Späte Blumen (eBook)
256 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61388-9 (ISBN)
Anton Cechov wurde 1860 in Taganrog, Südrussland, geboren, wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und studierte dank eines Stipendiums in Moskau Medizin. Den Arztberuf übte Cechov nur kurze Zeit aus. Der Erfolg seiner Theaterstücke und Erzählungen machte ihn finanziell unabhängig. Seine Lungentuberkulose jedoch erzwang immer häufigere Aufenthalte in südlichem Klima, so dass Cechov auf die Krim übersiedelte. 1901 heiratete er die Schauspielerin Olga Knipper. Er starb 1904 in Badenweiler.
Es geht auf zwei Uhr nachmittags. Im Galanteriewarengeschäft »Pariser Novitäten«, in einer der Passagen, ist Hochbetrieb. Zu hören ist das monotone Stimmengewirr der Verkäufer; ein Stimmengewirr, das in der Schule vorkommt, wenn der Lehrer alle Schüler laut etwas büffeln läßt. Dieses eintönige Geräusch bricht weder das Lachen der Damen noch das Zuschlagen der gläsernen Eingangstür noch die Lauferei der Lehrlinge.
Inmitten des Geschäfts steht Polinka, Tochter von Marija Andreevna, der Inhaberin eines Mode-Ateliers, eine kleine, magere Blondine, und sucht jemanden mit den Augen. Auf sie zu eilt ein schwarzbrauiger Lehrling und fragt, indem er sie sehr ernst ansieht:
– Sie befehlen, gnädige Frau?
– Mich bedient immer Nikolaj Timofeič, – antwortet Polinka.
Und der Verkäufer Nikolaj Timofeič, ein schlanker Brünetter, onduliert, modisch gekleidet, mit einer großen Krawattennadel, hat bereits auf dem Ladentisch Platz geschaffen und sieht Polinka mit einem Lächeln an.
– Pelageja Sergeevna, meine Verehrung! – ruft er mit einem schönen, gesunden Bariton. – Wenn Sie sich hierher bemühen wollen!
– Ah, guten Tag! – sagt Polinka, auf ihn zutretend. – Sehen Sie, ich komme schon wieder zu Ihnen … Geben Sie mir irgendein Agrément.
– Wofür wird es denn gebraucht?
– Für ein Mieder, für ein Rückenteil, kurz, für eine ganze Garnitur.
– Sofort.
Nikolaj Timofeič legt Polinka einige Sorten Agrément vor; die wählt gelangweilt und beginnt zu feilschen.
– Ich bitte Sie, ein Rubel ist ganz und gar nicht zu teuer! – überzeugt sie der Verkäufer, nachsichtig lächelnd. – Das ist französisches Agrément, achtschäftig. Bitte, wir haben auch gewöhnliches, Meterware. Das kostet 45 Kopeken der Aršin, ist aber nicht von der Qualität! Ich bitte Sie!
– Außerdem brauche ich Glasperlenborte mit Agrémentknöpfen, – sagt Polinka, beugt sich über das Agrément und seufzt aus irgendeinem Grund. – Und haben Sie in dieser Farbe nicht auch Glasperlenquasten?
– O doch.
Polinka beugt sich noch tiefer über den Ladentisch und fragt leise:
– Und weshalb sind Sie, Nikolaj Timofeič, am Donnerstag so früh von uns weggegangen?
– Hm! … Seltsam, daß Sie das bemerkt haben, – sagt der Verkäufer spöttisch. – Sie waren so angetan von dem Herrn Studenten, daß … seltsam, daß Sie das bemerkt haben!
Polinka läuft feuerrot an und schweigt. Der Verkäufer schließt mit nervösem Zittern in den Fingern die Schachteln und setzt sie ohne Notwendigkeit aufeinander. Eine Minute vergeht in Schweigen.
– Außerdem brauche ich Glasperlenspitze, – sagt Polinka, die schuldbewußten Augen zu dem Verkäufer aufhebend.
– Was für welche möchten Sie? Glasperlenspitze auf Tüllgrund, schwarze und bunte, sind die modischste Verarbeitung.
