Die Verletzlichen (eBook)
224 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3404-9 (ISBN)
Als eine gute Freundin der namenlosen Erzählerin in Kalifornien strandet, erklärt sie sich bereit, sich um deren Wohnung in New York zu kümmern - samt temperamentvollem Papagei. In der Wohnung trifft sie auf einen jungen Mann, der noch ganz am Anfang seines Lebens steht und vor den Erwartungen seiner Familie Zuflucht sucht. Gemeinsam gehen die beiden mit dem Papagei durch eine bewegte Zeit. Sigrid Nunez' neuer Roman erzählt davon, was passiert, wenn Fremde bereit sind, ihr Herz füreinander zu öffnen, und was selbst kleine Gesten der Fürsorge bewirken können.
Ein großes Buch über Nähe und Innigkeit in unwägbaren Zeiten, und ein hinreißender Roman über die Kunst des Schreibens selbst.
»Eine begnadete Autorin.« Der Spiegel.
»Urkomisch und zutiefst nachdenklich.« TIME.
»Mit ihrem Witz, ihrer stilistischen Brillanz und ihrer Furchtlosigkeit, mit der sie die großen Fragen unseres Lebens adressiert, hat sich Sigrid Nunez eine große Leserschaft erschrieben.« Denis Scheck.
»Sigrid Nunez schmuggelt tiefgründige Reflexionen über Schmerz und Verlust in einen hinreißenden Roman von trügerischer Leichtigkeit.« NYT.
Sigrid Nunez ist eine der beliebtesten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Für ihr viel bewundertes Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Für »Der Freund« erhielt sie den National Book Award und erreichte international ein großes Publikum. Auch ihr Roman »Was fehlt dir« wurde zum Bestseller. Im Aufbau Verlag sind von ihr außerdem »Sempre Susan. Erinnerungen an Susan Sontag« und »Eine Feder auf dem Atem Gottes« erschienen. Sigrid Nunez lebt in New York City. Anette Grube ist die Übersetzerin von Arundhati Roy, Vikram Seth, Chimamanda Ngozi Adichie, Mordecai Richler, Yaa Gyasi, Kate Atkinson, Monica Ali, Richard Yates und vielen anderen. Sie lebt in Berlin.
»Es war ein launischer Frühling.«
Ich hatte das Buch vor langer Zeit gelesen, und abgesehen von diesem Satz erinnerte ich mich an fast nichts mehr. Ich hätte Ihnen die Personen nicht nennen können, die in dem Buch auftraten, oder was mit ihnen geschah. Ich hätte Ihnen nicht (oder erst später, nachdem ich nachgesehen hatte) sagen können, dass das Buch im Jahr 1880 begann. Nicht, dass es von Bedeutung war. Nur in meiner Jugend glaubte ich, dass ich mich an alles erinnern musste, was in jedem Roman passierte, den ich las. Jetzt kenne ich die Wahrheit: Wichtig ist, was man während des Lesens erlebt, die Gefühlszustände, die eine Geschichte hervorruft, die Fragen, die einem dazu einfallen, und nicht die fiktionalen Ereignisse, die geschildert werden. Das sollten sie einem in der Schule beibringen, aber sie tun es nicht. Stattdessen liegt der Schwerpunkt immer auf dem, woran man sich erinnert. Wie sonst sollte man eine Kritik schreiben können? Wie eine Prüfung bestehen? Wie einen Abschluss in Literaturwissenschaft erlangen?
Mir gefällt der Autor, der zugab, dass er sich nach der Lektüre von Anna Karenina nur an einen Picknickkorb mit einem Glas Honig darin erinnerte.
Was mir all die Zeit nach der Lektüre von Die Jahre im Gedächtnis blieb, war der Anfang, dieser erste Satz, gefolgt von einer Beschreibung des Wetters.
Keinesfalls ein Buch mit dem Wetter beginnen ist eine der ersten Regeln des Schreibens. Ich habe nie verstanden, warum nicht.
