V13 (eBook)
275 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0943-6 (ISBN)
Emmanuel Carrère, 1957 in Paris geboren, lebt als Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmregisseur in Paris. Seine genresprengende Prosa wird in über 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach international ausgezeichnet, z.B. mit dem Prix Renaudot 2011, dem Europäischen Literaturpreis 2013, dem Premio FIL 2017 oder dem Prinzessin-von-Asturien-Preis 2021. Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen die Dokumentarromane Der Widersacher, Alles ist wahr, Ein russischer Roman, Limonow und Das Reich Gottes sowie mehrere Essays.
Emmanuel Carrère, 1957 in Paris geboren, lebt als Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmregisseur in Paris. Seine genresprengende Prosa wird in über 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach international ausgezeichnet, z.B. mit dem Prix Renaudot 2011, dem Europäischen Literaturpreis 2013, dem Premio FIL 2017 oder dem Prinzessin-von-Asturien-Preis 2021. Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen die Dokumentarromane Der Widersacher, Alles ist wahr, Ein russischer Roman, Limonow und Das Reich Gottes sowie mehrere Essays. Claudia Hamm, geboren 1969, ist Regisseurin, Autorin von Theatertexten und Essays und Literaturübersetzerin, v.a. von Emmanuel Carrère, aber auch Mathias Énard, Édouard Levé, Nathalie Quintane, Ivan Jablonka, Joseph Ponthus, Joseph Andras. Für ihre Übersetzung von Carrères Das Reich Gottes wurde sie für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Übersetzerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2016.
In der Box
Der Aufruf
Bei einem Schwurgericht wird das Urteil von Schöffen gefällt, also zufällig ausgewählten Bürgern. Bei Terrorismusfällen ist das Gericht aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen mit Berufsrichtern besetzt, für die ein solches Risiko zum Metier gehört. Rund um den Vorsitzenden sitzen also vier Beisitzer oder vielmehr Beisitzerinnen. Wir werden uns an diesen Anblick gewöhnen, trotzdem ist er eigenartig. Er hat damit zu tun, dass die Juristerei sowohl eine machohafte als auch mehrheitlich weiblich besetzte Profession ist – was Hand in Hand damit geht, dass sie immer schlechter bezahlt wird. Der Vorsitzende Richter, Jean-Louis Périès, ist ein standhafter, findiger Richter kurz vor der Pensionierung, dessen Großvater Gerichtsschreiber in Foix im Département Ariège war und der Vater Untersuchungsrichter im berühmten Fall Dominici, jener Tragödie auf dem Land, die in den Fünfzigerjahren alle Zeitungen des Landes beschäftigt hat. Tatsächlich sieht auch Périès aus wie ein Bauer. Oder wie ein Gymnasiallehrer alter Schule: auf den ersten Blick streng, aber im Grunde gutmütig. Seine erste Amtshandlung ist der Aufruf der Sache. Von den zwanzig Angeklagten in diesem Prozess sind vierzehn anwesend und sitzen elf in der Box. Das klingt kompliziert, doch ich habe den Sommer damit verbracht, ein Dokument namens Anklageschrift, kurz Anklage, durchzuackern, das auf 378 Seiten eine Ermittlungsakte auswertet, deren 542 Bände aufgestapelt angeblich 53 Meter Höhe ergeben, ich bin also halbwegs im Bilde. Die neun Mitglieder des Kommandos, diejenigen, die am Stade de France, im Bataclan und auf den Caféterrassen im Osten von Paris 130 Menschen getötet haben, sind alle tot, die Klage gegen sie ist also eingestellt. Sechs andere sind der Vorladung des Gerichts nicht gefolgt, und das, wie der Vorsitzende moniert, »ohne triftigen Grund« – tatsächlich haben sie einen, nämlich den, dass auch sie tot sind, aber da man sich dessen nicht zu 100 Prozent sicher ist, bleiben sie angeklagt. Von den vierzehn Übrigen sind drei auf freiem Fuß, weil die Anklagepunkte gegen sie nicht so schwer wiegen, doch sie sind verpflichtet, jeden Tag im Gerichtssaal zu erscheinen und vor der Box zu sitzen. Die elf Verbliebenen sind zu unterschiedlichen Graden Komplizen des Attentats: manche bis obenhin verstrickt, andere weniger eindeutig beteiligt. Ich habe mir eine kleine Liste gemacht, hier ist sie:
Die Angeklagten
SALAH ABDESLAM, Hauptangeklagter. Aufgewachsen in Molenbeek, einem Viertel in Brüssel, das als Brutstätte für radikalisierte Muslime gilt. Als jüngerer Bruder von Brahim Abdeslam, der sich im Café Le Comptoir Voltaire in die Luft gesprengt hat, hätte Salah Abdeslam es ihm gleichtun sollen, und man weiß nicht, ob sein Sprengstoffgürtel nicht gezündet hat oder er in letzter Minute einen Sinneswandel hatte. Nur er kann das sagen. Wird er es tun?
