Am Meer (eBook)
288 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-30698-4 (ISBN)
Elizabeth Strout schreibt die Geschichte von Lucy Barton weiter, ihrer feinsinnigen, von den Härten des Lebens nicht immer verschonten Heldin. Mit ihrem Ex-Mann William sucht sie während des Lockdowns Zuflucht in Maine, in einem alten Haus am Meer. Eine unvergessliche Geschichte über Familie und Freundschaft, die Zerbrechlichkeit unserer Existenz und die Hoffnung, die uns am Leben erhält, selbst wenn die Welt aus den Fugen gerät.
Sie hatte es so wenig kommen sehen wie die meisten. Lucy Barton, erfolgreiche Schriftstellerin und Mutter zweier erwachsener Töchter, erhält im März 2020 einen Anruf von ihrem Ex-Mann - und immer noch besten Freund - William. Er bittet sie, ihren Koffer zu packen und mit ihm New York zu verlassen. In Maine hat er für sie beide ein Küstenhaus gemietet, auf einer abgelegenen Landzunge, weit weg von allem. Nur für ein paar Wochen wollen sie anfangs dort sein. Doch aus Wochen werden Monate, in denen Lucy und William und ihre komplizierte Vergangenheit zusammen sind in dem einsamen Haus am Meer.
Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren. Sie zählt zu den großen amerikanischen Erzählstimmen der Gegenwart. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. Für ihren Roman »Mit Blick aufs Meer« erhielt sie den Pulitzerpreis. »Oh, William!« und »Die Unvollkommenheit der Liebe« waren für den Man Booker Prize nominiert. »Alles ist möglich« wurde mit dem Story Prize ausgezeichnet. 2022 wurde sie für ihr Gesamtwerk mit dem Siegfried Lenz Preis ausgezeichnet. Elizabeth Strout lebt in Maine und in New York City.
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I
1
Ich hatte es so wenig kommen sehen wie die meisten.
Aber William ist Naturwissenschaftler, und er sah es kommen; ihn überrumpelte es nicht so wie mich, das meine ich damit.
* * *
William ist mein erster Mann; wir waren zwanzig Jahre verheiratet und sind etwa ebenso lange geschieden. Wir stehen gut miteinander, ich habe mich all die Jahre hindurch immer wieder mit ihm getroffen; wir waren als Jungverheiratete zusammen nach New York gezogen und beide dort wohnen geblieben. Aber weil mein (zweiter) Mann gestorben und William von seiner (dritten) Frau verlassen worden war, hatte ich ihn im letzten Jahr öfter gesehen.
Etwa um die Zeit, als seine dritte Frau ihn verließ, entdeckte William, dass er eine Halbschwester in Maine hatte; er erfuhr von ihr durch ein Ahnenforschungsportal. Er hatte sich zeitlebens für ein Einzelkind gehalten, deshalb war die Erkenntnis ein ziemlicher Schock, und er bat mich, mit ihm für zwei Tage nach Maine zu fahren, um sie zu suchen. Wir fanden sie auch, doch die Frau – Lois Bubar heißt sie –, Lois Bubar also sprach zwar mit mir, zu ihm wollte sie jedoch keinen Kontakt, und das war sehr schmerzhaft für ihn. Auf dieser Reise nach Maine kamen außerdem Dinge über seine Mutter ans Licht, die ihn tief bestürzten. Sie bestürzten auch mich.
Seine Mutter war in bitterster Armut groß geworden, fanden wir heraus, in noch schlimmeren Verhältnissen als ich.
Jedenfalls fragte mich William zwei Monate nach unserem Ausflug nach Maine, ob ich ihn nach Grand Cayman begleiten würde. Auf den Kaimaninseln waren wir vor vielen, vielen Jahren mit seiner Mutter gewesen, Catherine, und als unsere Töchter klein waren, hatten wir einige Male mit ihnen und Catherine dort Urlaub gemacht. An dem Tag, als er bei mir ankam und fragte, ob ich mitkommen wolle, hatte er seinen riesigen Schnauzbart abrasiert und sein dichtes weißes Haar ganz kurz schneiden lassen – und erst später begriff ich, dass dies seine Reaktion auf die Abfuhr durch Lois Bubar sein musste, und auf die Enthüllungen über seine Mutter. Er war schon einundsiebzig, aber irgendwie stürzte ihn all das offenbar in eine Art Midlife- oder wohl eher Alterskrise: seine weitaus jüngere Frau war ausgezogen und hatte die gemeinsame zehnjährige Tochter mitgenommen, seine Halbschwester wollte nichts von ihm wissen, und nun war auch noch seine Mutter nicht die, als die er sie gekannt hatte.
