»End of Men« ist 2021 bereits unter dem Titel »Die andere Hälfte der Welt« erschienen.
Christina Sweeney-Baird wuchs zwischen London und Glasgow auf. Ihr Studium der Rechtswissenschaften an der University of Cambridge schloss sie 2015 mit Prädikatsexamen ab. Anschließend schrieb sie für »The Independent« und »Huffington Post«. Inzwischen arbeitet sie als Prozessanwältin für Unternehmen. »Die andere Hälfte der Welt« ist Christinas Debüt-Roman. Sie schreibt bereits an ihrem zweiten Buch und lebt in Bloomsbury.
Catherine
London, Vereinigtes Königreich
Fünf Tage zuvor
Müssen Eltern sich an Halloween verkleiden? Das war noch nie ein Thema. Theodore ist vor einigen Monaten drei geworden, daher habe ich mir bis jetzt immer eine niedliche Kostümierung einfallen lassen (erst eine Karotte, dann ein Löwe und schließlich ein entzückender Feuerwehrmann mit Plüschhelm) und zu Hause Fotos von ihm gemacht. Ich will keine langweilige Mutter sein, die alle für arrogant halten, weil sie sich zu schade ist, den Spaß des Verkleidens mitzumachen. Ich will aber auch nicht peinlich übereifrig erscheinen. Die anderen Eltern, verkleiden die sich alle? Kostümiert sich irgendeiner von denen? Warum erklärt einem das keiner im Vorhinein?
Beatrice, meine einzige Freundin in Theodores Kita, hat gesagt, dass sie lieber sterben würde, als sich ein leicht entzündliches Kostüm anzuziehen, aber sie arbeitet im Investmentbanking und kauft sich zweitausend Pfund teure Handtaschen, »wenn sie einen schlechten Tag hatte«, deshalb ist ihr Verhalten nicht unbedingt der Maßstab für das der anderen Mütter in diesem ruhigen Teil von South London.
Mit einem mulmigen Gefühl betrachte ich die Kostüme. »Sexy Hexe«. Nein. »Sexy Magd aus Report der Magd«. Dann droht mir lebenslanger Ausschluss aus der Eltern-Lehrer-Vertretung von St. Joseph’s. »Sexy Kürbis«. Unsinn. Was würde Phoebe tun? Sie ist die vernünftigste und pragmatischste von meinen Freundinnen und besitzt die unglaubliche Fähigkeit, eine einfache Lösung für ein Problem hervorzuzaubern, als wäre diese schon die ganze Zeit über greifbar gewesen. Phoebe würde mir raten, schwarze Sachen anzuziehen und einen Hexenhut aufzusetzen, also beschließe ich, genau das zu tun. Ich vermute, dass Phoebes Tochter beim Süßes-oder-Saures-Umzug heute Abend hochwertigere Dinge einheimsen wird als die Süßigkeiten, die wir einsammeln werden. Sie wohnt in einer beängstigend teuren Gegend von Battersea, dank einer immensen Erbschaft von ihrem Vater im letzten Jahr. Er hat ihr sein Haus mit fünf Schlafzimmern und einem riesigen Garten hinterlassen, aber, wie Phoebe gern im Scherz sagt, ihre römische Nase war ein stolzer Preis dafür.
Ein Blick auf meine Armbanduhr, und mir wird klar, dass ich schon wieder spät dran bin mit Abholen. Ich kaufe den Hut und laufe eilig zur Kita. Für jede angebrochenen fünf Minuten, die ich zu spät komme, muss ich zwanzig Pfund bezahlen, ein horrender Satz, der mich in Versuchung bringt, meine eigene Kita zu eröffnen, denn es muss der höchste legale Zinssatz im ganzen Land sein.
Ein paar gehetzte Worte mit den anderen Müttern – Hallo, hallo, Tag auch, ja, ich weiß, wieder zu spät, obwohl ich so viel von zu Hause arbeite! Ha! Ja, ich bin schlecht organisiert, lustig, urkomisch, zum Totlachen –, als ich durch die Tür stürze, um einen unglücklichen Theodore abzuholen.
»Mummy war wieder zu spät«, sagt er seufzend.
