Ich war zu jung, um zu hassen. Meine Kindheit in Auschwitz (eBook)
192 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-31373-9 (ISBN)
Lidia Maksymowicz hat beschlossen, ihr Leben dem Erzählen ihrer Geschichte und dem Schreiben zu widmen. Denn es kann sich alles wiederholen. »Wir sind wieder dabei, Worte des Hasses, der Spaltung, der Abschottung zuzulassen. Wenn ich sie aus dem Munde von Politikern höre, verschlägt es mir den Atem. Hier, in meinem Europa, zu Hause, immer noch diese schrecklichen Worte. Gerade jetzt, in Momenten wie diesen, kann die Dunkelheit wieder über uns hereinbrechen.«
Lidia Maksymowicz, 1940 geboren, wurde Ende 1943 zusammen mit ihrer Mutter, einem Bruder und den Großeltern aus Belarus nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Von Dezember 1943 bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 verbrachte sie 13 Monate in der »Kinderbaracke« des KZ, wo sie den Menschenversuchen von Josef Mengele ausgesetzt war. Trotzdem überlebte sie das Konzentrationslager so lange wie kein anderes Kind. Erst 1962, 17 Jahre nach der Befreiung, fand sie ihre Mutter wieder. Lidia Maksymowicz lebt heute in Krakau.
WENIGE ERINNERUNGSFETZEN. WIE BLITZE, DIE IM Dunkel einer fernen Nacht aufflackern und verschwinden, weit weg in der Zeit und doch nah, so nah, als wäre es gestern gewesen. Sie begleiten mich seit Jahrzehnten, seit man mich mit meiner Mutter ins Konzentrationslager deportiert hat.
Ich bin fast vier Jahre alt, sie ist zweiundzwanzig.
Sie hält mich im Arm, als wir am Gleis von Birkenau aussteigen. Es ist Dezember 1943. Und es herrscht bittere Kälte. Der Schnee fällt wie Eis. Ringsumher nichts als Ödnis. Ich schaue auf den rotbraunen Waggon, in dem wir tagelang eingepfercht gefahren sind, die Beine längst taub, dazu das Gefühl, jeden Moment ersticken zu müssen. Fast übermächtig nun der Drang, ihn wieder zu besteigen. Eben noch wollte ich nur raus, nach Sauerstoff gierend, nach Luft. Jetzt nicht mehr, jetzt will ich wieder hinein. Will nur zurück. Will heim.
Ich erinnere mich an Arme, die mich fest umschlingen. Meine Mutter, die mir das Gesicht verhüllt. Oder bin ich es, die ihr Gesicht vergraben will an ihrer Brust, die nach der schier endlosen Reise ganz eingefallen ist? Ununterbrochen hat der Zug beschleunigt und verlangsamt. Nicht enden wollende Zwischenhalte vor unbekannten Landschaften.
Deutsche Soldaten teilen die Neuankömmlinge in zwei Reihen auf. Ein paar Dutzend Meter hinter uns, auf einem aus Ziegeln erbauten Turm, stehen Wachsoldaten. Wir landen in der rechten Reihe. Viele andere in der linken, ausgelesen unter den Ältesten, wahrscheinlich erachtet man sie als die Gebrechlichsten und Schwächsten. Wenige Anhaltspunkte lassen erahnen, wie es ausgehen wird. Es gibt keine Worte, nur Resignation. Für jegliches Aufbegehren fehlt die Energie. Es fehlt die Kraft für die Durchsetzung jedweder Art von Rebellion.
Ich stinke, meine Mutter stinkt auch. Es stinken auch alle anderen, die gerade aus dem Zug gestiegen sind. Und doch ist dieser Geruch das einzig Freundliche, das einzig Vertraute in einer fremden Welt. Wo sind wir? Niemand spricht, niemand bietet Erklärungen an. Wir sind einfach hier.
Das Gebell der Hunde ist etwas, das ich nie vergessen habe. Noch heute, wenn auf der Straße ein Hund bellt, schnellen die Gedanken hierher zurück, auf diese inmitten von Schnee und Wind treibende Rampe, während die Soldaten ihre Befehle kläffen. Oft kehren die SS – ich werde lernen, sie so zu nennen – im Schlaf zurück, in Träumen, die real erscheinen. Die mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf schrecken lassen, schweißgebadet, verängstigt, zitternd. Sie schreien, ohne dass ich den Sinn ihrer Worte verstehe. Und dann das Spucken, das höhnische Gelächter, die Blicke voller Hass.