– Und wie teuer sind sie bei Ihnen?
– Die schwarze ab 80 Kopeken, die bunte zu 2 R. 50 K. Und ich werde nie wieder zu Ihnen kommen, – fügt Nikolaj Timofeič leise hinzu.
– Warum nicht?
– Warum nicht? Sehr einfach. Das müssen Sie schon verstehen. Aus welchem Grunde sollte ich mich quälen? Seltsam! Ist es für mich etwa angenehm zu sehen, wie sich dieser Student vor Ihnen aufspielt? Ich sehe doch alles und verstehe. Schon seit Herbst macht er Ihnen heftigst den Hof, und Sie gehen fast jeden Tag mit ihm aus, und wenn er bei Ihnen zu Gast ist, verschlingen Sie ihn so mit den Augen, als ob er ein Engel wäre. Sie sind in ihn verliebt, für Sie gibt es keinen besseren Menschen als ihn, na wunderbar, da gibt es nichts zu reden …
Polinka schweigt und fährt in ihrer Verwirrung mit dem Finger über den Ladentisch.
– Ich sehe das alles sehr genau, – fährt der Verkäufer fort. – Was für einen Grund sollte ich haben, zu Ihnen zu kommen? Ich habe meine Selbstachtung. Nicht für jeden ist es angenehm, das fünfte Rad am Wagen zu sein. Wonach fragten Sie doch?
– Mamaša hat mir einige Einkäufe aufgetragen, aber ich hab schon vergessen, was. Eine Plumage brauche ich noch.
– Was für eine befehlen Sie?
– Eine bessere, die modischste.
– Die modischste ist heute aus Vogelfedern. Die Modefarbe ist heute, wenn Sie wünschen, Heliotrop oder die Farbe Canaque, das heißt Bordeaux mit Gelb. Eine Riesenauswahl. Aber wohin diese ganze Geschichte führen soll, verstehe ich ganz und gar nicht. Sie haben sich verliebt, und womit wird das enden?
Auf Nikolaj Timofeičs Gesicht treten rund um die Augen rote Flecken. Er zerknüllt die zarte buschige Borte in den Händen und fährt zu murmeln fort:
– Sie stellen sich vor, ihn zu heiraten, ja? Nun, was das angeht – lassen Sie Ihre Vorstellung fahren. Studenten ist verboten zu heiraten, und kommt er vielleicht zu Ihnen, um alles auf ehrbare Art zu beenden? Von wegen! Denn sie, diese Studenten, halten unsereinen doch nicht mal für Menschen … Sie gehen zu Kaufleuten und zu Modistinnen nur, um sich über die Ungebildetheit lustig zu machen und sich vollaufen zu lassen. Bei sich zu Hause und in guten Häusern schämt man sich zu trinken, ja, aber bei so einfachen, ungebildeten Leuten wie uns braucht man sich nicht zu schämen, da kann man sogar auf den Händen gehen. Jawohl! Also welche Plumage wollen Sie nehmen? Und wenn er Ihnen den Hof macht und Liebe vorspielt, dann ist doch klar, weshalb … Wenn er ein Arzt geworden ist oder ein Advokat, wird er sich erinnern: »Ach, ich hatte mal eine kleine Blondine! wird er sagen. Wo sie jetzt wohl ist?« Wahrscheinlich brüstet er sich jetzt schon dort, zu Hause, unter den Studenten, daß er eine kleine Modistin an der Angel hat.
Polinka setzt sich auf einen Stuhl und blickt nachdenklich auf den Berg weißer Schachteln.
– Nein, ich nehme doch keine Plumage! – seufzt sie. – Soll Mamaša selbst eine kaufen, die sie möchte, ich könnte die falsche nehmen. Mir geben Sie sechs Aršin Franse für einen Diplomaten, die zu 40 Kopeken der Aršin. Für denselben Diplomaten geben Sie mir Kokosknöpfe mit Ösen zum Annähen … damit sie fester halten …
Nikolaj Timofeič wickelt ihr die Franse und die Knöpfe ein. Sie blickt ihm schuldbewußt ins Gesicht und wartet offenbar darauf, daß er weiterspricht, aber er schweigt mürrisch und bringt die Plumage in Ordnung.
