Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Vaters Meer (eBook)

Roman | Ausgezeichnet mit dem Bayerischen Buchpreis

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
384 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77749-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vaters Meer -  Deniz Utlu
Systemvoraussetzungen
21,99 inkl. MwSt
(CHF 21,45)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Vaters Meer erzählt von einem Schicksalsschlag, der eine ganze Familie trifft, von einer Vater-Sohn-Beziehung, die abrupt endet, von Migration und Zugehörigkeit. Deniz Utlu zeichnet die unerwarteten Wege des Lebens wie der Erinnerung nach. Sein Roman zeugt von der Kraft des Erzählens - die dann am deutlichsten wird, wenn die Sprache das Letzte ist, was einem bleibt.

Yunus ist dreizehn Jahre alt, da erleidet sein Vater zwei Schlaganfälle und ist fortan nahezu vollständig gelähmt. Er kann nur noch über Augenbewegungen kommunizieren. Zehn Jahre wird er von Yunus' Mutter gepflegt, erst in einem Heim, dann zu Hause, bevor er stirbt. Und Yunus, der zum Studium ausgezogen ist aus der elterlichen Wohnung, ruft sich immer wieder Bilder aus seiner Kindheit wach: Erlebnisse und Gespräche mit dem Vater, von denen er manchmal gar nicht mehr wusste, dass er sie noch in sich trägt. Sie fügen sich zu dem warmherzigen Porträt eines Mannes, der mit lauter Stimme lachte oder auf Arabisch fluchte, der häufig abwesend und leicht reizbar war und der einst aus Mardin nahe der türkisch-syrischen Grenze nach Istanbul ging, dort den Militärputsch miterlebte und schließlich mit einem Frachtschiff nach Deutschland kam.

»Dieses Buch hat mein Herz gebrochen und wieder zusammengeflickt. Die Figuren und die Sprache, sie werden mich für immer begleiten.« Fatma Aydemir



<p>Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin<em> </em>freitext heraus. Sein Deb&uuml;troman, <em>Die Ungehaltenen</em>, erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater f&uuml;r die B&uuml;hne adaptiert. Von 2017 bis 2019 schrieb er f&uuml;r den<em> </em>Tagesspiegel die Kolumne <em>Eintr&auml;ge ins Logbuch</em>. 2019 erschien sein zweiter Roman <em>Gegen Morgen</em>. Au&szlig;erdem hat er Theaterst&uuml;cke, Lyrik und Essays verfasst (u. a. f&uuml;r FAZ, SZ, Tagesspiegel und Der Freitag). Er forscht am Deutschen Institut f&uuml;r Menschenrechte und veranstaltet am Maxim Gorki Theater die Literaturreihe <em>Prosa der Verh&auml;ltnisse</em>. F&uuml;r seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Alfred-D&ouml;blin-Preis und dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover.</p>

Unser Name ist bedeutungslos, sagte Vater. Ein Name, den ein Beamter seinem Vater, also meinem Großvater, gegeben habe. Vater sagte: Viele Namen aus der Zeit, in der die Türkei die Nachnamen einführte, gehen auf die Launen geistloser Beamter zurück. Auch sind erstaunlich viele Menschen damals offiziell am 1. Januar geboren. Ganz einfach. Name: Stein. Geburtsdatum: 1.1.

Aber unser wahrer Name ist schön, sagte er. Irgendwann werde er diesen Namen in seinen Pass eintragen lassen, und dann hätten wir einen neuen, nämlich unseren alten und wahren Namen. Wie lautet er?, fragte ich. In meiner Erinnerung gingen wir spazieren, die Sonne schien durch wassergrüne Blätter, da war ein See in der Stadt. Vater sagte: Beyt Haydo, das ist unser wahrer Name. Was bedeutet er? Vater lachte, es war dieses tiefe Lachen aus seiner Kehle. Banditen, sagte er, und das schien ihn ungemein zu freuen. Auch mich freute das. Ich hatte einen geheimen Namen. Er gehörte Banditen.

