She Who Became the Sun (eBook)
512 Seiten
Cross Cult (Verlag)
978-3-98666-280-6 (ISBN)
1
HUAI-FLUSSNIEDERUNG IM SÜDLICHEN HENAN, 1345
Still lag das Dorf Zhongli in der brütenden Sonne. Ringsum gab es nichts als rissige gelbe Erde, aufgebrochen im Muster eines Schildkrötenpanzers. In der Luft hing der Geruch nach heißem Staub wie nach ausgeblichenem Gebein.
Vier Jahre hielt die große Trockenheit nun schon an. Die Bauern wussten um die Ursache für ihr Elend und verfluchten ihren barbarischen Kaiser in seiner fernen, nördlich gelegenen Hauptstadt. Es war wie mit allen gleichartigen Dingen, die durch einen Faden Qi miteinander verbunden waren: Die Umstände des einen beeinflussten die des anderen. So bestimmte die Eignung eines Regenten das Schicksal seines Landes. War ein Kaiser seines Amtes würdig, dann war sein Reich mit guten Ernten gesegnet; war er dagegen unwürdig, so wurde es von Überschwemmungen, Dürren und Seuchen heimgesucht. Gegenwärtig wurde das Hoheitsgebiet der glorreichen Yuan-Dynastie von einem Mann beherrscht, der nicht nur Kaiser, sondern zugleich auch Großkhan war: Es handelte sich um den zehnten Nachkommen des mongolischen Eroberers Kublai Khan, der vor siebzig Jahren das letzte einheimische Herrschergeschlecht gestürzt hatte. Seit elf Jahren verfügte er nun schon über das göttliche Licht des Himmelsmandates, und es gab Kinder im Reich, die nichts anderes kannten als Not.
In jenem ausgedörrten Jahr des Hahns war die zweitgeborene Tochter der Familie Zhu ungefähr zehn. Die Jungen des Dorfes rannten auf das Feld des verstorbenen Nachbarn zu, und das Mädchen lief ihnen hinterher. Dabei dachte es ans Essen. Es erinnerte ein wenig an eine Heuschrecke der Gattung Locustana pardalina: Nicht nur hatte es eine breite Stirn und eine ausgeprägte Kinnlade, seinem Gesicht fehlte außerdem jede Spur der weichen Rundlichkeit, die den Liebreiz kleiner Kinder ausmacht. Wie das Insekt hatte auch das Mädchen nichts anderes im Sinn als Nahrung. Allerdings war es mit der einförmigen Kost der Bauern aufgewachsen; dass es irgendwo auf der Welt Besseres geben könnte, war kaum mehr als ein unbestimmter Verdacht. Folglich war seine Vorstellungskraft auf die bloße Menge beschränkt. Gerade stellte es sich eine Schale Hirsebrei vor: Sie war so voll, dass der Brei sich wie ein bebender Hügel über die Ränder erhob, nur zusammengehalten von der straff gespannten Haut. Das Mädchen setzte einen Fuß vor den anderen und fragte sich mit lüsterner, banger Versonnenheit, wie es den ersten Löffel nehmen könnte, ohne einen Tropfen zu verschütten. Von oben (aber dann könnten die Flanken nachgeben) oder gleich von der Seite (was höchstwahrscheinlich in einer Katastrophe enden würde); mit starker Hand oder ganz behutsam? So vertieft war es in sein ausgedachtes Mahl, es hörte kaum die Schaufel des Totengräbers scharren.
Dann war das Mädchen an ihm vorbei und auf dem Feld. Geradewegs lief es auf die enthaupteten Ulmen zu, die das andere Ende säumten. Einst waren die Bäume schön gewesen, aber das Mädchen empfand keine Wehmut beim Anblick der kahlen Strünke. Im dritten Jahr der Missernten hatten die Bauern herausgefunden, dass sie ihre prachtvollen Ulmen schlachten und essen konnten wie jedes andere Lebewesen auch. Das war der Erinnerung wert: sechsmal gekochte Ulmenwurzel, beißend und herb auf der Zunge. Hinterher war einem zum Andenken an die Mahlzeit ein wenig übel, und die Innenseiten der Wangen fühlten sich geriffelt an. Und besser noch: Ulmenrindenmehl, mit Wasser und gehäckseltem Stroh verknetet, zu Brötchen geformt und langsam über einem niedrigen Feuer gebacken. Doch nun war an den Ulmen schon lange nichts Genießbares mehr, und die Dorfkinder scherten sich bloß noch um sie, weil sich in den Baumruinen Mäuse, Grashüpfer und andere derartige Leckerbissen fanden, die dort Unterschlupf gesucht hatten.
Seit einer Weile war das Mädchen nun schon das einzige Mädchen im Dorf. Seit wann genau, hätte es nicht sagen können, und es dachte auch nicht gern darüber nach. Dazu bestand auch keine Notwendigkeit: Es wusste nur zu gut, was geschehen war. Gab es in einer Familie einen Sohn und eine Tochter, aber kaum etwas zu essen, wer würde da etwas an ein Mädchen verschwenden? Da müsste es schon ganz außergewöhnlich nützlich sein. Aber das Mädchen hatte keine Illusionen: Nützlicher als die toten Mädchen war es nicht. Noch dazu war es hässlicher. Es presste die Lippen aufeinander und ging neben dem ersten Ulmenstrunk in die Hocke. Nur in einer einzigen Hinsicht war es anders als die anderen: Es hatte gelernt, sich selbst etwas zu essen zu fangen. Doch kam ihm dieser Unterschied zu klein vor, um ein gegenläufiges Schicksal zu rechtfertigen.
