Die Privilegierten (eBook)
624 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491757-3 (ISBN)
Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen« und 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam«.
Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen« und 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam«.
Ein genialer Gesellschaftsroman, der unendlich viel zu bieten hat!
Seit seinem Debütroman [...] zählt Thomas von Steinaecker zu den klügsten, einfallsreichsten und formbewusstesten Schriftstellern seiner Generation.
[...] in "Die Privilegierten" aber hat Thomas von Steinaecker unsere Gegenwart auf genuin literarische Weise durchschaut und erfasst.
[...] ich halte DIE PRIVILEGIERTEN für einen großartigen, wenn nicht sogar den Roman der Stunde.
Steinaecker gelingt […] das Kunststück, so ehrlich und reflektiert von den großen und kleinen Dramen des Lebens zu erzählen, dass die Lektüre immer spannend bleibt.
Thomas von Steinaecker verwebt in "Die Privilegierten" auf fesselnde Weise nicht nur eine private mit der gesellschaftlich-ökologischen Krise.
Thomas von Steinaecker [...] trifft einen Nerv
Thomas von Steinaecker zeichnet in »Die Privilegierten« eine gruslige Zukunft der Hyperdigitalisierung [...].
Steinaecker [schreibt] sein immer satirischer wirkendes Porträt einer Generation Weltflucht, die irgendwann doch von dieser Welt eingeholt wird […].
Das ist sowohl ätzende Sozialkritik als auch unterhaltsamer Pageturner – mit einem ins Herz zielenden Finale.
[...] beklemmend und eindrucksvoll [... ].
Das scharfsinnige, tragikomische Porträt einer Generation, die vor lauter Krisen die große Katastrophe verpasst.
[...] klug komponiert [...].
Er war schon immer einer der klügsten Autoren seiner Generation. Das beweist er erneut mit seinem umfangreichen neuen Roman "Die Privilegierten".
Temperatursturz. Gestern noch 23°C. In der Hütte heute Morgen 9°C. Später Maximum 12°C. Draußen auf der gesamten Lichtung Frost. Nebeldecke. Beim Aufstehen starke Gelenkschmerzen. Schwindel. 2 × 400 g Ibu. Überprüfung des Vorrats. 57 Tabletten übrig. Die braune Wolfskin und Extradecken aus Keller geholt. Brauche noch Balaclava. Nicht gefunden. Transformator läuft weiter problemlos. Überprüfung der Hühner: 34. 6 Eier. Im Wald. Holz schlagen. Im Schuppen geschichtet. Überprüfung der Folientunnel. Rüben unbeschadet. Ausbesserung der Risse. Huhn geschlachtet. Beim Zerlegen am Zeigefinger mit Messer geschnitten. Tiefer Schnitt, aber schwache Blutung. Taubheit = Tabletten? Entscheidung gegen Verband. Kaum noch Vorrat. Nachmittags Nebel weg, Wärme. Teil der Blumen am Rand der Lichtung erfroren. Wann war der letzte Winter laut den Berichten? Auf jeden Fall vor meiner Ankunft. Werde es nehmen, wie es kommt. Eventuell nur meteorologische Ausnahme und kühler als die letzten Jahre, aber ohne Schnee. Was jetzt zählt, ist positiver Frame of Mind. Fokus. Mache Hütte und die beiden Ställe trotzdem winterfest. Heute Unterbrechung der Katalogisierung und keine Exkursion.
Im Wald schreien den ganzen Tag die Flughunde.
Temperatur fällt weiter. Morgens in Hütte 6°C, tagsüber nur noch 10°C. Frost bleibt bis weit in den Tag liegen. Nebel löst sich nicht auf. Starke Gelenkschmerzen. 1 × 400 g. Kaum Wirkung. Ab jetzt rationieren. Mit optimaler Rübenernte, Hühnern, Eiern bei geschlossener Schneedecke maximal 2 Monate überlebensfähig. Eventuell 2 ½. Transformator läuft. 33 Hühner. 7 Eier. Weiter im Wald für Holz. Schuppen gefüllt. Balaclava immer noch nicht gefunden. Abmessen der Bäume um Lichtung. Wenn wirklich Winter kommt und Eisbruch wie in den Berichten von den Wintern vor meiner Zeit hier, erreichen die umgestürzten Wipfel nicht meine Hütte. Test: Jeep springt noch an. Batterie aufgeladen, obwohl seit Jahren nicht benutzt. Aber: Straße zur Wetterstation sichtlich kaum passierbar. Sehr wahrscheinlich tiefer im Wald komplett unpassierbar. Unsicher, wann zum letzten Mal Kontakt mit Janne und den anderen von der Station. Zwei Jahre her? Drei Jahre? Entscheidung gegen Kontaktaufnahme. Ich bleibe hier. Ich fliehe nicht noch mal. Egal was. Was zählt, ist weiterzumachen. Positiver Frame of Mind. Weitere Risse in Folientunnel entdeckt. Aber Rübenernte ungefährdet und damit auch Betrieb von Transformator und Ernährung. Fingerkuppe lila verfärbt und taub. Keine Katalogisierung. Keine Exkursionen.