Einige Zeit später sah ich, bei einer Buchvorstellung in der Aula unserer Schule, zum ersten Mal einen Schriftsteller und konnte es kaum fassen. Für mich gehörte so jemand zu höheren, nahezu unsterblichen Wesen. Sie waren nicht aus Fleisch und Blut, womöglich sogar nicht irdischen Ursprungs, ihre Worte hatten mit Gravitation und Sternen zu tun, mit Licht und Dunkelheit. Wir, mehrere Hundert Kinder, betrachteten diesen Mann auf der Bühne unserer Aula. Er hatte tatsächlich etwas Außerirdisches an sich. Das dünne, blonde Haar fiel auf den Kragen seines Trenchcoats. Die Beine hatte er übergeschlagen. Er machte auf mich den Eindruck, dass die Kinder, für die er doch schrieb, ihm gleichgültig blieben. Womöglich verfasste er diese Texte gar nicht für sie, oder nicht für jene, die hier vor ihm saßen, sondern für noch Ungeborene oder längst Verstorbene.

Zu Hause erzählte ich Vater, dass ich dieses Buch über Räuberhelden im mittelalterlichen England lesen wolle. Das graue Licht schimmerte durch die Glastür des Balkons, vor der Vater stand und hinausschaute, er antwortete, dass ich keinen Grund hätte, von den halbgaren, letztlich gestohlenen Erzählungen des Westens beeindruckt zu sein. Aber ich will sie gerne lesen, sagte ich. Das ist Schwachsinn, rief Vater. Ich bräuchte solche Märchen nicht, die mich vor falschen Götzen knien ließen, in mich selbst sollte ich blicken, dort lägen die Geschichten vergraben.

Mutter sagte: Alles ist für den Menschen. Das galt für Mandelentzündungen, Windpocken, Durchfall und Liebeskummer – alles für die Menschen. Wer bestimmt das?, fragte ich. Gott. Warum hat Gott das so gewollt? Wir brauchen Mandelentzündungen, damit wir glücklich sind, wenn wir morgens aufwachen und schmerzfrei schlucken.

Alles für die Menschen galt auch für Autounfälle, Fahrradunfälle und Unfälle im Haushalt. Es galt nicht für Erdbeben und Flugzeugabstürze, zumindest sagte Mutter es dann nicht. Es galt auch nicht für das Stürzen von der Leiter, wenn man allein zu Hause war, denn Einsamkeit sei nur für Gott, nicht aber für Menschen, deshalb habe Gott erst die Tiere für Adam geschaffen und dann, als es nichts an der Einsamkeit änderte, seinesgleichen. Es galt auch nicht für eine Mittelohrentzündung, wenn man trotz empfindlicher Ohren tauchte. Aber es galt für Fieber und Erkältungen, und das war hilfreich. Denn was für die Menschen bestimmt war, das ertrug ich leichter als die Dinge, die nicht für die Menschen waren. Vaters erstes Fallen war für die Menschen. Vaters zweites Fallen war ein Erdbeben.

