60 Kilo Kinnhaken (eBook)
672 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12208-4 (ISBN)
Hallgrímur Helgason, geboren 1959 in Reykjavík, besuchte nach dem Studium an der Hochschule für Kunst und Kunstgewerbe in Reykjavík für ein Jahr die Kunstakademie in München. Seinen Durchbruch feierte er 1996 mit dem Roman 101 Reykjavík, der kurze Zeit später verfilmt wurde. Es folgten die Bestseller Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen (2008) und Eine Frau bei 1000° (2011). Helgason ist einer der international erfolgreichsten Autoren Islands. Zuletzt sind von ihm bei Tropen erschienen: Seekrank in München (2015) und 60 Kilo Sonnenschein (2020).
Hallgrímur Helgason, geboren 1959 in Reykjavík, besuchte nach dem Studium an der Hochschule für Kunst und Kunstgewerbe in Reykjavík für ein Jahr die Kunstakademie in München. Seinen Durchbruch feierte er 1996 mit dem Roman 101 Reykjavík, der kurze Zeit später verfilmt wurde. Es folgten die Bestseller Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen (2008) und Eine Frau bei 1000° (2011). Helgason ist einer der international erfolgreichsten Autoren Islands. Zuletzt sind von ihm bei Tropen erschienen: Seekrank in München (2015) und 60 Kilo Sonnenschein (2020). Karl-Ludwig Wetzig, geboren 1956, war Lektor an der Universität Reykjavík und arbeitet heute als Autor und Übersetzer aus den nordischen Sprachen. Er hat u. a. Jón Kalman Stefánsson, Gunnar Gunnarsson und Hallgrimur Helgason ins Deutsche übertragen.
»Hallgrímur Helgason beschreibt sprachmächtig die Entwicklung Gesturs und den Übergang des bitterarmen, bäuerlichen Islands in die Moderne durch das Einsetzen der Heringsfischerei.«
Tobias Wenzel, NDR Kultur, 20. November 2023
»Hallgrímur Helgason ist ein einfühlsamer Bildungsroman gelungen, souverän und einfallsreich von Karl-Ludwig Wetzig übersetzt, ein Buch, in dem der Autor zwischen den Zeilen auch die heutigen Isländer porträtiert.«
Tobias Wenzel, WDR 3, 24.Oktober 2023
»mit viel Witz und Ironie […] vollgepackt mit skurriler Erotik. Hallgrímur Helgason nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Landschaften, Geschichte und die Sitten des sehr speziellen Inselvolkes. [...] Nach der Lektüre wird man Island unter einem ganz anderen Blickwinkel betrachten.«
MDR Thüringen, 12. November 2023
»Ein unterhaltsamer Schmöker bar jeder Romantik und Nostalgie.«
Matthias Hannemann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. November 2023
»Wieder einmal schafft es der isländische Autor, die seltsamen Charakterzüge seiner Landsleute herauszuarbeiten, ohne dabei seinen humanistischen Grundtenor zu verlieren. […] Wer noch kein Islandfan ist, wird es spätestens nach der Lektüre dieses Buches werden. Denn die Eigenheiten der Isländer sind einfach durch und durch liebenswert.«
Diana Wieser, Schreiblust Leselust, 25. November 2023
»Hallgrimur Helgason, einer der allerbesten Autoren Islands, erzählt in diesem Schelmenroman grandios, fulminant und unglaublich komisch von seiner Insel und ihren sehr wenigen Bewohnern, die am Anfang des 20. Jahrhunderts vom Mittelalter buchstäblich in die Moderne katapultiert werden.«
Sarah Brasack, Kölner Stadt-Anzeiger, 31. Dezember 2023
»Geschickt verzahnt Helgason fast alle gängigen Genres, vom Krimi über den Pseudohistori-enroman, von der Satire bis zur Liebesgeschichte. Hinzu gesellen sich etliche Anleihen bei den Islandsagas und den Mythen.«
Werner Krause, Kleine Zeitung, 28.Oktober 2023
