Die Gabe (eBook)
300 Seiten
Parlez Verlag
978-3-86327-080-3 (ISBN)
Ava Lucason liebt es, Geschichten zu erzählen, die so sind, wie das Leben selbst - angefüllt mit Gefühlen, dem Schönen und der Sinnlichkeit. Mit ihren Worten sprengt sie die Fesseln der Konventionen und führt die Lesenden in eine grenzenlose Freiheit, in der kein Traum ungeträumt bleibt. Da Träume ohne Realität jedoch an Farbe verlieren, genießt sie ganz bodenständig auch die kleinen Dinge des Lebens: Spaziergänge mit ihrem Mann und leckeren Kaffee im Garten ihres bezaubernden Fachwerkhauses.
Zwischen Büchern
„Kannst du mir die Rückgaben abnehmen?“
„Klar.“ Kari nickt. Ihr Blick schweift über Helenes Wagen, auf dem zurückgegebene Bücher in zwei ordentlichen Reihen warten, an ihre angestammten Plätze gebracht zu werden.
„Danke. Du weißt schon, das Date ...“, wispert Helene.
Natürlich hat Kari das nicht vergessen. Seit zwei Wochen redet Helene von nichts anderem, denn dieses Mal soll es der einzig Wahre, der Mann fürs Leben sein.
„Ja, ja, alles gut. Ich mache nur schnell meinen Wagen leer, dann übernehme ich hier vorne.“
Helenes dankbares Lächeln belohnt Kari für etwas, das ihr nicht unangenehm ist. Die letzte Stunde in der Bibliothek hat einen ganz eigenen Charme. Am Ausgabetresen gibt es nur wenig zu tun, aus der geschäftigen Ruhe wird Stille und meist bietet sich die Gelegenheit, sich hinzusetzen und zu lesen.
„Gib mir eine halbe Stunde, ich hole mir noch was zu lesen aus der Philosophenecke“, schließt Kari den Deal ab und ignoriert Helenes Augenrollen. Die Unterschiede in ihrem Büchergeschmack sind längst bekannt und ausdiskutiert.
Die Philosophenecke liegt weit abgelegen, am Ende eines verwinkelten Gangs. Oberhalb der Regalreihen mit den wichtigsten philosophischen Werken sind die Schriften voller Lüsternheit aus mehreren Jahrhunderten deutlich über Augenhöhe einsortiert. Entweder trifft man hier Studierende der Philosophie, die den oberen Regalen keine Beachtung schenken, oder die Eingeweihten, die die erotischen Perlen der Literatur erkunden.
Auf dem Weg dorthin stellt Kari zwei Romane und einen Architektur-Bildband in ihre Regalheimat zurück. Dabei fällt ihr ein junger Mann auf, der ein wenig unsicher durch die langen Reihen geht. Was er wohl sucht? Der legeren Kleidung nach könnte er ein Studenten-Neuling sein. Ein ausnehmend gut aussehender noch dazu.
Wenig später entdeckt ihn Kari wieder auf der Leiter in der Philosophenecke. Mit geneigtem Kopf studiert er die Buchrücken. Sie bleibt am Ende des Gangs stehen und beobachtet, wie er ein Werk herauszieht. Das Titelbild verrät ihr, dass er sich für einen Band mit erotischen Gedichten entschieden hat. Behutsam fährt er mit dem Finger über den Leineneinband und den leicht erhabenen Buchtitel. Eine Geste, die Kari von sich selbst kennt. Es hat etwas mit Kennenlernen und Annäherung zu tun.
Kari möchte nicht stören, darum geht sie eine weitere Runde in der Hoffnung, dass er sich entschieden hat, bis sie wieder zurückkommt. Sie bringt Kinderbücher in ihr quirlig buntes Zuhause und zwängt den Andalusienreiseführer zwischen ‚Anatolische Impressionen‘ und ‚Apulien‘.
Beim erneuten Versuch, eine prickelnde Lektüre für die letzte Stunde zu ergattern, findet sie den Studenten noch immer auf der Leiter. Er hat sich offensichtlich in der Erotiksammlung festgelesen. Seine Körperspannung verrät Konzentration, seine markanten Gesichtszüge geben ihm etwas Ernstes und seine gebräunte Haut etwas Südländisches. Die halblangen, dunkelbraunen Haare hat er hinter die Ohren geschoben.