Ich kam mit. Ich flog mit ihm Anfang Oktober für drei Tage nach Grand Cayman.
Und es war seltsam, aber nett. Wir hatten getrennte Zimmer, und wir gingen behutsam miteinander um. William war schweigsamer als sonst, und es war ungewohnt, ihn ohne seinen Schnauzbart zu sehen. Aber ein paarmal warf er doch den Kopf zurück und lachte laut auf. Beide nahmen wir sehr viel Rücksicht aufeinander, und so war es ein bisschen ungewohnt, aber nett.
Als wir zurück nach New York kamen, fehlte er mir. Und mir fehlte David, mein verstorbener zweiter Mann.
Mein Gott, fehlten sie mir beide, vor allem David. Meine Wohnung war so still!
* * *
Ich bin Schriftstellerin, und in diesem Herbst erschien ein neues Buch von mir, darum warteten nach unserer Rückkehr von Grand Cayman Leseauftritte im ganzen Land auf mich, die ich absolvierte; das war Ende Oktober. Für die erste Märzhälfte standen Termine in Italien und Deutschland auf dem Programm, aber Anfang Dezember – es wunderte mich selbst – beschloss ich, sie abzusagen. Ich sage nie Lesereisen ab, und die Verlage waren nicht eben erfreut, doch ich blieb dabei. Als der März näher rückte, sagte jemand: »Wie gut, dass du nicht nach Italien gefahren bist, da haben sie diesen Virus.« Und das war das erste Mal, dass ich Notiz davon nahm. Jedenfalls glaube ich das. Dass New York irgendwann betroffen sein könnte, kam mir nicht in den Sinn.
Aber William schon.
2
Wie ich später erfuhr, hatte William in der ersten Märzwoche unsere Töchter Chrissy und Becka angerufen und sie gebeten – förmlich angefleht – aus New York wegzugehen. Sie lebten beide in Brooklyn. »Und sagt eurer Mutter noch nichts davon, aber hört bitte auf mich. Ich bringe es ihr selber bei.« Also hatten sie mir nichts gesagt. Was interessant ist, denn ich bilde mir ein, eine enge Beziehung zu unseren Töchtern zu haben, enger als William, hätte ich gedacht. Aber sie nahmen ihn ernst. Chrissys Mann Michael, der Banker ist, nahm ihn sogar sehr ernst, und er und Chrissy beschlossen, fürs Erste in das Haus von Michaels Eltern in Connecticut zu ziehen – seine Eltern waren in Florida, darum stand das Haus leer –, aber Becka sträubte sich. Ihr Mann wolle nicht aus der Stadt weg, sagte sie. Und beide Mädchen wollten, dass ich von den Plänen erfuhr, und ihr Vater sagte zu ihnen: »Das übernehme ich schon, versprochen, aber macht bitte, dass ihr aus der Stadt kommt.«
Eine Woche später rief William mich an und erzählte es mir, und ich hatte keine Angst, es verwirrte mich nur alles. »Und sie ziehen allen Ernstes aufs Land?«, fragte ich, Chrissy und Michael, meinte ich, und William sagte Ja. »Bald werden alle von zu Hause aus arbeiten«, sagte er, und auch das verwirrte mich. Er fügte hinzu: »Michael ist Asthmatiker, da muss er besonders aufpassen.«
Ich sagte: »Aber er hat ja kein schweres Asthma«, und William schwieg einen Moment und sagte dann: »Wie du meinst, Lucy.«
Dann erzählte er mir, dass sein alter Freund Jerry mit dem Virus infiziert war und künstlich beatmet wurde. Jerrys Frau sei ebenfalls krank, allerdings nicht im Krankenhaus. »Ach, Pill, das tut mir so leid«, sagte ich, doch die volle Tragweite dessen, was da geschah, ging mir nicht auf.
Merkwürdig, wie das Hirn sich weigert, gewisse Dinge aufzunehmen, bis es bereit dafür ist.
Am Tag darauf rief William an und sagte mir, Jerry sei gestorben. »Lucy, lass mich dich aus der Stadt rausbringen. Du bist nicht mehr jung und sowieso viel zu mager, und Sport treibst du auch nicht. Du bist gefährdet. Ich hole dich ab, und wir fahren, ja?« Er ergänzte: »Nur für ein paar Wochen.«
»Aber was ist mit Jerrys Beerdigung?«, fragte ich.
Und William sagte: »Es gibt keine Beerdigung, Lucy. Wir … wir haben eine echte Krise.«
»Was heißt ›aus der Stadt raus‹?«, fragte ich.
