Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge (eBook)
464 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46832-6 (ISBN)
Anja Tsokos wurde in einem Land geboren, das es nicht mehr gibt. Zumindest gibt sie diese Antwort ihren Kindern, wenn die sie danach fragen. Sie kam im Jahr 1973 in Oschatz, Sachsen, zur Welt. Im Alter von sechs Jahren siedelte ihre Familie nach Moskau um, da ihre Eltern im diplomatischen Dienst der DDR tätig waren. Kurz vor der Wende kehrte die Familie in den ostdeutschen Teil Deutschlands zurück. Seit den 1990ern lebt Anja Tsokos in Berlin, wo sie den Rechtsmediziner Michael Tsokos kennenlernte, den sie 2010 heiratete.
Anja Tsokos wurde in einem Land geboren, das es nicht mehr gibt. Zumindest gibt sie diese Antwort ihren Kindern, wenn die sie danach fragen. Sie kam im Jahr 1973 in Oschatz, Sachsen, zur Welt. Im Alter von sechs Jahren siedelte ihre Familie nach Moskau um, da ihre Eltern im diplomatischen Dienst der DDR tätig waren. Kurz vor der Wende kehrte die Familie in den ostdeutschen Teil Deutschlands zurück. Seit den 1990ern lebt Anja Tsokos in Berlin, wo sie den Rechtsmediziner Michael Tsokos kennenlernte, den sie 2010 heiratete. Prof. Dr. Michael Tsokos, Jahrgang 1967, ist Professor für Rechtsmedizin und leitet das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin. Michael Tsokos ist der bekannteste deutsche Rechtsmediziner und regelmäßig als Experte im In- und Ausland tätig, beispielsweise für das BKA bei der Identifizierung der Opfer von Terrorangriffen und Massenkatastrophen. Seine bisherigen 26 Bücher waren allesamt SPIEGEL-Bestseller. Folgen Sie Michael Tsokos auf Instagram: @dr.tsokos
2
Hotel Neptun
Der Zentrale Omnibusbahnhof lag am südlichen Ende der Bahnhofshalle, nur eine Rolltreppe und eine halbe Fressmeile entfernt.
Labensky folgte den Männern mit dem Bollerwagen, ein grauer Mann neben neun bunten. Mit rundem Rücken und neugierigem, vornübergebeugtem Gang, die Arme verschränkt wie ein greiser kleiner Obelix hinter einem als Frau verkleideten Asterix und seinen Galliern, stromerte er einfach hinter seiner Reisegruppe her.
Alle Fertigbäckereien, an denen sie so vorbeikamen, warben mit Schildern, auf denen stand: Ofenfrisch geliefert. Labensky, der in seinem ganzen Leben noch kein richtiges Buch gelesen, der aber zu alten DDR-Zeiten die Mosaik-Bildgeschichten der Abrafaxe regelrecht vergöttert hatte, dachte an den legendären Bäckermeister Mürbet Haik und beobachtete die Kundschaft.
Die meisten Kunden, die an diesem Morgen ofenfrische Lieferungen am Erfurter Bahnhof kauften, waren Männer mit Aktenkoffern und eng sitzenden Anzügen, die rundherum adrett wirkten und Energie, Erfolg und Tatendrang ausstrahlten. Junge, flinke Geschäftemacher, dachte Labensky. Zu strichförmigen Krawatten trugen sie hellbraune Lederschuhe, in denen keine Socken steckten. Im Vorbeigehen nippten sie an Eiskaffee mit Karamelldressing, während sie weiße Kabel oder Knöpfe in den Ohren hatten und sich schnellen Schrittes mit ihrem Revers oder sich selbst unterhielten. Labensky kannte diese verlockenden, meistens zu keinem fertigen Gedanken führenden Gespräche mit sich selbst, nur hatte er noch nie ein Hörgerät dazu gebraucht.
Er hatte seinen eigenen Stöpsel – er nannte ihn auch Ohrwurm, Luchs oder Spion – neben dem alten grauen Ruhla-Miniwecker auf seinem Nachttisch vergessen. Das fiel ihm jetzt auf. Er hatte das Heim im Morgengrauen verlassen, ohne sich abzumelden, und zuvor hatte er nicht einmal daran gedacht, wenigstens eine kleine Reisetasche mit einer Zahnbürste, Kniestrümpfen, kurzärmeligen Wechselhemden und Eukalyptus-Lutschbonbons zu packen.