Die Tiere werden an der Leine gehalten. Sie schäumen aus dem Maul, aufgehetzt durch die Ruten der Deutschen. Es macht ihnen Spaß, sie auf uns zuzutreiben, und sie blecken ihre Zähne, stellen sich auf die Hinterbeine, ohne zu merken, dass die Beute vor ihnen sich bereits ergeben hat. Sie ist längst tot.
Mit Gewalt wird meine Mutter von mir getrennt. So wie andere Mütter von anderen Kindern. Schreie und Tränen. Sie wird weggebracht, ich weiß nicht, wohin. Kurze Zeit später sehe ich sie wieder, kahl rasiert und vollständig nackt. Sie hat kein einziges Haar mehr. Aber sie umarmt mich trotzdem. Und sie lächelt. Ich erinnere mich, sie lächelt mich an, als wolle sie sagen: Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung. Ich frage sie: Wo sind deine Zöpfe geblieben? Sie antwortet nicht. Und die Großeltern? Wo sind die Großeltern geblieben? Und wieder bekomme ich keine Antwort.
Wir schauen zum hinteren Ende des Lagers. Schwarzer Rauch quillt aus zwei Schornsteinen. Später erfahre ich, dass sie den Flammen als Abzug dienen, die in den Öfen der Krematorien lodern. Ruß, der den Himmel verdunkelt. Ruß, der sich, so sagt man mir später, kilometerweit in den Lungen der hier lebenden polnischen Bevölkerung festsetzt, bis hinter Oświęcim, noch jenseits der Weichsel. Gestank von verbranntem Fleisch. Der Geruch von Tod. Wir sagen nichts. Niemand sagt etwas. Auch die Polen atmen widerstandslos ein. Wir und sie erahnen alles. Die Großeltern sind nicht mehr.
Hinter den Schornsteinen der Stacheldraht. Hinter dem Stacheldraht kahle Bäume. Eine Lichtung erstreckt sich, ich weiß nicht, wie weit. Dort draußen möchte ich sein, der Freiheit entgegenlaufen, weit, so weit wie möglich. Die Freiheit ist so nah und zugleich so unerreichbar. Es sind nur ein paar Meter. Doch näher heranzukommen, ist unmöglich. Sie sagen mir, jemand habe versucht hinüberzuklettern. Er bekam einen Stromschlag, war sofort tot. Andere wurden, nur noch wenige Schritte vor der Freiheit, von den Salven der Maschinengewehre niedergestreckt.
Heute habe ich Mühe, in Einzelheiten zu rekonstruieren, was mir widerfahren ist. Mit über achtzig Jahren vermag ich nicht mehr zu sagen, ob die aufblitzenden Bilder, die mir wie scharfe Klingen ins Gedächtnis fahren, von etwas herrühren, das ich tatsächlich erlebt habe, oder von den Erzählungen der Freunde, die ein paar Jahre älter sind als ich, und mir später vom gemeinsam Erlebten berichtet haben. Die einzige Gewissheit ist, dass ich dort war – ich bin dort gewesen. Meine Erinnerungen und die Erzählungen der anderen überlagern sich, bis sie, ineinander verschlungen, eins werden. Und ich vermag nicht mehr genau auseinanderzuhalten, was das Meine ist und was das Ihre. Ändern kann ich es nicht. Es ist nun einmal so.
Ich komme ins Lager, als ich noch ganz klein bin. Ich verlasse es, als ich mein fünftes Lebensjahr vollendet habe und auf das sechste zugehe. Ich gehöre zu den Kindern, die am längsten dort drinnen waren, bin vielleicht eines der jüngsten, die es geschafft haben, davonzukommen, am Leben zu bleiben. Manchmal frage ich mich, ob ich damals zu klein war, um heute etwas erzählen zu können. Es ist nicht leicht, hierauf eine Antwort zu geben. Fraglos hinterlassen dreizehn Monate Birkenau in jedem Alter tiefe Spuren. Jene Tage, Monate, Jahre sind eine Wunde, die seither in mir fortbrennt und mich, wie ich weiß, bis ans Ende meiner Tage begleiten wird. Ohnehin verstärkt die Tatsache, dass ich mich nicht haarklein an alles erinnere, den Schmerz dieser Verletzung, ihr Ausmaß. Nicht alle erlittenen Misshandlungen sind mir voll bewusst. Und doch hat es sie gegeben. Und doch sind sie da. Sie leben in mir, in meinem Unterbewusstsein, fort. Sind meine Wegbegleiter. Sperrig und präsent zugleich. Sie bedingen meine Tage. Mein Schweigen. Mein Lächeln, gefolgt von Momenten der Traurigkeit. Birkenau stirbt nie. Birkenau ist unauslöschlicher Teil derer, die es durchgemacht haben. Es ist ein Ungeheuer, das nicht aufhören will zu reden, seine unaussprechliche Erfahrung mitteilen zu wollen.