– Die Knöpfe für das Capot darf ich nicht vergessen … – sagt sie nach einigem Schweigen und wischt sich mit dem Taschentuch die bleichen Lippen.
– Was für welche möchten Sie?
– Wir nähen für eine Kaufmannsfrau, das heißt, geben Sie mir etwas, das vom Gewöhnlichen absticht …
– Ja, wenn es für eine Kaufmannsfrau ist, wählt man am besten etwas möglichst Buntes. Hier die Knöpfe. Eine Farbkombination aus Dunkelblau, Rot und modischem Gold. Das sind die auffälligsten. Wer etwas dezenter ist, kauft bei uns matte in Schwarz, nur mit einem glänzenden Rand. Aber ich verstehe nicht. Können Sie das nicht selbst beurteilen? Wohin führen denn diese … Spaziergänge?
– Ich weiß es selbst nicht … – flüstert Polinka und beugt sich über die Knöpfe. – Ich weiß selbst nicht, was mit mir geschieht, Nikolaj Timofeič.
Hinter Nikolaj Timofeičs Rücken, ihn an den Ladentisch drückend, zwängt sich ein dicker Verkäufer mit Backenbart vorbei, und strahlend von raffiniertester Galanterie ruft er:
– Seien Sie so liebenswürdig, Madame, sich in diese Abteilung zu bemühen. Jerseyblusen haben wir in drei Ausführungen: glatte, mit Soutache und mit Glasperlen! Was für eine befehlen Sie?
Gleichzeitig geht an Polinka eine dicke Dame vorüber, die mit dichter, tiefer Stimme spricht, beinahe im Baß:
– Nur bitte, sie sollten nicht genäht, sondern gewebt sein und mit eingeprägtem Warenzeichen.
– Tun Sie so, als würden Sie die Ware mustern, – flüstert Nikolaj Timofeič, zu Polinka vorgebeugt und gezwungen lächelnd. – Gott steh Ihnen bei, Sie sind so bleich und krank, Sie haben sich völlig verändert. Er wird Sie sitzenlassen, Pelageja Sergeevna! Und wenn er Sie einmal heiratet, dann nicht aus Liebe, sondern aus Hunger, auf Ihr Geld ist er aus. Er wird sich mit Ihrer Mitgift eine anständige Einrichtung schaffen, und danach wird er sich Ihrer schämen. Vor Gästen und Kollegen wird er Sie verstecken, weil Sie ungebildet sind, und wird sagen: mein Trampel. Können Sie sich in Gesellschaft von Ärzten und Advokaten etwa benehmen? Für die sind Sie eine Modistin, ein ungebildetes Geschöpf!
– Nikolaj Timofeič! – ruft jemand vom anderen Ende des Geschäfts. – Mademoiselle wünschen drei Aršin Band mit Picot. Haben wir das?
Nikolaj Timofeič wendet sich zur Seite, verzieht das Gesicht zu einem Lächeln und ruft:
– Haben wir! Wir haben Band mit Picot, Ataman mit Atlas und Atlas mit Moiré.
– Übrigens, damit ich es nicht vergesse, Olga bat darum, ein Korsett für sie zu kaufen! – sagt Polinka.
– In Ihren Augen stehen … Tränen! – erschrickt Nikolaj Timofeič … – Weshalb das? Gehen wir zu den Korsetts. Ich werde mich vor Sie stellen, sonst wird es peinlich.
Gezwungen lächelnd und mit übertriebener Ungezwungenheit führt der Verkäufer sie schnell in die Korsettabteilung und versteckt sie vor den Kunden hinter...
Erscheint lt. Verlag | 23.8.2023 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Anthologien |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Bilanz • Erzählung • Erzählungen • Herbstgeschichten • Klassiker • Peter Urban • Russland • Sammlung • Tschechow |
ISBN-10 | 3-257-61388-1 / 3257613881 |
ISBN-13 | 978-3-257-61388-9 / 9783257613889 |
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