Aus mir würde kein Muslim mehr werden, aber das sei seine Schuld und nicht meine. Am Tag des Jüngsten Gerichts müsse Vater Rechenschaft ablegen vor Gott, weshalb er sich keine Zeit für mich genommen habe, sodass ich von unserem Glauben abgekommen sei, ihn nie erlernt oder auch nur verstanden hätte. Er werde irgendwann sterben, und auch meine Mutter könne nicht ewig leben, und dann gebe es nichts mehr, was mich mit unserem Glauben verbinde. Selbst wenn ich mir einiges selbst beibringen, den Koran lesen, die Biografie des Propheten studieren würde, wäre das wohl kaum der Islam, wie er, mein Vater, ihn auch schon seit langem, seit Jahrzehnten, nicht mehr praktiziere. Wir liefen gerade am Zaun des Hofs meiner Grundschule entlang, das Klettergerüst, auf dem in den Pausen die Mädchen turnten, stand verlassen da. Was Vater sagte, kam mir schrecklich vor. Während wir zusammen die Straße in Richtung Kreuzung hinunterliefen, wo wir in die Kollenrodtstraße abbiegen würden, sagte er, dass selbst dann, wenn ich es schaffen würde, an die Religion meiner Eltern anzuknüpfen, meine Kinder dies nicht tun würden. Vater sagte: Ich habe es nicht besser gewusst und nichts dafür getan, es zu verhindern, aber hier, in Deutschland, reißt die Kette unserer Kultur. In dem Moment flogen schwarze Vögel auf und zogen über das Dach der Schule. Ich fragte meinen Vater, welche Religion Tiere hätten, waren sie auch Muslime? Natürlich, sagte Vater, alle Tiere sind Muslime, sie kommen auf direktem Wege ins Paradies, wenn sie sterben. Einzig der Mensch wird geprüft, indem er über einen haardünnen Faden balancieren muss und nur mit reinem Herzen die Hilfe der Engel bekommt. Aber die Herzen aller Tiere sind rein, deshalb müssen sie nicht geprüft werden. Werden mir die Engel auf diesem Faden nicht mehr helfen, wenn ich unsere Religion vergesse? Doch, sagte Vater, auch dein Herz ist rein, und die Engel werden dir helfen. Er hingegen, er, mein Vater, werde vermutlich fallen.

Er werde nicht immer da sein, so sei es nun einmal für die Menschen bestimmt. Er sagte: Im besten Fall sterben die Eltern vor den Kindern, und ihre Aufgabe ist es, die Kinder darauf vorzubereiten, deshalb wirst du beschnitten.

Ich habe ein Bild von meiner Vorhaut, dessen Richtigkeit unwahrscheinlich ist, nämlich, dass sie von zwei winzigen weißen Knochen, die ein Kreuz bilden, aufgehalten wird. Ich meine Vater damals gefragt zu haben, was es mit diesen Knochen auf sich habe – immerhin handelte es sich um die einzigen nicht von Haut und Fleisch verdeckten, also für mich sichtbaren Knochen meines Körpers. In diesem Gespräch, das womöglich niemals stattgefunden hat, sagte Vater: Das ist unwichtig, das kommt ohnehin bald alles weg, ein unumgänglicher Schritt, um ein Mann zu werden. Aber bin ich kein Mann? Nein, du bist ein Kind. Und nach der Beschneidung werde ich ein Mann sein? Richtig, das heiße aber nicht, dass ich dann nichts mehr zu lernen hätte, im Gegenteil, es sei nur der Beginn meines Lebens als Mann. Tut das weh? Sehr, sagte Vater, das Schmerzhafteste, was ein Mensch erfahren kann, nur ein Kind zu bekommen, ist wohl heftiger. Wenn ich das hinter mich gebracht hätte, müsse ich nichts mehr fürchten und könne mich allen Herausforderungen des Lebens stellen. Vorerst sei er für mich da und bewahre mich.

Vater sagte, er verachte Cowboys. Er sagte das, wenn wir an Samstagen Western im Fernsehen schauten. Vater sagte: Die Kommunisten sind Idioten. Vater sagte: Du kannst Millionär werden, wenn du wirklich willst. Er sagte: Gewalt ist nicht gut, aber wenn du in so eine Situation gerätst, musst du schnell reagieren. Er sagte: Deine Mutter ist die bessere Mathematikerin, auch wenn ich der Ingenieur bin. Er sagte: Deine Mutter opfert sich für dich auf, weißt du das zu schätzen? Er sagte: Du schadest dir selbst, wenn du eingeschnappt bist und auf eine Geburtstagsfeier verzichtest. Er sagte: Du lebst zwischen zwei Wattebällchen, ich bin im Dreck der Gassen meiner Stadt aufgewachsen.