»Tut mir leid, Liebling. Ich habe noch einen Hexenhut für morgen besorgt.«
Sein Gesicht hellt sich auf. Die Macht der Zerstreuung. Plötzlich ist Halloween, etwas, von dem er letztes Jahr nur eine vage Vorstellung besaß, zum denkbar aufregendsten Ereignis (bis Weihnachten) geworden. So habe ich mir das Elternsein immer vorgestellt. Meine Eltern starben, als ich zehn war, und ich habe keine Geschwister, daher waren Theodores Babyjahre eine Serie unangenehmer Überraschungen. Wie müde bin ich? Wie oft wird er krank? Ich fühle mich dermaßen einsam? Halloween, Weihnachten und Geburtstage sind sichere Häfen, wo meinem Wunschbild einer perfekten, Pinterest-adäquaten Mutter für kurze Zeit nachgegeben wird.
Nach der Kälte draußen drängen wir durch die Tür ins Warme, und ich beginne augenblicklich mit dem Kochen. Ich versuche, Theodore Abendessen zu machen, bevor Anthony nach Hause kommt, denn in der Aufregung des Wiedersehens mit seinem Vater geraten Gemüsehäppchen und die Ermahnung zu essen schnell in Vergessenheit, und zurück bleibt ein traurig aussehender Teller. Die Verhandlungen, die erforderlich sind, damit ein Dreijähriger sich ausgewogen ernährt, kennen keine Grenzen, und heute sind sie besonders quälend. Noch eine Erbse, dann kannst du zwei Nudeln essen. Fünf Erbsen, und du darfst am Samstag einen Film schauen.
Anthony kommt nach Hause, als Theodore sich gerade die Treppe hinaufgeschleppt hat, wieder einmal überdrüssig des obligatorischen Badens vor dem Zubettgehen. Anthony ist noch dabei, ein berufliches Gespräch zu Ende zu führen, als er zur Tür hereintritt. Er sieht müde und abgespannt aus. Wir brauchen Urlaub. Jetzt, wo wir Mitte dreißig sind, scheine ich das alle zwei Wochen zu sagen, selbst wenn wir gerade im Urlaub waren.
Schließlich hat Anthony das Telefonat beendet. Irgendetwas mit Blockchains und anderen komplizierten Wörtern, die keine Bedeutung für mich haben. Nach einem Jahrzehnt Ehe habe ich meine Einstellung glücklicherweise geändert: von Schuldgefühlen über mein mangelndes Verständnis der Arbeit meines Mannes hin zu seliger Ignoranz. Wenn ein tiefes Verständnis des Berufs des Ehepartners eine Voraussetzung für eine beständige und glückliche Ehe wäre, würde niemand lange verheiratet bleiben. Außerdem könnte Anthony genauso wenig einen einzigen meiner letzten wissenschaftlichen Artikel nennen, wie ich ein Programm in Java schreiben könnte, ein Wort, bei dem ich unweigerlich an Körperlotion denke, bevor mein Verstand zu Programmieren weitergeleitet wird.
Ich bekomme ein Hallo, einen Kuss auf die Wange und eine rasche Umarmung, bevor Anthony nach oben geht. Baden und ins Bett bringen sind seine Aufgaben. Von der Kita abholen und Abendessen meine. Selten verbringen wir einen Abend zusammen, aber wenn, ist es wunderbar. Während ich mir ein Glas Rotwein einschenke – den Geschirrspüler einzuräumen kann warten, E-Mails zu beantworten hingegen nicht –, blitzt der Gedanke in meinem Kopf auf, dass ich diese Muße nicht hätte, wenn wir noch ein Baby versorgen müssten. Keine ruhige, annähernd ordentliche Küche mit einem Glas Wein in der Hand. Keine Aussicht auf einen Abend mit Gesprächen mit meinem Ehemann, ungestörtes Fernsehen und eine lange Nacht mit gehirnstärkendem, die Beziehung erhaltendem Schlaf.
»Wie war dein Tag?« Anthony ist wieder nach unten gekommen. Kein Wein für ihn heute Abend, fällt mir auf, während er die Nudeln, die ich für ihn übrig gelassen habe, in eine Schüssel gibt.