»Wortgewaltig und humorvoll erzählt Hallgrímur Helgason vom abenteuerlichen Weg Islands in die Moderne.«
Ernst W. Koelnsperger, Studiosus Bücherschau, November 2023
»Helgason [ist] seit mehr als zwei Jahrzehnten eine Art Botschafter seines Landes, ein schräger Diplomat, der im Rest der Welt alle Island-Klischees mit schwarzem Humor torpediert.«
Richard Kämmerlings, Welt am Sonntag, 10. Dezember 2023
Kapitel 3
Fernseeblick
Strönd bestand aus kaum mehr als einer Baðstofa am Wasser, den Nordgiebel gegen den Wind gestemmt, den anderen nach Süden weisend; ein äußerst kurzer Gang und eine angebaute Küche trugen das Ihre dazu bei, den Grassodenbuckel ein Haus nennen zu dürfen. Es war nicht die übelste Behausung auf der Eyri-Halbinsel, aber auch nicht die beste. Den größten Nachteil stellte die Nähe des Meeres dar, dessen Brandung dem neuen Leben seinen Rhythmus vorgab, sie war die Uhr, die jede Minute einläutete. Selbst an den windstillsten Tagen konnte eine unsichtbare Welle mit solchem Krachen am Ufer brechen, dass die alte Grandvör auf ihrem hohen Kissen zusammenschrak, weil sie es für das Donnern einer Lawine hielt.
Regelmäßig überspülte die Flut das Ufer, und das Haus verwandelte sich in das Schiff, von dem Gestur träumte. Aus den Betten traten sie in knöchelhohes Eiswasser. Das Ufer war voll Seetang, langhalsiger Rhizoide. Zwar hatten die Isländer ihr Land von jeglichem Wald gesäubert, doch das Meer schien zwischen Grund und Ufer dicht damit bewachsen zu sein und tat alles, um so viel wie möglich davon an Land zu werfen. Ständig hingen Vögel in der Luft, Möwen und Raben, die ohne Flügelschlag wie Drachen über dem Strand schwebten und nach etwas Essbarem in den Tanghaufen Ausschau hielten. Am schlimmsten aber war es, wenn die Brecher gegen das Haus krachten. Dreimal schon hatte die Brandung die Fensterscheibe in der Nordwand zerschmettert, und einmal schleuderte sie sogar einen mannsschweren Treibholzstamm aufs Dach der Baðstofa, sodass ein Sparren brach.
Lási schnitzte eine pfiffige Sitzbank aus dem Stamm, die dann vor dem Haus aufgestellt wurde. Erst im Nachhinein kam ihm der Gedanke, es könne angeraten sein, der Familie für die Nachtruhe Stahlhelme zu besorgen. Aber noch hatte er sich nicht aufraffen können, der dänischen Armee zu schreiben.
Gestur hatte sich angewöhnt, vor dem Haus oder auf dem Strandwall zu stehen und zur Fjordmündung hinauszuschauen. Er konnte dort halbe Stunden lang stehen, erst recht nach dem Ende der Fangzeit. Die Mündung war wie ein Fenster aus dem bergigen Zimmer, das der Fjord bildete. Nur dort sah man den Horizont, die kurze Linie von Segulnes im Osten zum Landsendabjarg am westlichen Ufer des Fjords. Und obwohl er genau wusste, dass hinter dieser Linie auch nichts anderes lag als noch mehr Meer und der Nordpol, aber keine Länder, keine Städte, wies der Himmel über der See doch immer einen träumerischen Zauber auf. Die Wolken, die dort schwebten, das Licht, das dort verweilte und zuweilen den letzten Rest des Sonnenuntergangs hinter den Bergen im Westen bildete, waren Verheißungen von Abenteuern und anderen Welten. Daher schaute er immer wieder fasziniert zum Fjord hinaus, so wie Menschen später auf ihre Bildschirme. Selbst im alltäglichsten Regenschauer, der wie ein dunkelgrauer Vorhang über den Horizont wanderte, schienen ihm wunderbare Begebenheiten, eine spannende Geschichte, die Gesänge fremder Völker, Auseinandersetzungen jenseits des Urals, Schiffshavarien im Bosporus zu stecken. Die Fjordmündung war sein Fernseher. Sein Fernseer.
