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Man möchte doch jetzt noch nicht sterben! -

Man möchte doch jetzt noch nicht sterben! (eBook)

Briefe über das Leben und Überleben in Nachkriegsdeutschland 1945/46

Stefan Heikens (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
196 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7562-9702-3 (ISBN)
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'Es ist alles so schrecklich, auch die armen Ost-Flüchtlinge sind zu bedauern. Nun wird unser restliches Deutschland, was schon die Menschen bisher nicht ernähren konnte, mit den Ausgewiesenen vollgestopft, wo soll da mal ein Aufstieg möglich sein, wir sind zweihundert Jahre zurück- geworfen. Weshalb schneiden sie nun überall Teile von Deutschland ab, können Sie uns denn nun nicht Gelegenheit geben, uns wirklich auf demokratischer Grundlage in die übrige Welt einzugliedern, so ist doch alles wieder schlimm und kein Ende abzusehen.' Hunger, Zonengrenzen und Perspektivlosigkeit bestimmen den Alltag fast aller Deutschen im ersten Nachkriegswinter. Wer lebt und wer stirbt, das entscheiden oft nur noch der Zufall oder die Verbindungen, die man eben hat; so wie auch bei den Eheleuten Freimann. In den hier vorliegenden authentischen Briefen an ihren Sohn erfahren wir fast alles über ihre Not, den Alltag und auch die tägliche Angst vor dem Tod, noch lange nach dem das Schießen bereits aufgehört hat.

H., 27.10.45

Mein lieber Junge!

Das war heute ein Freudentag, wir sprachen schon täglich davon, dass wir so gern von Dir persönlich ein Lebenszeichen erhalten möchten und nun war es da. Jetzt überlege ich schon den ganzen Tag, wie Du Deine Sachen hinbekommen kannst. Wie Vati schon schrieb, haben wir viel verloren, hier ist ein grüner Anzug und in Dessau Dein brauner mit langer Hose. Dann ist hier Deine schwarze Arbeitshose, blaue Skihose und die Feldbluse, die Du zuletzt hier gelassen hast. Extrarock und Reithose ist auch fort. Außerdem der graue Übergangsmantel von Onkel, den trägt Vati, er gibt ihn Dir aber. Dann dachten wir, dass Du Dir aus der großen Decke einen Mantel anfertigen lassen kannst. Wie nun aber alles hinbringen zu Dir, denn hier ist nicht viel los, vor allen Dingen mit der Verpflegung. Es sind noch viele Männer fort, Herr Röller seit Mitte Mai oder Juni, der junge Misch ist auch nicht mehr da, Kunisch und seine Frau haben sich vor vierzehn Tagen das Leben genommen1. Jochen Eigen ist in Hamburg, Stick (Werner) in Siegburg. Rudi Otto auch in Schleswig, Harald Winkler ist zu Haus seit vier Wochen, war beim Ami. So haben sich viele schon gemeldet, aber von Günther ist noch keine Nachricht, vielleicht kommt es noch.

Sag mal, ich habe gehört, dass ihr vom Engländer Urlaub bekommt ins englische Gebiet, das wäre in Berlin-Charlottenburg, denn mit dem Schwarzfahren ist es doch wohl solche Sache, es hat da beim Grenzübertritt schon verschiedene Tote gegeben. Du könntest dort zu Tante Emmi oder Michaelis und wir können dann rein nach Berlin. Vielleicht kannst Du uns noch schreiben wie Du denkst.

Augenblicklich haben wir wieder Einquartierung2, einen russischen Oberleutnant, spricht aber gar nicht deutsch, wie lange er bleibt, wissen wir nicht. Gibt es dort irgendetwas frei zu kaufen zum Essen? Hier fehlt uns außer Salz, was wir etwas Vorrat haben, alles. Wir sind froh, wenn wir Kartoffeln haben, die schmecken mit Salz. Bloß das Essen hält ohne Fett nicht vor, man kann ungeheure Quantitäten essen. Wäre es Dir denn nach Dessau leichter zu fahren? Hoffentlich gelangt dieser Brief recht bald in Deine Hände. Ich will Montag nach Dessau zu den Geburtstagen.

