Manfred – Bekenntnisse eines Außerirdischen (eBook)
336 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27860-8 (ISBN)
Manfred ist ein höchst durchschnittliches Exemplar der Gattung Homo sapiens. Anfang 30, blass und schmerbäuchig lebt er einsam im Homeoffice. Und dennoch löst er intergalaktischen Alarm aus. Wieso sollte gerade er - wie vor ihm Descartes oder Einstein - die Fähigkeit haben, die Existenz der Außerirdischen zu entlarven? Der Außerirdische Zorrgh ergreift Besitz von Manfreds Bewusstsein, um den Grund herauszufinden. Er boostert Manfred und schon bald nimmt dieser Kontakt zu seiner - nicht ganz so harmlosen - Jugendliebe Sabine auf. Bis hin zu einem furiosen Finale ahnt Zorrgh nicht, wie nah ihn die beiden an seine eigenen Grenzen bringen werden. Der irrwitzigste Roman, den Thomas Lehr je geschrieben hat.
Thomas Lehr, 1957 in Speyer geboren, lebt in Berlin. Bei Hanser erschienen u.a. September. Fata Morgana (Roman, 2010), Größenwahn passt in die kleinste Hütte (Kurze Prozesse, 2012), 42 (Roman, 2013), Zweiwasser (Roman, 2014), Nabokovs Katze (Roman, 2016), Schlafende Sonne (Roman, 2017), Frühling (Novelle, 2019) und Die Erhörung (Roman, 2021). Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Berliner Literaturpreis, dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Bremer Literaturpreis, dem Spycher-Literaturpreis sowie dem Kranichsteiner Literaturpreis.
1.
Der Eintritt
1.
Wir haben den Manfred in einem fürchterlichen Zustand vorgefunden. Sein einziger Kopf lag auf der Tastatur einer klappbaren Rechenmaschine, sein Atem erschien Uns faulig, Bartstoppeln hatten sein Kinn in eine rötliche Kaktee verwandelt. Um ihn nicht zu verstören oder durchgehen zu lassen, öffneten Wir nur den Spion. Er erwachte dadurch, wurde in die Höhe gerissen und starrte in seine erbärmliche Behausung, als sehe er sie zum ersten Mal.
Das Entsetzen, das er nun verspürte, hatte er sich selbst zuzuschreiben. In der Zeit Unseres letzten Einsatzes nannte man eine derart verwilderte Menschlingshöhle wohl eine Junggesellenwohnung. Wir fanden auf dem klebrigen Küchentisch eine Zeitung, das hiesige Provinzialblatt. War sie von heute, dann schrieb man einen Freitag am Ende des zweiten Jahrzehnts des so genannten einundzwanzigsten Jahrhunderts der Menschlinge.
Zunächst ließen Wir den Manfred zwischen seinen vier schlecht dekorierten Wänden umherhasten, als hätte er etwas Wertvolles verloren und müsste es in größter Eile wiederfinden. Dabei entdeckten Wir keine Anhaltspunkte für ein großes Talent, eine besondere Fähigkeit, einen höheren Sinn. Man hat noch Bücher in seiner Zeit, aber das spärlich gefüllte Regal, das der Manfred für Uns hastig und willenlos durchstöberte, enthielt nur traurig geistloses Schrifttum. Ausnahmen stellten Werke zur Ökonomie und eine Handvoll zerlesen erscheinender Fachbücher zur Abrichtung von Rechnern dar, in denen der Manfred nun wühlte, als hätte er darin einen Geldschein versteckt — damit Wir sehen konnten, von welcher Qualität seine handschriftlichen Anmerkungen waren. Von mäßiger, muss man sagen.
Auch als Wir ihn dazu veranlassten, seine Tagebücher und persönlichen Aufzeichnungen, seine Studiennotizen und einen Schuhkarton mit an ihn gerichteten Briefen und Postkarten durchzugehen, fanden Wir keinen Hinweis auf besondere Geistesgaben oder originelle Züge seines Charakters. Dasselbe gilt leider auch für seine Korrespondenten. In einer blauen Metallkassette entdeckte er seine Geburtsurkunde, um beim Anblick des Datums zu erbleichen. Ja, er hatte allen Grund sich zu schämen! Als Fünfunddreißigjähriger lebte er schlampig und improvisiert, ohne Zeichen größeren Wohlstandes oder guten Geschmacks.
Noch nicht einmal sein körperlicher Zustand gereichte einem biologischen Männchen seiner Art zur Ehre. Wir stießen ihn in sein enges Badezimmer, vor einen schmalen, aber hohen Spiegel, der — ungeputzt und schlecht ausgeleuchtet — sein stockfleckiges Ganzkörperporträt zeigte, nachdem Wir ihm den dringlichen Impuls eingegeben hatten, sich die Kleider vom Leibe zu reißen. Beim Anblick seines tränensackigen Gesichts, der hängenden Schultern, des unwürdigen Bauchansatzes, der dünnen Arme und Beine, der seltsam nach außen gedrehten übergroßen Füße vermeinte man, die unrechtmäßig in den Vordergrund gerückte Randfigur eines apokalyptischen Gemäldes vor sich zu haben, einen krummen Sünder, dessen lasterhafte Gepflogenheiten den an sich noch jungen, im Grunde nicht unbrauchbaren Körper geschwächt und verunstaltet hatten, zu nichts anderem gut, als von einer Engelsfigur in die Hölle gestoßen oder von einem roten Teufel auf eine Gabel gespießt zu werden. Wir denken an den Fall Hieronymus Bosch zurück, den Wir mit schier unendlicher Geduld auf zivile, jedoch finale Weise lösten im sechsundsechzigsten Lebensjahr des Meisters. Bei dem Manfred allerdings scheint sich kein visionärer Funken durch den Heuhaufen des Gehirns zu bewegen, welchen Wir vielleicht einmal werden entzünden müssen, um die möglicherweise darin verborgenen Gestalten ans Licht zu treiben.