Mir wird das erst nachträglich klar, mit jeder Begegnung, bei der ich aufgerufen bin, Zeugnis abzulegen, überall auf der Welt zu berichten, was geschehen ist. Jedes Mal ertappe ich mich dabei, etwas zu sagen, das ich so noch nie gesagt habe. Tief in meinem Verstand vergrabene Fragmente werden hochgeschwemmt, finden neue Worte und überraschen vor allem mich selbst, aber auch meine Familie und die Menschen, die mir zugetan sind. Das hast du uns nie erzählt! Ich weiß, antworte ich. Es war immer da und hat jetzt erst seinen Weg nach draußen gefunden. Ich glaube, der wahre Grund dafür ist der Umstand, dass ich in Birkenau ein Kind war. Kinder speichern alles, manches verheimlichen sie, manches bringen sie durcheinander, aber sie vergessen nichts. Niemals. Und mit dem Heranwachsen durchleben sie, was ihnen widerfahren ist, erneut und mit neuem Bewusstsein. Was der Verstand vergräbt, stirbt nicht, es lebt fort. Und erwacht mit der Zeit zu neuem Leben. Volles Bewusstsein über die erlittenen Misshandlungen erlangt man erst Jahre später, bisweilen erst nach Jahrzehnten. So ist es bei vielen. So ist es auch bei mir.
Was mir angetan worden ist in jenen langen Monaten der Gefangenschaft? Der Körper hat es durchlebt, der Verstand hat es abgespeichert, dann aber auch begraben. Nur um wieder etwas freizugegeben, Jahr für Jahr, wie das Meer sein Treibgut.
Mein Geist – oft denke ich über ihn nach. Ich vergleiche ihn mit einem uralten, gemächlich dahinschmelzenden Gletscher. In Birkenau legte sich die große Kälte über alles, Emotionen, Gefühle, Worte. Dann, ganz langsam, wich der Frost anderen Jahreszeiten. Die Außentemperaturen wurden allmählich milder. Und was einst bedeckt war, kehrt nun zurück ans Licht.
Mit all dem zurechtzukommen, ist nicht leicht. Es ist eine Lebensaufgabe. Hart, aber zugleich unverzichtbar. Sicher, ich tue das für mich selbst. Aber ich tue es auch für andere, für Freunde, Bekannte, für Freunde von Freunden, für solche, die ich zwar nicht kenne, aber die zur selben Menschenfamilie gehören wie ich. Ich will klar und deutlich sagen, was ich denke. Die Dunkelheit der Lager lässt sich nicht ein für alle Mal zu den Akten legen. Der Hass, der jene Todesfabriken genährt hat, lauert beständig, kann immer wieder aufflackern. Es gilt, wachsam zu sein, vor allem durch ein Erinnern an das, was gewesen ist, und durch die Berichte darüber. Wofür waren sie sonst gut, die Winter der Todeslager? Wofür, wenn nicht dazu, der Menschheit ihre dunkelste Seite bewusst zu machen und alles zu tun, damit sich diese Seite nicht wieder erheben kann, dass sie nicht wieder eine Stimme bekommt, eine Staatsbürgerschaft, neue Energie und Lebenssaft. Was nützt Birkenau, was all die Vernichtungslager, wenn sie nicht dafür sorgen, dass diese Finsternis uns...
Erscheint lt. Verlag | 11.1.2024 |
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Zusatzinfo | mit Bildteil |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | La bambina che non sapeva odiare |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 2024 • 2. Weltkrieg • Auschwitz • Auschwitz Überlebende • Befreiung Konzentrationslager • Biografie • Biographien • eBooks • faschismus (bücher) • Geschichte • Holocaust • Holocaust Biografien • Holocaust-Überlebende • Josef Mengele • judenverfolgung und holocaust • Kinder Zweiter Weltkrieg • kind memoir konzentrationslager • mädchen memoir auschwitz • Memoir • muttertochter • Neuerscheinung • NS-Verbrechen • Papst Franziskus • Schoah • schullektüre holocaust • Tova Friedman • Überlebensbiografien • Weltkrieg • zeitzeugin holocaust • zweiter weltkrieg (bücher) |
ISBN-10 | 3-641-31373-2 / 3641313732 |
ISBN-13 | 978-3-641-31373-9 / 9783641313739 |
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