»Aus der Stadt raus«, sagte er.
Ich sagte ihm, dass ich Dinge zu erledigen hätte, ich hatte einen Termin bei meinem Steuerberater, und zum Friseur wollte ich auch. William sagte, ich solle mir beim Steuerberater einen früheren Termin geben lassen und den Friseur absagen und in zwei Tagen reisefertig sein.
Ich konnte nicht glauben, dass Jerry tot war. Das meine ich wörtlich: Ich sah mich außerstande, es zu glauben. Ich hatte Jerry viele Jahre nicht mehr gesehen, vielleicht rührten meine Schwierigkeiten auch daher. Aber dass Jerry tot war, wollte mir nicht in den Kopf. Er war einer der Ersten in New York City, die an der Krankheit starben; das wusste ich zu der Zeit noch nicht.
Aber ich verlegte meinen Termin beim Steuerberater vor und den Friseurtermin auch, und als ich zu meinem Steuerberater ging, fuhr ich mit dem kleinen Lift hoch zu seinem Büro, der Lift hält auf jeder Etage (die Kanzlei liegt im vierzehnten Stock), und Leute drängen sich herein, Pappbecher mit Kaffee in der Hand, und schauen auf ihre Schuhe, bis sie wieder aussteigen, Stockwerk für Stockwerk. Mein Steuerberater ist ein großer, korpulenter Mann, wir sind beide gleich alt, und wir mochten uns von der ersten Sekunde an. Wir haben keinen privaten Umgang, deshalb klingt das vielleicht merkwürdig, aber er gehört zu meinen absoluten Lieblingsmenschen, er war so unsagbar gut zu mir über die Jahre. Als ich in sein Zimmer trat, sagte er: »Abstand« und winkte mir zu, und ich begriff, dass wir uns nicht umarmen würden wie sonst immer. Er witzelte über die Krankheit, aber ich merkte ihm an, dass er nervös deswegen war. Als wir mit allem durch waren, sagte er: »Wollen Sie vielleicht den Lastenaufzug nehmen, ich zeige Ihnen, wo er ist. Da wären Sie allein drin.« Ich war erstaunt und sagte, nein, nein, nicht nötig. Er wartete kurz, und dann sagte er: »Na gut. Adieu, Lucy B.«, und warf mir eine Kusshand zu, und ich fuhr mit dem normalen Aufzug nach unten. »Dann sehen wir uns Ende des Jahres«, sagte ich zu ihm, ich höre mich das noch sagen. Und dann stieg ich in die U-Bahn und fuhr zum Friseur.
Mit der Frau, die mir die Haare tönt, bin ich nie warm geworden. Ihre Vorgängerin, bei der ich jahrelang war, liebte ich heiß und innig, aber sie ist nach Kalifornien gezogen, und diese neue Frau – nein, sie war mir einfach unsympathisch. Und das war sie an diesem Tag auch wieder. Sie war jung und hatte ein kleines Kind und einen neuen Freund, und mir wurde an dem Tag klar, dass sie ihr Kind nicht liebte, sie war kalt, und ich dachte: Zu dir gehe ich nie mehr.
Ich weiß noch genau, wie ich das dachte.
Als ich nach Hause zurückkam, traf ich im Lift einen Mann, der sagte, er hätte gerade in den Fitnessraum im ersten Stock gehen wollen, doch der sei zu. Er klang ganz verwundert. »Wegen diesem Virus«, sagte er.
* * *
Am Abend rief William an und sagte: »Lucy, ich hole dich morgen früh ab, und wir fahren.«
Es war sonderbar; richtig beunruhigt war ich nicht, eher überrascht von seiner Beharrlichkeit. »Wohin denn überhaupt?«, fragte ich.
Und er sagte: »An die Küste von Maine.«
»Maine?«, sagte ich. »Machst du Witze? Wir fahren wieder nach Maine?«
»Ich erklär’s dir später«, sagte er. »Könntest du bitte einfach morgen früh fertig...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2024 |
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Reihe/Serie | Die Lucy-Barton-Romane |
Übersetzer | Sabine Roth |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Lucy by the Sea |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Amerikanische Literatur • die lucy barton romane 4 • eBooks • Ehe • Familie • Freundschaft • lucy barton 4 • Maine • Meer • Neuerscheinung • New York • New York Times Bestseller • Olive Kitteridge • Pulitzerpreisträgerin • Roman • Romane • Spiegel-Bestsellerautorin |
ISBN-10 | 3-641-30698-1 / 3641306981 |
ISBN-13 | 978-3-641-30698-4 / 9783641306984 |
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