»Abscheuliches Novemberwetter« lautet der dritte Satz von Bleak House. Anschließend schreibt Dickens bekanntermaßen ausführlich über Nebel.
»Es war eine dunkle und stürmische Nacht.« Ich habe nie verstanden, warum dieser Satz allgemein (ich weiß nicht mehr für wen: noch etwas zum Recherchieren) als der schlechteste Anfang eines Romans gilt. Geschmäht, weil er belanglos und zugleich zu melodramatisch ist.
(Ursprünglich von Edward Bulwer-Lytton. In einem Buch mit dem Titel Paul Clifford, 1830. Andere nach ihm, spöttisch, am denkwürdigsten Ray Bradbury, Madeleine L’Engle und Snoopy.)
Phantasielos war das Wort, mit dem Oscar Wilde Leute charakterisierte, für die das Wetter ein Gesprächsthema war. Selbstverständlich war zu seiner Zeit das Wetter – insbesondere das englische Wetter – langweilig. Nicht das wesentlich unberechenbarere, oft apokalyptische Ereignis, von dem Menschen heute überall auf der Welt besessen sind.
Wichtig ist jedoch der Hinweis, dass es kein normaler Nebel – dichter Dunst, eine tief liegende Wolke – war, von dem Dickens sprach, sondern das von der entsetzlichen industriellen Luftverschmutzung in London verursachte Miasma.
Es war ein launischer Frühling.
Jeden Tag machte ich frühmorgens einen Spaziergang. Es war mein größtes Vergnügen in einer vergnügungsarmen Zeit, Tag für Tag den Anbruch einer neuen Jahreszeit zu beobachten: die Magnolien, die Blüten trieben und sie – so schmerzlich bald, so schien es mir jedes Jahr, aber nie so akut wie im Frühling 2020 – wieder abwarfen. Die Kirschblüten, sogar noch schöner – die schönsten, einverstanden –, doch ebenso kurzlebig. Die Narzissen oder Osterglocken, und die knallbunten Tulpen wirkten nahezu wie wilde Münder, die nach Aufmerksamkeit schrien. »Zu erregbar« fand Sylvia Plath einst eine Vase mit »zu roten« Tulpen. Und Rilke: »Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme.« Für Elizabeth Bishop sahen die Flecken auf den Spitzen der Hartriegelblüten wie von Zigaretten verbrannt aus. Poeten.
Ist es Zufall, dass die Namen von Blumen auch immer wunderschöne Wörter sind? Rose. Veilchen. Lilie. So attraktive Namen, dass die Menschen sie ihren Töchtern geben. Jasmin. Iris. Ich kannte einmal eine Bulldogge namens Petunie. Eine Katze namens Mimose.
Mir fallen so viele weitere schöne Namen ein: Anemone, Flieder, Azalee. Natürlich muss es Ausnahmen geben. Es gibt immer Ausnahmen. Obwohl ich Phlox nicht besonders schön finde, fällt mir kein einziger wirklich hässlicher Blumenname ein, Ihnen?
Es gibt jedoch andere Pflanzen, wie Unkraut und Kräuter, mit hässlichen Namen wie Giersch. Wir überlegen, ob wir das Baby Giersch nennen wollen. Unsere Zwillinge: Beifuß und Borstgras. Andorn. Wanzenkraut. Wormwood, Wermut: der Name, den C. S. Lewis seinem Neffen in Dienstanweisung für einen Unterteufel gab.
Löwenmaul! Nicht für ein Mädchen, nie, aber ein guter Name für eine Katze.
