Sieben Tage im Mai (eBook)
184 Seiten
Querverlag
978-3-89656-693-5 (ISBN)
Sonja Steinert ist Literaturwissenschaftlerin und Autorin. Nach Cantando (2002), Maschas Geschichten (2007) und Der Seerosencode (2018) ist Rihanas Rache ihr vierter Roman. Sie lebt in Berlin.
Sonntag, 7. Mai
1
Wolfram Ziegler schlenderte die Gleditschstraße entlang Richtung Winterfeldtplatz. An diesem Sonntagvormittag waren erstaunlich viele Menschen unterwegs. Die Sonne schien, es ging kein Windchen, nach dem langen Winter und dem kalten April – noch in den letzten Apriltagen hatte es unversehens geschneit – freuten sich die Leute, dass sie wieder raus konnten. Ihm ging es genauso. Wenn es draußen kalt und ungemütlich war, trafen sie sich sonntagvormittags reihum zum Skat, aber bei schönem Wetter eben hier, auf dem Sandplatz vor dem Kindertheater am Winterfeldtplatz, zum Boulespiel. Und ganz früher, als sie alle vier noch berufstätig waren, da trafen sie sich zum Handballspielen. Wie lange war das nun schon her? Sehr lange, kam es ihm vor, war er nun schon Oberstudiendirektor im Ruhestand. Immerhin hatte er den letzten Karriereschritt noch rechtzeitig geschafft. Und alles war gut, Hilde und er begannen einen neuen Lebensabschnitt, sie unternahmen wunderbare Reisen, entdeckten neue Orte, an denen sie es sich gutgehen ließen, und fühlten sich noch einmal jung.
Gerade passierte er den kleinen Park, der sich gegenüber dem Haupteingang der Sankt-Matthias-Kirche erstreckte. Das Geschrei der Kinder blendete er aus – das hatte er als Lehrer jahrzehntelang trainiert –, den Duft des Flieders zog er genüsslich durch die Nase ein wie eine Leckerei. Ihm kam der Gedanke, dass rosa, weißer und lila Flieder womöglich unterschiedlich duftete. Hätte er nicht Geografie und Sport unterrichtet, sondern Biologie, dann wüsste er das, ging ihm durch den Kopf.
Zwei Jogger, die sich laut unterhielten, überholten Ziegler, der Arm des einen streifte leicht seine Hüfte. Er zuckte zusammen. Da lag schon der halbrunde Sandplatz vor ihm, eingefasst von einem niedrigen Steinmäuerchen, umstanden von Sitzbänken, von denen einige bereits besetzt waren. Ohne Eile suchte er sich eine freie Bank, nahm ein Taschentuch aus der Jackentasche, mit dem er über die Sitzfläche wischte, und ließ sich nieder. Wunderbar. Wie gut das tat, nach dem kleinen Spaziergang von der Barbarossastraße hierher auszuruhen. Und in der Sonne zu sitzen! Wie meistens seit Hildes Tod war er auch heute der erste, und bis Helmut, Hans-Günther und Otto eintrafen, würde er noch eine Weile die lebendige Atmosphäre dieses Ortes genießen. Sein Blick folgte entspannt Passanten mit ihren Hunden, Leuten, die Kinderwagen schoben, Radfahrern und Skatern, Spaziergängerinnen. Drüben im Café am nördlichen Ende des Winterfeldtplatzes waren fast alle Tische schon besetzt, manche Gäste unterhielten sich, andere lasen Zeitung, wieder andere schauten einfach nur über den Platz und tranken ihren Kaffee.