Zum einen besaß er gar keine Reisetasche. Die einzige Reise, die er in den vergangenen Jahren unternommen hatte, war ein organisierter Feierabendheimausflug zum antifaschistischen Strickverein Erfurt Kunterbunt gewesen; ein Erlebnis, auf das er gut und gern verzichtet hätte. Zum anderen war er an diesem Morgen, nachdem er den Brief gelesen hatte, durch den Wind wie ein altes Segelschiff: Er hatte die Nacht lang wach gelegen, kein Auge zugetan, versucht, nicht an diese gefundene Frau zu denken, sich diese Vorstellung wieder aus dem Kopf zu schlagen. Er hatte aber trotzdem in einer Tour an diesen Namen aus dem Brief denken müssen.
Rita Warnitzke, so lautete der Name.
Labensky hatte ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr in den Mund genommen. Er hatte sich eines Tages verboten, ihn auszusprechen, was nicht bedeutete, dass er nicht ständig an den Menschen, der diesen Namen trug, gedacht hätte. Gedanken an Rita waren ihm, obwohl er Schwermut ja ansonsten mühelos beiseiteschieben konnte, immer wieder durch den Kopf geschossen. Von Zeit zu Zeit waren diese Gedanken auch tagelang darin herumgeschwirrt wie träge Brummer, die er unter Anstrengung verscheuchen musste. Sogar im Alter hatte er, ob er nun wollte oder nicht, noch regelmäßig von ihr geträumt und sich in seinen Träumen ausgemalt, wie ihr Leben wohl verlaufen war, nachdem er sie zum letzten Mal gesehen hatte.
Er hatte sie immer noch vor Augen: eine junge Frau mit dem zartesten, bildhübschesten Gesicht, das man sich vorstellen konnte. Mit winzigen Zahnlücken wie ein Backfisch und mit vielen kleinen Grübchen, die ihrem Lächeln etwas Lausmädchenhaftes gaben. Ihre Augen und auch ihre Haare, erinnerte sich Labensky, hatten die Farbe von DDR-Ersatzkaffee mit leichtem Schimmer. Ihre Hände dufteten nach Kleehonig und nach Florena-Creme. Wäre sie nicht als Bürgerin der DDR geboren, sondern als Indianerin, das hatte sich Labensky, der von klein auf die Indianerfilme der DEFA liebte, häufig vorgestellt, so hätte ihr Stammesname höchstwahrscheinlich »Schöne Taube« oder »Kleines Reh« oder »Helle Sonne« oder »Bunte Blume« gelautet oder auch »Schöner kleiner Schmetterling mit sehr schönen Flügeln«. So schön war sie gewesen.
Doch dann, eines Tages, war sie auf einmal weg, war sie ganz plötzlich wie vom Erdboden verschwunden, hatte er nie wieder von ihr gehört, war ihre Freundschaft wie ein Gummiband gewesen, das auf- und zugegangen und irgendwann gerissen war. Wieso?
Labensky war sich nie sicher gewesen. Doch jetzt, so viele Jahre später, war da auf einmal dieser Brief, und nun hatte er vielleicht die Antwort, zumindest einen Teil davon: weil Rita buchstäblich vom Erdboden verschluckt worden war? Weil sie vielleicht die gefundene Frau aus diesem Zeitungsartikel war und also die ganze Zeit ganz ohne Erdmöbel in einer Klärgrube gelegen hatte. Labenskys Bauch zog sich zusammen. Er schämte sich, das nur zu denken.
Aber warum?, überlegte er. Warum saß sie jetzt nicht auch gemütlich in irgendeinem Feierabendheim und bereitete sich mit reichlich Knabberkram aufs Ende vor so wie er? Was war aus ihr geworden?
Es war diese Frage, die sein rüstiges Herz – eine Gefühlsurne, die er sich schon lange nicht mehr anzutasten traute – noch vor Sonnenaufgang ins Stolpern gebracht hatte. Die ihn aus dem Bett getrieben und veranlasst hatte, sich aufzurichten, seine Füße in die Pantoffeln zu stecken und über Jahre eingeübte Abläufe der Morgentoilette zu durchbrechen: Er hatte mal wieder geduscht, war mit einer Pinzette gegen die Altherrenhaare vorgegangen, die wie krause Spinnenbeine aus seiner Nase und aus seinen Ohren wuchsen. Er hatte sich rasiert, gekämmt und schick gemacht, um herausgeputzt in aller Frühe mit dem Seniorentaxi zum Hauptbahnhof zu fahren.