An diesem Tag sah er zu, wie sich der Sommer aus dem Fjord kämpfte. »Schiffe fahren!«
Es ging auf Abend zu, der steife Nordwind ließ nach, und zwei norwegische Segler kreuzten gegen ihn an, ein dritter wurde von einem Motorboot geschleppt. Gestur sah, wie die weißen Segel im heftigen Wind flatterten, als wären sie ausgelesene Seiten in einem anderen Buch. Die vierte Heringsfangzeit in Segulfjörður war offiziell zu Ende. Reeder dieser Schiffe war der Risikospieler Rune Vetlesen, der als Letzter heimfuhr. Es war schon die zweite Septemberhälfte, und es musste mit jeder Art von Wetter gerechnet werden. Noch immer galt die Regel, dass die Flotte vor dem Sturmtag, dem 6. September, das Land verließ, aber da noch über dieses Datum hinaus Hering gefangen wurde, waren die wagemutigsten Fischer das Risiko eingegangen. Vetlesen war einer von ihnen, ein tollkühner Newcomer in der Branche, und natürlich nannten die Spottdrosseln ihn nicht Vetlesen, sondern Vitleysi, Verrückter. Er hatte den Sommer über gut verdient, im September noch besser. Er würde als schwerreicher Mann nach Hause zurückkehren, oder als Wasserleiche.
Gott sei ihnen gnädig, dachte Gestur wie so manch anderer. Die drei Schiffe hatten den ganzen Tag darauf gewartet, dass sich der Wind legte, und nun schienen sie es gerade noch vor dem Dunkelwerden zu schaffen, sich aus dem Fjord zu stehlen. Gestur begleitete die Fahrzeuge mit den Augen bis Segulnes, wo sie hinter Núpur seinem Blick entschwanden. Praktisch im gleichen Moment schlief der Wind ein, und Stille erfüllte den Fjord. Die Wellen rollten glatt aus wie weiße Laken nach einer turbulenten Wäsche und glichen sich dem Weiß in der Höhe an: Der morgendliche Matsch, der von den Steinen getaut war, lag oben auf den Bergen als Schnee.
Bald wurde die Stille vom Tuckern des Motorboots unterbrochen, das eines der Schiffe aufs offene Meer geschleppt hatte, und das Tageslicht schwand zusehends. Gestur ging mit den Händen in den Taschen zum Strand und kickte ein paar Steine weg. Dieser neue Zeitvertreib war ihm möglich, seit er norwegische Stiefel trug. Am Ufer blieb er eine Weile stehen und bedachte seine Lage. Im ersten Heringssommer war er konfirmiert worden, eigentlich ein Jahr zu spät, weil es keine Kirche gegeben hatte, danach war er im selben Takt wie das Heringsgeschäft gewachsen. Das winzige Fischerdorf war zu einer Ortschaft mit fünfhundert Einwohnern, einigen zweigeschossigen Häusern und drei Geschäften geworden, dennoch ließ sich die neue Zeit für Gesturs Geschmack zu viel Zeit. Und er selbst steckte noch in der alten fest. Alles, was er besaß, stand in Tonis Büchern im Krónufélag, nur so bekam er bessere Konditionen. Im Herbst zahlte er seinen Lohn des Sommers ein und konnte dafür den Winter über Waren entnehmen.