An dieser Stelle, in den Augenblicken der erzwungenen ungeschminkten Selbstwahrnehmung vor dem Badezimmerspiegel, muss der Manfred sich eingebildet haben, eine höhere und bessere Instanz in seinem Gehirn sei erwacht und jäh zu der Entscheidung gelangt, ihn mit der ganzen Jämmerlichkeit seiner Existenz zu konfrontieren. Ecce homo. Wir brachten ihn dazu, die Nüstern zu blähen und die Lippen zu schürzen, um seinen unerfreulichen Zahnstatus zu begutachten. Dann stießen Wir ihn unter die Dusche und brausten seinen Armer-Sünder-Körper erst heiß und anschließend so lange eiskalt, bis die Trübung des pochenden Gehirns nachließ und Uns schärfere Konturen geliefert wurden. Du musst deine Zähne bleichen, Manfred!
2.
Wir senden keine Nachrichten nach Hause. Sonst würden Wir Uns nach einigen weiteren Umdrehungen des Planeten um die eigene Achse und einer kleinen Reihe nicht-invasiver Untersuchungen des Manfred gezwungen sehen, dem Äußeren Rat mitzuteilen, dass der Grund des Alarms noch nicht vorzufinden war. Er mag in den tieferen Schichten des Manfredischen Gehirns verborgen liegen, deren Inspektion Wir noch ausgespart haben, um das Objekt nicht vorzeitig zu beschädigen. Sehr ungern erinnern Wir Uns an frühere Fälle von so genanntem Wahnsinn oder gar an Selbsttötungen infolge illuminierter Raserei. Seit Wir ihn touchiert, ihn per Spion vorsichtig sondiert, ihn gleichsam auf die Koppel geführt und mit einer leichten Satteldecke versehen haben, befindet sich der klägliche Menschling in der Lebenskrise, für die es langsam Zeit wurde. Denn ganz gleich, ob der Manfred selbst den Alarm auslöste oder ein Element seiner sozialen Umgebung — in seinem eingetrübten und vergifteten Zustand ist er noch nicht einmal als Instrument zu gebrauchen. Also putzen Wir ihn, wie es in der Pferde-Abrichtesprache heißt, welche Uns so köstliche Bilder leiht, um die Zurichtung der Menschlingsexemplare zu beschreiben, die notwendige zoologische Dressur ausgesuchter Vertreter einer Gattung, die sich selbst immer mehr zu Beherrschern anderer Lebensformen aufgeschwungen hat.
Im Rahmen des Putzvorgangs befreiten Wir den Manfred von seiner Nikotinsucht, an der er, wie zahllose seiner Artgenossen in den vergangenen einhundert Erdenjahren, in fortgeschrittenem Lebensalter elendiglich zugrunde zu gehen drohte. Wir beseitigten auch sämtliche alkoholischen Getränke in seiner Behausung und einen Karton mit offensichtlich missbräuchlich verwendeten Pharmaka. Darüber hinaus zerstörten Wir durch die Peitsche entsetzlicher Gewissensbisse jeglichen Versuch der Wiederbeschaffung unangebrachter Drogen. Jeder Gentleman weiß, dass man allenfalls ein Eimerchen Pfefferminzlikör bei seltenen Gelegenheiten zu sich nimmt. Zwei, drei Wochen lang litt der Manfred, heulte, brabbelte wirr, war zu nichts zu gebrauchen. Dass er keiner geregelten Arbeit in Abhängigkeitsverhältnissen nachging, sondern als abgebrochener Student und Kleinunternehmer mit Computer-Gelegenheitsarbeiten ein schwaches Einkommen erzielte — einige seiner Kunden riefen an und beschimpften seinen Telefonsprachspeicher — und das kleine Erbe seiner verstorbenen Mutter (von einem Vater war keine Spur in seinen Unterlagen zu finden) für seinen unstrukturierten und belanglosen Lebenswandel verzehrte, ließ gewisse Freiräume in seiner Existenz und half Uns sehr beim Anlegen des Zaumzeugs und beim Einführen der Trense. Der Manfred muss Uns tragen lernen.
Als er sich mit einem Mal, an einem sonnigen Apriltrag, ungeheuer stark, frei und wie neu geboren fühlte, gaben Wir ihm Auslauf in der Agglomeration oder Civitas. Wir finden mitunter seltsame Wortdinge in seinem Gehirn, angeschimmeltes Latein etwa und Trümmer eines biederen Schulfranzösisch sowie das zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts wohl epidemisch verbreitete Amerikanischenglisch mit einer gar nicht so schwachen Lexik, jedoch ohne jede Geschmeidigkeit oder rhetorische Eleganz. Der Manfred hat wohl einiges gelesen, aber wenig gespürt. Zögernd entließen Wir ihn aus seiner mittlerweile säuberlich gereinigten und aufgeräumten Behausung und longierten ihn vorsichtig durch die Straßen der Stadt, in der er geboren wurde und in der er schier sein gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte, als wäre er ein Baum. Allerdings scheint der Manfred noch nicht einmal für eine...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Geistesgeschichte • Informatik • Liebe • Science Fiction |
ISBN-10 | 3-446-27860-5 / 3446278605 |
ISBN-13 | 978-3-446-27860-8 / 9783446278608 |
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