Er sprach mit mir über Begehren, sagte, nichts sei besser, als mit einer Frau zu schlafen, von der man wochen- oder monatelang geträumt habe. Ich sagte ihm, dass ich die Augenbrauen der Frau im Film, den wir zuletzt gemeinsam gesehen hatten, so schön fand und mich fragte, wie sie wohl nackt aussehe. Er sagte: Eleganz zeigt sich nicht an Nacktheit, sondern an ausgewählter Kleidung, der Art, wie sich jemand bewegt, und an den Worten.

In den zehn Jahren, in denen mein Vater nur noch mit den Augen sprechen konnte und nicht mehr mit dem Mund, in den Jahren nach seinem Fallen, sprach ich nur noch auf Türkisch zu ihm. Ich hob die Stimme, damit er mich hörte. Sein Türkisch war in gewisser Weise mein Deutsch, und mein Türkisch so gesehen sein Arabisch. Die Sprache, die uns mit unserer Mutter verband und die eine andere Sprache war als die, mit der wir durchs Leben schritten und nach uns selbst suchten. Deutsch war die dritte herznahe Sprache, über die...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abschied • Abwesend • aktuelles Buch • Alfred-Döblin-Preis 2021 • Anatolien • Ankara • Ankommen • Anwerbeabkommen Türkei • Arabisch • Aufwachsen • Augen • Bagdad • Bayerischer Buchpreis • Bayerischer Buchpreis 2023 • Beisetzung • Berlin • Boot • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • buch-geschenk • Deutsch • deutschtürkisch • deutschtürkische Geschichte • Die Ungehaltenen • Diskriminierung • Dschinns • Einwanderung • Eltern • Erinnern • Erinnerungen • Erlebnisse • Eure Heimat ist unser Albtraum • Familie • Familiengeschichte • Fatma Aydemir • Frachtschiff • Freitext • Fremd • Fremde • Fremd sein • Fremdsprache • Gastarbeiter • Geburtstagsgeschenk • Gedächtnis • Gegen Morgen • Gegenwartsliteratur • gelähmt • Generationen • Geschenkbücher für Männer • Geschenk-Idee • Geschichte • Gesellschaft • Gespräche • Gewalt • Hafen • Hannover • Heranwachsen • Herkunft • Hinterbliebene • Identität • Integration • Istanbul • Jugend • Jugendlich • Jugendlicher • jung • Junge • Kind • Kindheit • Kindheitserinnerung • Kızkalesi • Koma • Kommunikation • Krankenhaus • Krankheit • Kurdisch • Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr • Leid • letzte Worte • Literarisches Colloquium Berlin • Literatur • Literaturpreis der Europäischen Union (Sonderpreis) 2024 • Locked-in-Syndrom • Männer • Männlichkeit • Mardin • Maskulinität • Mesopotamien • migrantisch • Migration • Migrationsgeschichte • Minden • Mittelmeer • Mutter • Mutter-Sohn-Beziehung • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Niedersachsen • Pflege • Pflegefall • Pflegeheim • Porträt • postmigrantisch • Postmigration • Preis der LiteraTour Nord 2024 • Putsch • Schicksal • Schicksalsschlag • Schiff • Schlaganfall • Schmerz • Sohn • Sommer • Sprache • Sprachlosigkeit • Sterblichkeit • Suche • Tod • Tod des Vaters • Tuberkulose • Türkei • Türkei: Mittelmeerregion • Türkei: Südostanatolien • Türkisch • Ursprung • Vater • Vaterrolle • Vater-Sohn-Beziehung • Vatertag • Verlust eines Elternteils • Vorbild • Yunus • Zeki • Zugehörigkeit
ISBN-10 3-518-77749-1 / 3518777491
ISBN-13 978-3-518-77749-7 / 9783518777497
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,0 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50