MOHAMED ABRINI, ein Jugendfreund von Salah Abdeslam, Molenbeeker wie er, ist bei den logistischen Vorbereitungen ständig an seiner Seite gewesen. Gehört zu dem, was er selbst den »Todeskonvoi« genannt hat: die drei Fahrzeuge (ein Seat, ein Polo, ein Clio), mit denen die zehn Kommandomitglieder am 12. November von Charleroi nach Paris gefahren sind.
OSAMA KRAYEM, schwedischer Staatsbürger, ist im Spätsommer 2015 aus Syrien angereist, um sich an den Attentaten in Paris und Brüssel zu beteiligen. Als erprobter Kämpfer gilt er als wichtigster IS-Kader in der Box.
SOFIEN AYARI, gleiches Profil wie Osama Krayem. Ist mit ihm aus Syrien gekommen, wurde am 18. März 2016 zusammen mit Salah Abdeslam verhaftet. Da beide in Belgien auf Polizisten geschossen haben, wurde er dort bereits zu 20 Jahren Haft verurteilt und wird im Prozess um die Anschläge vom 22. März 2016 in der U-Bahn und am Flughafen von Brüssel mit 32 Toten und 340 Verletzten noch einmal vor Gericht stehen. Überhaupt überschneidet sich der Prozess um die Anschläge von Paris mit dem um die von Brüssel, der im Herbst 2022 beginnt. Mehrere, die in Paris angeklagt sind, sind auch in Brüssel angeklagt, sie werden also einen Prozess nach dem anderen erleben.
MOHAMED BAKKALI, Logistiker, war vor allem für die Anmietung von Unterschlupfen in Brüssel zuständig. Im Sommer 2015 war er an einem (missglückten) Anschlag an Bord eines Thalys-Zugs beteiligt, wofür er in Belgien bereits zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde.
ADEL HADDADI und MOHAMED USMAN waren im Sommer 2015 zusammen mit den beiden Irakern, die sich am Stade de France in die Luft gesprengt haben, in Syrien. Als IS-Kämpfer hätten auch sie an den Anschlägen beteiligt sein sollen, doch sie wurden unterwegs festgenommen und in Wien inhaftiert.
Die folgenden Personen können in unterschiedlichem Maß als kleine Handlanger betrachtet werden. Die Anklage wird versuchen zu beweisen, sie hätten wissentlich den Anschlägen zugearbeitet; ihre Verteidiger dagegen werden behaupten, sie hätten nicht gewusst, was sie taten, und verdienten deshalb ein geringeres Strafmaß oder sogar einen Freispruch.
YASSINE ATAR tauchte in einer Reihe von Nachrichten auf, die man auf dem Computer fand, mit dem die verschiedenen Projekte des Kommandos koordiniert wurden. Er ist der Bruder von Oussama Atar, der als in Syrien verstorben, vor allem aber als Drahtzieher dieser Anschläge gilt. Immer wieder beteuert Yassine, Oussama sei Oussama und Yassine Yassine, und er, Yassine, habe mit all dem nichts zu tun.
ALI EL HADDAD ASUFI soll bei der Beschaffung der Waffen geholfen haben. Genaue Beteiligung ziemlich ungeklärt.