Der große grüne Reisebus parkte direkt gegenüber dem Bahnhofsausgang, in einer Haltebucht neben einem halben Dutzend grüner Busse, die in dieseltuckernder Ungeduld auf ihren nächsten Ausritt warteten wie eine Schar Pferde an der Tränke. Hinter den Windschutzscheiben der Fahrerkabinen las Labensky ihre Ziele: Stuttgart, München, Prag, Hannover. Vor einem Bus sah er ein paar Halbstarke mit Hörgeräten und ofenfrischen Lieferungen zusteigen, gähnend, als würden sie bloß eben in die Altstadt fahren.
Verdutzt beobachtete er den Vorgang. Ihm, dessen Gesicht zerknittert war wie eine alte Landkarte, kamen die Orte ja so fern vor, dass er nicht sicher war, ob es sie wirklich gab. Dabei kannte er sie aus dem Fernsehen, vom Wetterbericht, den er sich jeden Abend mit Leberwurstschnittchen auf den Knien im Feierabendheim ansah. Er liebte Wetterberichte, weil sie seine kleine Welt groß machten. Weil er den Osten Deutschlands in seinem ganzen Leben nie verlassen hatte. Weil der Osten die einzige Welt war, die er kannte.
Der Bus, der über Leipzig und Berlin nach Rostock fahren sollte, war bereits so gut wie voll besetzt. Durch eine Ladeluke auf der rechten Busseite wurden Gepäckstücke in den Bauch geschleudert.
Daneben, unter der Fensterfront, klebte das riesige Reklamegesicht eines dunkelhäutigen Mannes mit sehr grüner Krawatte.
Schwer zu sagen, warum, aber der aufgeklebte Mann lächelte Labensky zu und streckte ihm sogar den Daumen entgegen wie ein Fußballstürmer, der sich für eine Flanke bedankte. Neben seinem Reklamegesicht stand: Kleiner Lenkanstoß: Ich verstehe nicht perfekt Deutsch, aber vom Busfahren verstehe ich alles. Verkehrsregeln spreche ich fließend. Muhibija, Busfahrer und Mensch.
Labensky sah zu ihm auf wie zu einem Weisen aus dem Morgenland. Er hatte keine Vorstellung, was diese Reise brachte, was er durch sie herausfinden würde, aber bis hierhin hatte er es schon mal geschafft.
Am Bussteig vermischten sich Abgasdämpfe und Aromen von Frittierfett zu einem Geruch, der metallisch in seiner frisch gezupften Nase pulsierte. So riecht das Leben, dachte Labensky, während die Männer mit dem Bollerwagen den Geldschein, den er ihnen auf die Hand gegeben hatte, in Zigarettenschachteln investierten, auf denen stand, dass sie wahrscheinlich daran sterben werden. Sie stiegen, als hätten sie sich sehr schnell damit abgefunden, in den Bus, und Labensky stieg einfach hinterher. Als Einziger begrüßte er den Busfahrer, einen dunkelhäutigen Mann mit grüner Krawatte, der sich gerade hinter dem Lenkrad einrichtete, persönlich.
»Heinz Labensky, ist mir ’ne Ehre«, sagte er und reichte dem Busfahrer die Hand wie ein langjähriger Bewunderer seiner Kunst.
»Ticket?«, ignorierte der Busfahrer die Hand vor seinem Gesicht.
Labensky hob die Augenbrauen, sein Stubenhockerteint bekam auf einmal Farbe. Er deutete in den Bus. Seine Reisegruppe war schon nach ganz hinten vorgeprescht, hatte sich auf der Rückbank breitgemacht und johlte, als wäre es für alle Mitreisenden wichtig, sie auf jeden Fall von Anfang an zu verstehen. Labensky wollte sich zu den jungen Leuten durcharbeiten, er hoffte, sie hätten ihm noch einen Sitzplatz frei gehalten, aber sie hatten den Bollerwagen mit dem Bier durch die Hintertür geschmuggelt und auf dem letzten freien Sitz platziert; die Anhängergabel hing quer im Gang, gesenkt wie der Kopf eines Hundes, der sich seiner Besitzer schämte.
Unsicher blickte sich Labensky um. Der Bus roch nach Goldbroiler, Schläfrigkeit und nassen Socken. Ganz vorne links saß ein plattgesichtiger Herr in Anglermontur, der mit offenem Mund schlief, und gleich daneben ein fülliger Kerl mit Lockenmähne, der lustlos an einem Müsliriegel kaute und in Labenskys Augen aussah wie der junge Achim Mentzel. Rechts daneben saßen zwei Männer in Unterhemden und über...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
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ISBN-10 | 3-426-46832-8 / 3426468328 |
ISBN-13 | 978-3-426-46832-6 / 9783426468326 |
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