Die Glocken der katholischen Kirche begannen zu läuten, in wenigen Minuten würde die Messe beginnen. Alles wie immer. Er beobachtete, wie sich nach und nach einzelne Gottesdienstbesucher:innen einfanden und die breite Treppe zum Eingang hochstiegen. Ein roter Kleinwagen – ein Fiat –, der langsam in die Gleditschstraße eingebogen war, hielt am Straßenrand. Ein großer, schwarz gekleideter schlanker Mann stieg aus, sprach durch die noch offene Beifahrertür ein paar Worte zum Fahrer, schloss dann mit Schwung die Tür. Der rote Fiat fuhr weiter. Der Mann blieb stehen, holte eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug aus den Taschen seines Jacketts und zündete sich eine Zigarette an. Langsam schlenderte er über das Kopfsteinpflaster hinüber zur Kirchentreppe. Da schoss ein weißer VW Caddy in hohem Tempo heran und fuhr ohne zu bremsen auf den Mann zu. Ziegler konnte nicht glauben, was er da sah. Das war doch nicht möglich! Der Caddy hielt geradenwegs auf den Mann zu, erfasste ihn, sodass er gegen die Windschutzscheibe prallte, in einem Bogen durch die Luft flog und auf dem Pflaster liegenblieb, während das Auto weiterraste.
Ziegler hatte den Atem angehalten, er hörte Menschen schreien, verfügte aber über so viel Geistesgegenwart, dass er aufstand, ein paar Schritte zur Straße lief und dem Caddy hinterher schaute, sodass er das Nummernschild lesen konnte: PM – HG 4711. Er sagte die Nummer einmal laut und ein paar Mal in Gedanken, das war seine Methode, sich Namen und Zahlen zu merken. Dann drehte er sich um und ging hinüber zu dem Mann, der mit grotesk verrenkten Gliedern auf dem Kopfsteinpflaster lag. Vom Winterfeldtplatz her rannten zwei junge Frauen heran und bemühten sich um das Unfallopfer. „Rufen Sie den Notarzt!“ rief die eine, kaum älter als eine Abiturientin, Ziegler zu, der bereits sein Smartphone in der Hand hatte. Automatisch wählte er die Einseinsnull, und noch bevor jemand seinen Anruf entgegennahm, sah er die andere junge Frau den Kopf schütteln, nachdem sie versucht hatte, den Puls des Mannes an der Halsschlagader zu fühlen.
Zieglers Sinne schienen sich in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit zu entkoppeln. Während er am Telefon sprach und zuhörte, sah er, wie die junge Frau ihr Ohr über den Mund des Mannes hielt. Wieder schüttelte sie den Kopf. Ziegler wandte den Blick von dem blutigen Bündel zu seinen Füßen.
2
Als Kriminalhauptkommissarin Judith Rabe sich dem Winterfeldtplatz näherte, sah sie schon von Weitem, dass da ein ziemliches Chaos auf sie wartete: laut redende, wild gestikulierende Menschen, Sanitäter:innen, die ihre Sachen zusammenpackten, Kolleg:innen von der Bereitschaftspolizei, die einige der Umstehenden befragten, und mehrere Fahrzeuge, darunter welche von Polizei und Feuerwehr, die kreuz und quer herumstanden. Judith schloss ihr Rad am Zaun der Spreewald-Grundschule an und strebte zügig Richtung Kirche, wo das Opfer lag, zugedeckt mit einer weißen Plane.
Eigentlich war sie heute mit ihrer Freundin Sina und deren Hund zu einem Waldspaziergang verabredet, sie hatten sich – bis auf ein paar kurze Telefonate – länger nicht mehr gesprochen. Schade. Nach dem langen Winter, den ein unberechenbarer April noch verlängert hatte, weckte allein schon die Aussicht auf einen Gang durch den Wald, begleitet vom Gezwitscher der Meisen, dem hämmernde Trommeln der Spechte und den heiseren Rufen der in Formation dahinziehenden Wildgänse, richtige Frühlingsgefühle. Judith seufzte, aber sie war Profi genug, nach einem letzten sehnsuchtsvollen Gedanken an die ersten grünen Blättchen und die hellen Stämme der Birken dies alles beiseite zu schieben und sich auf das zu konzentrieren, was ihr Job war. Nach allem, was sie bisher wusste, gingen die Kolleg:innen von einem Mord aus, und deshalb war sie hier.