Als sie in seinem Blickfeld auftaucht, klappt er das Buch schnell zu und klettert wie auf frischer Tat ertappt die Leiter herunter, während er den Einband unauffällig zu verbergen sucht. Kari kann sich ein Schmunzeln nur mühsam verkneifen. Zumindest traut er sich an erotische Lektüre heran und lehnt sie nicht ungelesen von vornherein ab, so wie Helene. Kari will nicht länger verweilen als nötig, murmelt kurz eine Entschuldigung und streckt sich nach irgendeinem der Sammelbände mit erotischen Kurzgeschichten. Leider kein besonders guter Griff. Auf dem Cover ist eine schlanke Blondine in Tiger-Lilly-Unterwäsche abgebildet. Nicht gerade das, was Kari gerne liest. Meist sind die Sammlungen mit den eindeutigen Bildern weder inspirierend noch originell und strotzen vor Plattitüden. Aber im Augenwinkel kann sie erkennen, wie der junge Mann schamhaft sein Buch vor den Bauch hält, während er sich krampfhaft für Kant und Kautsky interessiert.
Bloß nicht vergraulen! Dieser Erotiksucher ist nicht nur ein scheues Exemplar, er hat auch etwas Besonderes. Irgendetwas bringt er in ihr zum Schwingen. Liegt es an der Fragilität, die seine Schüchternheit ausstrahlt? Oder ist es die Art, wie er sich bewegt? Vorsichtig und behutsam, als würde er allem eine besondere Bedeutung beimessen.
Zusammen mit der Sammlung aus erotischen Vorhersehbarkeiten verlässt sie die stille Nische. Warum schämen sich Menschen für ihre Lust? Wie schön wäre es, wenn mehr Menschen einen unbefangenen Umgang mit erotischer Literatur hätten. Ob der Schüchterne seine Scham überwinden und das Buch, an dem er sich festkrallt, mitnehmen wird? Spätestens bei Dienstende wird sie es wissen. Ob er Frauen genauso berührt wie das Buch? Vielleicht ein Grund, sich seine Telefonnummer zu erbitten?
Kari hält kurz inne. Wie lange ist es her, dass sie sich eine Telefonnummer besorgen wollte, dass Erotisches mehr als nur Lesestoff für sie sein könnte? Was hat Helene neulich gesagt? ‚Wenn du nicht langsam die alten Geschichten abschließt, wirst du noch als alte Jungfer enden.‘ Ja, sie hat wohl recht. Wobei die Geschichte, die Helene meinte, erst ein Jahr her ist. Doch Kari ist sich bewusst, dass eine noch viel ältere Geschichte das Problem ist. Nicht das ungute Ende der Beziehung mit Tom, sondern der Satz den sie mit der Muttermilch eingesogen und als Garnierung zu den Aussteuergeschenken zur Firmung, zum 18. Geburtstag, zum Abitur, eigentlich zu allen erdenklichen Anlässen zu hören bekam: „Wenn du erst den Richtigen gefunden hast, wird sich der Rest auch finden.“
Zuerst klang es für sie nach einer hoffnungsfrohen Perspektive. Wie eine Gebrauchsanweisung mit einer klaren Reihenfolge. Finde den Richtigen, dann wird am Ende alles gut. Mit weiteren Wiederholungen zeigte sich der Satz von einer bedrohlichen Seite: Erst wenn du den Richtigen gefunden hast, wird alles gut. Wenn-dann. Wenn nicht, dann wird es auch nicht gut ausgehen. Erst als sich Tom vor gut einem Jahr von ihr trennte, entfaltete der gut gemeinte Ratschlag seine bösartige Wirkung in vollem Umfang. Was war damit gemeint, dass sich der Rest auch finden würde? Was meinte ihre Mutter, wenn sie das sagte? Mit dem Rest konnte sie nur all das meinen, was sie immer an ihr kritisierte. Das Verträumte, das Unkonzentrierte, die Fantasie, die ihre Mutter für unangebracht hielt. Als wäre ihre Tochter wunderlich, seltsam, zumindest B-Ware, die es gilt unter die Haube zu bekommen, ohne dass der Bräutigam etwas von all ihren Wunderlichkeiten merkt. Oder hatte sie tatsächlich die Vorstellung, dass eine Ehe ihr die Flausen austreiben würde? Tom hatte jedenfalls nicht durchgehalten. Vermutlich lag es genau an diesem „Rest“.