Die Jungen waren vorausgerannt, um sich die besten Jagdgründe zu sichern. Plötzlich schrien sie und johlten: Sie hatten ein Beutetier entdeckt. Zwar hatten sie noch nie großen Erfolg mit ihrer Methode gehabt, aber das hielt sie nicht davon ab, es wieder zu versuchen. Um das Tier aufzuscheuchen, stocherten sie mit Stöcken in den Höhlungen des Strunks und zwischen den Wurzeln herum und machten ordentlich Lärm. Immerhin waren sie auf diese Weise abgelenkt. Das Mädchen wusste den Moment zu nutzen: Es holte seine Falle aus dem Versteck. Schon immer hatte es geschickte Hände gehabt; früher, als solche Fertigkeiten noch von Bedeutung gewesen waren, hatte es viel Lob für seine Körbe erhalten. Und nun saß in der geflochtenen Falle ein Fang, der jeden neidisch gemacht hätte: eine Eidechse, so lang wie der Unterarm des Mädchens. Augenblicklich vergaß es den Hirsebrei. Es schlug den Kopf der Eidechse auf einen Stein, klemmte sich das tote Tier zwischen die Knie und überprüfte die übrigen Fallen. Kurz hielt es inne, als es eine Handvoll Grillen fand. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen: Zuerst würden sie zwischen den Zähnen knacken, und dann käme der nussige Geschmack … Das Mädchen nahm sich zusammen, wickelte die zappelnden Grillen in ein Tuch und steckte es in die Tasche.
Dann stellte es die Fallen wieder auf und kam auf die Füße. Über der Straße, die sich durch die Hügel hinter dem Dorf schlängelte, hing eine Wolke aus goldenem Löss. Unter azurblauen Bannern – das war die Farbe des Himmelsmandates der mongolischen Herrscherfamilie – wälzte sich ein dunkler Strom aus Soldaten in Lederrüstungen durch den Staub gen Süden. Jeder in der Flussniederung des Huai kannte das Heer des Fürsten von Henan. Schon doppelt so viele Jahre, wie das Mädchen alt war, schlug der mongolische Adelige jene Bauernaufstände nieder, die hin und wieder in der Gegend aufflammten. Im Herbst marschierte sein Heer nach Süden, und im Frühling kehrte es zu den Garnisonen im Norden der Provinz Henan zurück, so verlässlich wie der Kalender selbst. Nie kamen die Soldaten Zhongli näher als jetzt, und niemand aus Zhongli hatte sich ihnen je von sich aus genähert. Die Sonne blitzte auf den Metallbeschlägen der Rüstungen, funkelte auf diesem dunklen Fluss, der sich da über den falben Hang ergoss. Der Anblick hatte so wenig mit dem Leben des Mädchens zu tun, dass er ihm beinahe unwirklich erschien, so fern wie der klagende Ruf der Wildgänse, die manchmal hoch am Himmel vorbeiflogen.
Es war hungrig, und die Hitze hatte es ermattet. Sein Interesse erlosch. Mit der Eidechse im Arm wandte es sich heimwärts.
Um die Mittagszeit ging das Mädchen mit seinem Tragjoch und einem Eimer zum Brunnen und kam heftig schwitzend zurück. Jedes Mal wog der Eimer schwerer, weil weniger Wasser, dafür aber mehr ockerbrauner Grundschlamm darin war. Das Erdreich hatte ihnen die Nahrung vorenthalten, drängte sich dafür nun aber selbst auf mit jedem körnigen Bissen. Einmal hatten ein paar Leute im Dorf sogar versucht, Fladen aus Matsch zu essen. Bei der Erinnerung regte sich Mitleid im Herzen des Mädchens. Wer würde nicht alles tun, um die Hungerqualen zu lindern? Vielleicht hätten noch andere das Experiment gewagt, wären nicht die Glieder und Bäuche der Matschfladenesser angeschwollen. Dann waren sie gestorben, und das war dem Rest der Dorfgemeinschaft eine Lehre gewesen.
Die Familie Zhu lebte in einer Hütte mit nur einem Zimmer, erbaut zu einer Zeit, in der es noch mehr Bäume gegeben hatte. So lange war das her, dass das Mädchen sich nicht daran erinnern konnte. Nach vier Jahren ständiger Trockenheit waren die Bretter rissig, wodurch es drinnen so luftig war wie draußen. Da es nie regnete, machte das nichts. Früher hatte die Hütte eine ganze Familie beherbergt: die Großeltern väterlicherseits, das Elternpaar und sieben Kinder. Doch die Dürrejahre hatten ihre Zahl verringert, und nun waren sie nur noch zu dritt: das Mädchen, sein nächstälterer Bruder Chongba und der Vater der Kinder. Chongba war elf und in seiner Generation männlicher Verwandter der glückliche Achtgeborene, weshalb er immer schon in hohem Ansehen gestanden hatte. Nun war er auch noch der einzige Überlebende – es stand also fest, dass er gesegnet war.
Das Mädchen schleppte den Eimer um die...
Erscheint lt. Verlag | 6.11.2023 |
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Verlagsort | Ludwigsburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | 14. Jahrhundert • Asia • Aufstand • Awards • China • Historie • Historienroman • lgbtqia+ • Ming-Dynastie • Mongolen • Queer • Schicksal • Trans • Verrat • Zhu Yuanzhangs |
ISBN-10 | 3-98666-280-4 / 3986662804 |
ISBN-13 | 978-3-98666-280-6 / 9783986662806 |
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