»Redigieren, redigieren, redigieren. Meine Lieblingsaufgabe, wenn ich einen Aufsatz schreibe«, sage ich mit beißendem Sarkasmus. Eine meiner Tutorinnen in Oxford hat einmal zu mir gesagt, dass ich, um Wissenschaftlerin zu werden, lebenslang Hausaufgaben erledigen müsse, und damals habe ich ihr nicht geglaubt, aber, Herrgott noch mal, sie hatte recht. Drei Testleser haben meinen neuesten Aufsatz über die Unterschiede zwischen Erziehungsstilen in Dänemark und dem Vereinigten Königreich und deren Auswirkungen auf das Bildungsniveau gelesen, und aus irgendeinem Grund wollen sie alle, dass ich Änderungen vornehme, aber in verschiedene, gegensätzliche Richtungen. Nachdem ich einen achtstündigen Arbeitstag mit dem Entziffern der Kommentare verbracht hatte, war ich so erschöpft, dass ich meinen Laptop am liebsten aus dem Fenster geschmissen hätte. Voller Hoffnung deutete ich meiner wunderbaren Chefin Margaret gegenüber an, dass ich bei so viel Widersprüchlichkeit die Kommentare ignorieren könne, aber sie schüttelte nur missbilligend den Kopf und sagte: »Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.«
Ich erkläre Anthony das Hexenkostüm, und er sieht mich aufmerksam an. »Das ist ein guter Plan«, sagt er. »Plan A: Hexe. Plan B: Normale schwarz gekleidete Frau.« Die Ernsthaftigkeit, mir der er an diese Themen in der Diskussion herangeht, ist eine der vielen Eigenschaften, die ich an ihm liebe. Er würde nie sagen: »Das ist albernes Zeug, warum reden wir darüber?« Einmal sagte der Ex-Freund meiner Freundin Libby zu ihr, sie sei lächerlich, als sie irgendetwas – ich weiß nicht mehr was – zur Sprache brachte, während wir zu viert in einem Sushi-Restaurant in Soho saßen. Anthony sagte, ohne eine Spur von Humor in der Stimme: »Wenn sie es anspricht, ist es nicht lächerlich. Sie ist nicht lächerlich.«
Libby behauptet, dass Anthony einer der Gründe ist, warum sie Single ist; an ihm kann sie sehen, wie Liebe sein sollte. Ich versuche sie daran zu erinnern, wie wir zu Uni-Zeiten waren. Wir sind jetzt unser halbes Leben lang zusammen. Man wird nicht über Nacht zwei Hälften eines Ganzen. Ich glaube, ich habe in Zusammenhang mit Beziehungen Libby gegenüber einmal das Wort »Reise« fallen gelassen, und daraufhin sprach sie kein Wort mehr mit mir, bis ich ihr einen doppelten Gin Tonic spendierte.
Nachdem Anthony die Teller abgeräumt hat, was ich quasi, mehr oder weniger, definitiv ihm überlassen habe, weil er ordentlicher ist als ich, lehne ich mich mit einem zufriedenen Seufzen im Stuhl zurück. Er sieht mich eindringlich an. Entweder will er Sex, oder er will die große F-Unterhaltung führen. Künstliche Befruchtung – ja oder nein? Erst seit vierzig Jahren genießen Paare den Luxus, über diese Frage nachzudenken. In Anthonys Arbeitskalender habe ich vor einigen Monaten ein großes F in der Ecke eines Freitags entdeckt. Sofort nahm ich an, dass er eine Affäre hatte, obwohl es gar keinen Beweis gab. Freya? Flora? Felicity? Wer ist sie? Ein paar Wochen lang ließ ich ständig Frauenvornamen mit F fallen und befürchtete, er würde erröten oder schuldig aussehen, aber er hielt...
Erscheint lt. Verlag | 12.7.2023 |
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Übersetzer | Carola Fischer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The End of Men |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2023 • Dystopie • dystopie fantasy • eBooks • feministische Science-Fiction • Frauen • gesellschaftskritische Science-Fiction • Near future • Neuerscheinung • Roman • Romane • Virus |
ISBN-10 | 3-641-30514-4 / 3641305144 |
ISBN-13 | 978-3-641-30514-7 / 9783641305147 |
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