FARID KHARKHACH hat falsche Papiere besorgt. Gibt zu, ein Fälscher zu sein, aber kein Terrorist, und schwört, er habe nicht gewusst, woran er beteiligt war.
MOHAMED AMRI, HAMZA ATTOU und ALI OULKADI sind die drei Molenbeeker Kumpel, die Salah Abdeslam in der Nacht vom 13. auf den 14. November aus Paris nach Brüssel geschleust haben. Mohamed Amri wird außerdem vorgeworfen, vor den Anschlägen zusammen mit Abdeslam Fahrzeuge angemietet zu haben. Deshalb sitzt er mit in der Box, während die beiden anderen auf freiem Fuß vor Gericht erscheinen.
ABDELLAH CHOUAA schließlich wird vorgeworfen, verdächtige Kontakte zu Mohamed Abrini während dessen Reise nach Syrien im Sommer 2015 unterhalten zu haben. Auch er erscheint auf freiem Fuß.
Eine Frage des Namens
In den in der Anklage enthaltenen Biografien hat mich ein Detail überrascht. Im Allgemeinen legen sich Dschihad-Soldaten als Kampfnamen klassische arabische Personennamen mit einem Kunya genannten Beinamen zu. Ein solcher Name beginnt mit Abou, das heißt Vater, und endet auf al-irgendwas, je nach Herkunft des Namensträgers. So hieß zum Beispiel der IS-Chef Abou Bakr al-Baghdadi deshalb so, weil er aus Bagdad kam – und außerdem, weil Abou Bakr zu den ersten Gefährten des Propheten zählte. Nach diesem ruhmreichen Vorbild war es möglich, dass sich ein junger Dschihadist aus der Normandie mit einem Vornamen und Namen, die französischer nicht sein könnten, Abou Siyad al-Normandi nennen konnte. Vier der neun Mitglieder des Kommandos vom 13. November waren Belgier: Sie nannten sich also al-Belgiki. Drei waren Franzosen: al-Faransi. Zwei Iraker: al-Iraki. Schaut man sich allerdings die vierzehn Angeklagten an, so findet man nicht einen dieser Kampfnamen, sondern nur armselige Alltagsnamen. Manche haben zwar Spitznamen, doch die tun nichts zur Sache. (Konkret sind das Ahmed Damani, der »Gégé« oder »Prothese« genannt wird, und Mohamed Abrini, der »Brink’s« oder »Brioche« heißt.) Wann haben sich die einen diese Dschihad-Ritternamen verliehen oder verleihen lassen, die für sie von hohem Prestige gewesen sein mussten, und wann haben die anderen vorsichtigerweise darauf verzichtet? War es klar, ausdrücklich klar, dass man das Recht, einen solchen Namen zu tragen, mit dem Leben zu bezahlen hatte? Und was ist von dem einen, einzigen zu halten, der sich zwischen beiden Gruppen nicht entscheiden konnte? Im Unterschied zu den Statisten neben ihm in der Glasbox hätte Salah Abdeslam töten und getötet werden sollen. Beides hat er nicht getan. Und wie um diesen unentschlossenen Status zu kennzeichnen, hat auch er einen Alias-Namen, allerdings einen verkürzten: Abou Abderrahman, mehr nicht. Kein mörderisches Adelsprädikat, keinen Adelstitel: Abou Abderrahman al-nichts.
Zeitarbeiter
Während der gesamten sechsjährigen Laufzeit der Ermittlungen hat er die Aussage verweigert, und die große Spannung an diesem ersten Tag konzentriert sich deshalb auf die Frage: Wird er sein Schweigen brechen? Täte er es nicht, würde der ganze Prozess...
Erscheint lt. Verlag | 3.8.2023 |
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Übersetzer | Claudia Hamm |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anschläge • Bataclan • Frankreich • IS • Islamischer Staat • Islamismus • Paris • Stade de France • Syrien • Terrorismus |
ISBN-10 | 3-7518-0943-0 / 3751809430 |
ISBN-13 | 978-3-7518-0943-6 / 9783751809436 |
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