstimmung des frühen Morgens auch, einer Tageszeit, die – wie er oft zu sagen pflegte – nicht ohne Grund Morgengrauen hieß.
Wir leben wie ein altes Ehepaar, dachte Isabelle belustigt, als sie durch die Wohnung ging. Aufeinander eingespielt, vertraut mit den Launen und Marotten des anderen, nicht ohne Zuneigung und Zärtlichkeit, aber durchaus auch mit dem sicherem Wissen, wie man den anderen verletzen konnte. Eine seltsame Menage, diese Wohngemeinschaft, die sie auch nie in Frage gestellt, sondern immer als einen der großen Vorzüge angesehen hatte, die das Leben ihr zugestand. Ein Großvater und seine Enkelin als entente cordiale, wo gab es so etwas?
Sie hätte nach dem Studium ausziehen, sich eine eigene Wohnung suchen, auf eigenen Füßen stehen können, mit all den Freiheiten, die das mit sich brachte, aber auch mit all den Risiken und Gefühlen der Einsamkeit. Doch warum hätte sie das tun sollen? Julien Silvas Wohnung im Carré Rive Gauche war riesig, selbst für großbürgerliche Pariser Verhältnisse. Sie verfügte nicht nur über Gesellschaftsräume wie einen Salon, der einem kleinen Festsaal glich, sondern auch über eigene Arbeits-, Schlafund Badezimmer; die Bibliothek – das Herzstück der Wohnung – erstreckte sich über zwei Räume, deren Flügeltüren weit...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Gemälde • Kunst • Roman |
ISBN-10 | 3-492-60589-3 / 3492605893 |
ISBN-13 | 978-3-492-60589-2 / 9783492605892 |
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