In der Hoffnung, bald ausführlich von Dir zu hören, grüßt und küsst Dich innig Deine

Mutti

N.S.: Strümpfe und Wäsche ist auch viel fort. Die Kiste im Keller3, die wir eingegraben hatten, war leer, als wir wiederkamen.

Hennigsdorf, 27.10.45

Mein lieber Junge!

Heute Morgen um halb 9 Uhr erhielt ich im Geschäft Deinen lieben Brief vom 22. des Monats, ich war gerade bei der Direktion, da kam ein Mädel herein und brachte Deinen Brief, Du glaubst ja nicht wie ich mich gefreut habe, von Dir ein persönliches Zeichen zu haben, wenn wir auch damals am 9. September durch den Herrn Nachricht4 erhielten, so ist doch ein geschriebenes Zeichen ganz etwas anderes. Wir vermuteten Dich aber immer noch bei Tante H. und sind daher erstaunt, wieso Du aus Braunschweig schreibst. Also als ich nun Deinen Brief gelesen hatte, zog ich den Überzieher an und Hut auf und weiter nichts, ab zu Mutti, die gerade beim Friseur sich hübschen ließ, ich traf sie dann aber auf der Rathenaustraße mit Frau Steier. Auch bei Mutti war die Freude groß. Leider steht in dem Brief hier so wenig drin, hoffentlich erhalten wir nun einmal einen recht ausführlichen, Du kannst Dir ja denken, dass wir sehr neugierig sind, wenn Du hier wärst, würden wir Dich ganz ausfragen.

Hast Du nun beide Karten von uns bekommen, wir hatten zwei an Tante H. geschickt, allerdings Dir nur soweit mitgeteilt, was man auf einer offenen Karte, die noch dazu erst durch mehrere Hände5 ging, mitteilen kann.

Verloren haben wir sehr viel, ich habe hier aus der Wohnung fünf Anzüge und drei Paar Schuhe, einen Mantel, einen Hut und Oberhemden sowie Leibwäsche, in der Laube einen Anzug und einen Sommermantel und ebenfalls Leibwäsche eingebüßt6, Dein schwarzer Anzug und beide Überzieher, Sommer wie Winter sind fort, fast sämtliche Bettwäsche, fünf Federbetten, vier Kopfkissen, Sofakissen, drei Teppiche, Spiegel, Bilder, Wanduhr, usw., man kann nicht alles schreiben. In Dessau haben wir auch noch den guten Lederkoffer, den ich noch Anfang April mit dem Auto mitgenommen hatte, als ich nach Magdeburg war. Da war nur noch ein guter Winteranzug drin, aber Gott sei Dank ist Dein heller Anzug geblieben, aber Deine guten Schuhe sind fort.

Wir mussten fünf Wochen lang unsere Wohnung verlassen und zwar innerhalb von zwei Stunden, alles räumen, es durften nur Betten, Kleidung und Lebensmittel mitgenommen werden, dadurch habe ich so viel Kleidung verloren, aber die Hauptsache, wir haben Dich nicht verloren und Du bist gesund.

Die Lebensmittelzuteilung hier in Hennigsdorf ist sehr schlecht. Hennigsdorf heißt jetzt „Hungersdorf“, wir bekommen bisher pro Tag und Kopf 200 g Brot, da ich arbeite 200 g für mich Zuschlag, in der Woche drei bis fünf Pfund Kartoffeln, meist nur drei und solange wir Besatzung haben, also fünf Monate, haben wir im Ganzen dreimal ein Viertelpfund Fleisch, zweimal 35 g und einmal 30 g und ich zweimal 40 g Zuschlag. Butter einmal 125 g, einmal 100 g Öl, einmal 75 g Zucker (weiß) und in der vergangenen Woche eineinhalb Pfund für uns beide. Wenn wir nicht unseren Garten hätten und noch Gemüse dazu hätten, wären wir schon eingegangen, Mutti ist manchmal ganz verzweifelt. Jetzt holte die AEG auch etwas heran, gestern haben wir von der AEG 280 g Fleisch bekommen, Kartoffeln hat es schon dreimal gegeben. Bei Euch ist ja wohl die Verpflegung gut. In Berlin geht es auch, aber die Randbezirke sind sehr schlecht dran. Tante Lisa geht es auch nicht viel besser. Ab 1. November soll es ja etwas besser werden, aber die Hausfrauen bekommen ja dann auch kein Fett und kein Fleisch.