Plötzlich hörte er ein Geräusch hinter sich und fuhr blitzschnell herum (eine Reaktion, die einem die Lawinen beibrachten), aber es war bloß ihr heller Bello mit dem Schnauzbart. »Pap, alter Schäffi!«
Fast hätte er den Hund Papa genannt wie der kleine Einäugige, gerade noch konnte er es sich verkneifen, vermutlich aus schlechtem Gewissen, denn natürlich hätte eigentlich er, Gestur, und nicht der Hund von Olgeir Papa genannt werden müssen. Froh, aus seinen bedrückenden Gedanken gerissen worden zu sein, beugte er sich zu dem Hund und kraulte ihn hinter den Ohren, was er nicht hätte tun sollen, und redete ihm gut zu, wie er es einmal im Sommer bei einem Ausländer gesehen hatte. Isländer hingegen kannten nichts anderes, als ihre Hunde mit Beschimpfungen anzubrüllen, und berührten sie aus Angst vor Läusen und Flöhen niemals, außer um ihnen einen saftigen Tritt zu verpassen. Die Nation stand noch auf der Stufenleiter der Unterdrückung, deren Hierarchie von oben nach unten folgendermaßen verlief: Kirche, Kramladen, Holzhaus, Torfkate, Hund, Katze, Maus, Laus.
Gesturs Sommerlohn war geringer ausgefallen als im Vorjahr. Die Fangmenge lag unter der der ersten drei märchenhaften Sommer, und als der Nachzüglerschwarm kam, hatte er bei den Septembermännern keine Heuer bekommen. Das Heringsgeld würde den Winter über wohl kaum reichen für den Fünf-Personen-Haushalt, der auf seinen Schultern ruhte.
Herr und Hund betrachteten den Fernseebildschirm, auf dem ihn die Abenteuer des Lebens riefen: »Besorge dir einen Platz auf den Wolken, auf einem Schiff …« Warum versuchte er nicht sein Glück, warum fuhr er nicht mit Vetlesen und seinen Männern übers Meer und versuchte es in einem anderen Haus? Vielleicht erwartete ihn da eine Ja-willige Jente, die ihm die Hand über den Tisch reicht, die liebreizend lächelt und ihn nimmt, wie er ist.
Hier gab es nur wenige Mädchen in seinem Alter, nur seine Konfirmationsschwester Sunna, inzwischen zweifache Mutter in Selber, Anna in Mjölkot, die von ihrer Mutter an einen sechzigjährigen Haifischer verschachert worden war, und die berühmten Drillinge in Kvíðagerði, Sóley, Signý und Sjöfn, die er nie auseinanderhalten konnte, so schlaksig und niedergedrückt, wie sie waren. Ihr Vater Sæmundur hatte ihnen ewig vorgehalten, die Familie würde noch als Gemeindearme enden. »Hat schon jemals jemand ein solches Unglück erlebt? Sich auf einen zusätzlichen Fresser gefasst zu machen und dann drei auf einen Schlag zu kriegen? Und alle drei überleben auch noch!« Das war ein berechtigter Vorwurf, sie waren die einzigen Drillinge in dreihundert Jahren, die in Island am Leben blieben. Jetzt waren sie im heiratsfähigen Alter, lagen ihrem Vater aber noch immer auf der Tasche, weswegen der sie weiterhin verfluchte.
Auch...
Erscheint lt. Verlag | 16.9.2023 |
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Übersetzer | Karl-Ludwig Wetzig |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2. Band • 60 Kilo Sonnenschein • Abenteuer • Aufbruch • Denis Scheck • Einsamkeit • Epos • Familie • Familiengeschichte • Familienroman • fischer roman • Fortsetzung • Gegenwartsliteratur • Generationenroman • Hering • Island • Islandgeschichte • Isländische Literatur • Isländischer Literaturpreis • island roman • Liebesgeschichte • Neue Bücher Herbst 2023 • Neue Literatur 2023 • neuerscheinung 2024 • Preisgekrönt • Rejkjavik • Roman aus Island • Schicksal • Schicksalsschlag • Schmöker • Zeitgenössische Literatur • Zivilisation • Zivilisationsgeschichte |
ISBN-10 | 3-608-12208-7 / 3608122087 |
ISBN-13 | 978-3-608-12208-4 / 9783608122084 |
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