An manchen Tagen blieb ich lange draußen – bis zu drei, vier Stunden. Ich ging eine Schleife. Von Park zu Park. Da waren die Blumen. Zu Beginn, bevor die Spielplätze geschlossen wurden, fand ich Trost darin, den kleinen Kindern zuzusehen oder auch nur ihre trillernden Stimmen zu hören, während ich auf einer Bank in der Nähe saß. (Ich las nicht, wie ich es zu gewöhnlichen Zeiten getan hätte. Ich hatte die Fähigkeit, mich zu konzentrieren, verloren. Nur die Nachrichten, das Einzige, das ich gern ignoriert hätte, fesselten mich.) Auch den Hunden sah ich gern beim Spielen zu, bevor die Hundeausläufe geschlossen wurden. Wir waren jetzt alle auf den Status von Kindern reduziert. Das waren die Regeln: brich sie und du wirst bestraft, die Privilegien, die dich glücklich gemacht haben, wurden dir genommen. Zum Wohl aller: verstanden. Aber die Hunde – was hatten sie getan?
Selbstverständlich sah ich immer noch viele Hunde, die ausgeführt wurden. Aber mir schien, dass sie verändert waren. Sie wussten, dass etwas nicht stimmte. Die bedrückte Weise, wie sie dahintappten, die Stirn gerunzelt, den Kopf gesenkt. Was haben sie jetzt bloß wieder angestellt, schien jede Stirn zu sagen.
Eine junge Freundin missbilligte, dass ich so viel Zeit im Freien verbrachte.
Du darfst raus, um frische Luft zu schnappen, sagte sie. Aber das heißt nicht, dass du stundenlang herumlaufen darfst.
Aber warum drückte sie es so aus, herumlaufen, als wäre ich eine schrullige, ziellos herumirrende alte Frau.
Ein kurzer Gang um den Block, zum Einkaufen, rein, raus, kein Trödeln. Bleib zu Hause. So lautet die Regel.
Stell dich nicht dumm, sagte sie. Du brichst die Regeln, und das weißt du auch.
Eine Vulnerable, nannte sie mich. Du gehörst zu einer vulnerablen Gruppe, sagte sie. Und du musst dich entsprechend verhalten.
Der Gouverneur von New York, der Mann, der die Regeln aufstellte, sah das wie sie.
Die sozialen Medien befeuerten die Geschichten von Frauen in Quarantäne, die masturbierten, während sie sich seine tägliche Pressekonferenz live im Fernsehen ansahen.
Heute Morgen eine E-Mail von einer Fremden, einer Frau, die sich über etwas, das ich geschrieben hatte, ärgerte. Es ist Schund, sagt sie. Jedes einzelne Wort.
Das kann nur heißen: Ich muss selbst Schund sein.
Wie diese andere Frau vor vielen Jahren, die mich kontaktierte, um ihren Ekel zum Ausdruck zu bringen, weil ich über zwei Figuren geschrieben hatte, die offenbar auf meinen Eltern basierten. Englisch war nicht ihre Muttersprache.
Nur kranke Person tut Mutter und Vater so unrecht, schrieb sie. Dafür Sie hoffentlich bestraft.
Ich mag diese wahre Geschichte über einen Schriftsteller, der eine erfundene Figur nach jemandem gestalten wollte, den er kannte. Er veränderte sie, sie hatte zum Beispiel einen Kurzhaarschnitt statt des Pagenschnitts, den das Vorbild aus dem echten Leben seit der High School trug, und eine Cat-Eye-Brille mit einer auffälligen Schildpattfassung. Obwohl die reale Frau kinderlos war, hatte sie im Buch einen Sohn Mitte zwanzig.
Ein paar Wochen bevor das Buch erschien, hatte die Frau so trockene Augen, dass sie ihre Kontaktlinsen nicht mehr tragen konnte. Als Brille entschied sie sich, unnötig zu erwähnen, für ein Cat-Eye-Modell mit Schildpattfassung. Da sie nicht mehr jung war...
Erscheint lt. Verlag | 15.1.2024 |
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Übersetzer | Anette Grube |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Vulnerables |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Ara • Der Freund • Erzählerin • Frauenfreundschaft • Freundschaft • Fürsorge • Hortensie • Innigkeit • Lebensmut • Liebe • Nähe • New York City • Papagei • Roman • Schreiben • sigrid nunez • Tier |
ISBN-10 | 3-8412-3404-6 / 3841234046 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3404-9 / 9783841234049 |
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