Ich habe in der Zeit seit April die mannigfaltigsten Beschäftigungen durchgemacht. Zuerst habe ich in der Siedlung Schaufenster repariert, dann habe ich in der AEG in einer Betriebsabteilung die Aufsicht bei den Aufräumungsarbeiten gehabt, dann hatte das Arbeitsamt Sehnsucht nach mir, haben geglaubt ein Zug kann auch Steine pflastern, haben wir auch gemacht, aber nicht allzu lange. Dann durfte ich in der Gemeinde Schützengräben zumachen und dann habe ich Generatorholz gehauen; da ich merkte, jetzt könnte es in der AEG wieder losgehen, habe ich mich als Werkzeugmacher einstellen lassen. Seit dem 16. Oktober bin ich nun wieder im Büro und habe die gleiche Tätigkeit wie seinerzeit, ehe ich nach Rumänien7 ging, ich mache die Planungen für unser Werk, habe seit einigen Tagen auch schon noch einen Herrn hinzu bekommen, man muss nur mal abwarten, wie es weitergeht. Die Großschweißerei und Kesselschmiede wird von den Russen abgerissen und verladen8. Die Montagehalle haben sie auch angefangen abzureißen, diese Arbeiten sind aber vorläufig wieder eingestellt.

Im Garten haben wir in diesem Jahre an Obst so gut wie keine Ernte, die Bäume haben fast alle in der Blütezeit Frost bekommen, die Äpfel und Birnen die wir geerntet haben, konnten wir zählen. Da konnten uns wenigstens keine gestohlen werden. Nun will ich für heute schließen, nächstens mehr, es ist auch Zeit nun in die Heia zu gehen.

Es grüßt und küsst Dich vielmals herzlichst, Dein

Vati

Hennigsdorf, 5.11.45

Mein lieber Junge!

Heute haben wir Gelegenheit einen Brief nach Braunschweig mitzugeben, Fräulein Steinberg bei uns aus der Straße, welche früher bei mir im Büro war, fährt nach Wolfenbüttel9 zum Besuch ihrer Schwester, bzw. will es versuchen hinzukommen. Post können wir Dir leider noch nicht wieder bestätigen, wir haben bisher nur Deinen Brief den wir über unser Hauptgeschäft erhielten. Mit der normalen Post ist noch kein Brief gekommen. Hast Du unseren langen Brief erhalten? Nun höre einmal zu, was wir hier ausgeknobelt haben. Fräulein Steinberg fährt nach Wolfenbüttel zu ihrer Schwester: Frau Ilse Rieske, Wolfenbüttel, Kornmarkt 1, bei Hermann Hermann!

H. Hermann ist im Porzellangeschäft, Fräulein Steinberg haben wir Deine Adresse mitgegeben. Vielleicht schreibst Du sofort nach Erhalt des Briefes an Fräulein Steinberg und teilst Ihnen mit, wann Du nach Wolfenbüttel kommen kannst. Kannst es noch anders machen, Herr Rieske arbeitet bei der AEG in Braunschweig, könntest Dich ja auch dort einmal nach ihm erkundigen. Fräulein Steinberg kommt auch gern mit ihrer Schwester nach Braunschweig. Na, wirst schon sehen, wie Du es machst, wir freuen uns schon dann einmal einen ausführlichen Brief von Dir zu erhalten. Wenn Fräulein Steinberg zurückkommt und wir wissen, wie man fahren kann, kommen Mutti oder ich nach dort, oder auch alle beide.

Mutti ist heute nach Dessau zu den beiden Geburtstagen gefahren, will auch einmal sehen, ob sie etwas mitbekommt. Denn die Verpflegung war ja hier bisher unter aller Kanone, es soll ja nun wohl besser werden. Wir haben unsere...

Erscheint lt. Verlag 19.4.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7562-9702-0 / 3756297020
ISBN-13 978-3-7562-9702-3 / 9783756297023
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