Am Tresen angekommen, erhält Kari den erwarteten Rüffel.
„Wenn du schon diesen Schmuddelkram liest – hättest du dir nicht ein etwas weniger auffälliges Cover nehmen können?“, zischt Helene.
„Nein, hätte ich nicht. In der Philosophenecke steht ein äußerst gut aussehender Kerl, den wollte ich nicht verschrecken. Deshalb habe ich mir nur schnell irgendwas genommen“, verteidigt Kari sich.
„Höre ich da Interesse raus? Versau es bloß nicht mit deiner ... also mit deiner Offenheit. Männer mögen das nicht. Okay?“
Kari ist verwirrt. Wie meint sie das? Erst soll sie sich von den alten Geschichten lösen und auf die Suche nach einem Mann machen, doch dann soll sie nicht offen sein. Ja was denn nun? Aber Helene hat den Ausgabetresen bereits verlassen.
Hat es etwa mit dem „Rest“ zu tun, den ihre Mutter meinte? Immerhin passen Helenes Mäkeleien in diese Richtung. Sie meint, man sollte seine Gefühle möglichst für sich behalten, Erregendes sei nur im Schlafzimmer schicklich, darüber reden sei unpassend und darüber schreiben vollkommen überflüssig. Mit dieser steinzeitlichen Sichtweise könnten Helene und ihre Mutter beste Freundinnen werden. Apropos Mutter, die sollte sie anrufen. Das mit der Familiensache schien Tante Mia wichtig zu sein. Heute Abend will sie sich überwinden.
Wie vermutet, ist wenig los und Zeit zum Lesen. Kari nimmt sich vor, über die Schwächen des Buches hinwegzusehen und das Gute zu finden. Und siehe da, zwischen Formulierungsschwächen und Rechtschreibfehlern findet sich die eindrucksvoll sinnliche Beschreibung eines Paares, das sich auf einer Lichtung im Wald liebt. Die abendlichen Sonnenstrahlen, die durch das Geäst fallen, sind Zeugen des Geschehens. Sie wärmen die Leiber, gleiten über die Haut und schützen die Szene mit einer Hülle aus reinem Licht.
Die Sehnsucht nach lustvoller Berührung kriecht Kari in die Glieder. Sie hebt den Blick. Das Licht der tief stehenden Spätsommersonne fällt warm durch die Oberlichter der Eingangshalle. Die große Wanduhr zeigt an, dass sie die automatische Durchsage vor der Schließung überhört hat und der Student ohne Ausleihe gegangen ist. Bedauerlich.
Kari sperrt die Eingangstür ab und macht sich mit Helenes Bücherwagen auf ihre letzte Runde. Er ist gut sortiert und schnell ausgeräumt. Zum Schluss führt sie ihr Weg in die Philosophenecke, um die Tiger-Lilly zurückzubringen – für einen einsamen Abend muss ein besseres Buch her. Schwungvoll biegt sie um die Ecke und rempelt fast den Studenten um, der an das Regal gelehnt, fasziniert in einer Erotiksammlung liest. Vor Schreck lässt er das Buch fallen.
„Holla!“, entfährt es Kari.
In einem gemeinsamen Reflex bücken sie sich beide nach dem Buch. Kari zieht die Hand rasch zurück und lässt ihm den Vortritt:
„Eine meiner Lieblingssammlungen kann ich empfehlen“, redet sie drauflos, um ihre Verwirrung zu überspielen....
Erscheint lt. Verlag | 23.6.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-86327-080-0 / 3863270800 |
ISBN-13 | 978-3-86327-080-3 / 9783863270803 |
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