Ein Kollege trat von der Seite her auf sie zu und grüßte. Er stellte sich als Polizeiobermeister Karsten Reinsch vom Abschnitt 41 vor, also der für Schöneberg-Nord zuständigen Polizeidienststelle in der Gothaer Straße, und gab der Kollegin von der Kripo einen ersten Überblick. Judith folgte dem Bericht von POM Reinsch, während sie sich einen Weg zu dem Toten bahnten. Die Fotografin hatte ihm die Plane gerade wieder über den Kopf gezogen und war zurückgetreten. Judith ging in die Knie, hob die Plane mit beiden Händen erneut an und betrachtete das Opfer, dessen Gesicht fast unversehrt war, während Leib und Gliedmaßen zahlreiche Verletzungen aufwiesen. Unter der Leiche hatte sich eine Blutlache gebildet, das Blut war bereits geronnen. Die bizarren Verrenkungen des leblosen Körpers ließen Judith einen Moment lang an eine Stoffpuppe denken. Zermalmt, dachte sie. Und mit diesem Wort stellte sich die Vorstellung ein, dass der Mörder – oder die Mörderin – aus einem enormen Vernichtungswillen heraus gehandelt hatte. Er wollte den Mann, den er über den Haufen gefahren hatte, komplett vernichten. Zerstören, auslöschen. Wut, Hass, vielleicht auch Verzweiflung, die Kompensation einer eigenen Verletzung, Gefühle, die sich lange angestaut hatten, die sich unglaublich tief verankert hatten, waren hier wohl zum Ausbruch gekommen. Nach den nun fast schon fünfzehn Jahren ihrer Arbeit im Bereich „Delikte am Menschen“, wie ihre Abteilung beim LKA Berlin hieß, schauderte es Judith noch immer, wenn sie auf einen ermordeten Menschen traf, dessen Körper von der Wucht der Tat derart gezeichnet war. Hier, bei diesem Eindruck, nahm die Suche nach dem Mörder, nach seinen Motiven, ihren Ausgang. Mit konzentrierter Aufmerksamkeit nahm die Ermittlerin möglichst viele Details in sich auf.
„Wissen Sie schon, wer er ist?“ fragte sie POM Reinsch, während sie sich wieder aufrichtete.
Der schüttelte den Kopf. „Er hat weder Ausweispapiere noch ein Handy bei sich gehabt, auch kein Schlüsselbund und nur wenig Bargeld. Aber Frau Istraty hat ein paar Fotos gemacht, sein Gesicht ist ja einigermaßen erkennbar.“
Die Fotografin trat näher und zeigte sie der Hauptkommissarin im Display ihrer Kamera.
„Gut“, nickte Judith. „Die können wir zur Identifizierung nutzen. Erstaunlich, dass auf diesem Schlachtfeld das Gesicht so wenig zerstört worden ist.“
„Sein Gesicht ist fast das einzige, was nahezu heil geblieben ist“, sagte die Fotografin nachdenklich.
„Der Notarzt“ – POM Reinsch zeigte hinüber zu dem Feuerwehrwagen – „konnte nichts mehr für den Mann tun. Als die hier ankamen, keine fünf Minuten nach dem Zusammenstoß, war er schon tot. Der Arzt meinte, der Aufprall war so stark, dass er innerhalb von Sekunden tot war. Das Genick ist gebrochen, innere Verletzungen, mehrere Knochenbrüche an allen Gliedmaßen.“ Der Blick des Polizisten verweilte noch einen Moment auf der Plane, unter der sich der Körper des Toten abzeichnete wie ein unregelmäßiger Hügel. „Dann kann er in die Gerichtsmedizin?“
„Ja“, sagte Judith knapp. „Haben Sie schon eine Halterabfrage gemacht?“
POM Reinsch nickte und schaute in seine Notizen. „Hab ich. Der Caddy mit dem...
Erscheint lt. Verlag | 2.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
ISBN-10 | 3-89656-693-8 / 3896566938 |
ISBN-13 | 978-3-89656-693-5 / 9783896566935 |
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