Nachts wach. Intensive Erinnerungen. Nach weiß nicht wie langer Zeit wieder. Plötzlich Brigitte vor Augen. In Jung. Das Gefühl ihres warmen Körpers. Masturbation. Zweimal hintereinander. Später von Samy geträumt. Schrien uns an. Danach lange wach und die alten Argumente im Kopf. Dann auf einmal Einfall, wie man ihn davon überzeugen kann, dass er sich geirrt hat. Erleichtert. Lächerlich. Konnte nicht aufhören damit. Verliere Frame of Mind. Warum auf einmal das alles JETZT? Muss aufhören zu schwelgen. Habe dieses Wort ewig nicht mehr verwendet. Andere Zeit und Welt. Am Morgen wie erschlagen. Unfähig. Schwach. Muss aufhören.
schwelgen
Steuererklärung
Spaghetti
Tage geraten durcheinander. Nicht zulassen. Gerade jetzt. Alles, was ich mir hier in vier Jahren geschaffen habe, aufs Spiel setzen. Für was? Sentimentalitäten. Lächerlich. Alter Depp. Habe früher einen Weg gefunden, dass es aufhört, werde auch jetzt einen Weg finden. Fokus. Positiver Frame of Mind. Muss mich auf meine Arbeit konzentrieren. Keine Tabletten nehmen. Schmerz lenkt ab.
Balaclava gefunden. Im selben Karton auch alter Pullover. Hätte ihn überhaupt nicht hierher nach Bindal mitnehmen dürfen. Fehler. Wie kam er in den Karton mit den Thermosachen im Keller? Vorsatz gebrochen: keine Dinge aus der Vergangenheit mit nach Norwegen. Warum sollte ich ausgerechnet den Abitur-Pullover mitnehmen? Warum überhaupt aufgehoben? Logo der Schule + mein Name vorne = Auslöser der Erinnerungen jetzt. Schwachsinn.
Raureif unter Mikroskop. Dendritenstruktur. Sechs Arme in exakt 60° zueinander. Symmetrie. »Blätter« an Armen von unterschiedlicher Größe. Generell nach außen hin schrumpfend, aber nicht Gesetz. Alle Arme mit zapfenartiger Spitze als Abschluss. Arme und »Blätter« mit Eishaaren. Parallelität zu Gefäßsporengewächsen wie Farnen. Nahezu perfekte Form. Unerklärlich. Chemische Kenntnisse unzureichend. Untersuchung mehrfach wiederholt. Immer nur sehr kurz Zeit, da in 5–6 Sekunden Verfall und geschmolzen.
Fokus. Holz schlagen. Transformator läuft. 33 Hühner. 4 Eier. Nachts 4°C.
Was zählt, ist, sich trocken zu halten. Stiefel, Thermohose und Wolfskin immer, nach Rückkehr von draußen, gleich an Kamin. Holzvorrat auch jetzt direkt im und am Haus. Kurze Wege, falls Schnee.
Im Wald.
Was zählt
Warum schreibe ich das hier?
Etwas ist geschehen. Ich muss nachdenken. Ich muss darüber nachdenken, was geschehen ist. Ich muss mir darüber klarwerden, was die neuen Entwicklungen für mich bedeuten.
Vor drei Tagen ist die Katze hier aufgetaucht.
Hier ist, was geschehen ist:
Vor drei Tagen wollte ich nach dem Aufstehen den Computer wieder wie bisher auch für die Katalogisierung und Beschreibung der Flora und Fauna nutzen. Der Holzvorrat war aufgefüllt. Draußen lag weiterhin nur Frost, kein Schnee. Ich hielt es für möglich, dass es dabei blieb. Kein Winter, nur ein harter Herbst. Meine Gelenke schmerzten weiter. Die Flughunde klangen an diesem Morgen wütender denn je. Ihre Kolonie, die sich ursprünglich tiefer im Wald befunden hatte, musste näher an die Lichtung herangerückt sein.
Ich frühstückte, nahm 2 Ibus und machte den täglichen Kontrollgang in den Maschinenraum, zu den Folientunneln und dem Stall. Danach entschied ich, in den Wald zu gehen. Die klimatische Veränderung hatte vielleicht nicht nur negative Auswirkungen auf die Flora. Und was die Fauna betraf, so redete ich mir ein, dass es meine Pflicht wäre, gerade jetzt das Verhalten der Lemmingkolonien und der Rentierherde, die ich all die Jahre begleitet hatte, genau zu studieren und zu protokollieren.
Wie in den letzten Tagen kamen die Erinnerungen an früher. Die Zeile eines blödsinnigen Songs tauchte in meinem Kopf auf, ich kriegte sie einfach nicht mehr raus: And after all, you’re my wonderwall. Es quoll wie aus einem winzigen Loch, das plötzlich größer wurde. Ein Leck. Today is gonna be the day. Und als ich in der Strophe nicht und nicht weiterwusste, ärgerte mich das über die Maßen. By now I gonna somehow, gonna somehow, gonna … somehow …? Das einzige Mittel dagegen war, mich selbst zu erschöpfen, wie damals in den ersten Monaten hier. Zum ersten Mal, seit ich hier lebe, dachte ich auf dem Weg in den Wald wieder an das Wort Schonung. Und es zog alles mit sich nach, was damit zusammenhing, sprich: Die 1990er. Oberviechtach. Das Leuchtenberg-Gymnasium. Ilie. Madita. Opa. Die Zecke. Sentimentalitäten.
Auf den schwankenden Ästen der Baumreihe an der Grenze zur Lichtung hockten die Rohrweihen. Obwohl die meisten von ihnen noch nie einen richtigen Winter miterlebt haben konnten, musste ihr Instinkt ihnen gesagt haben, dass die Gräser bald von den kleinen Nagern zittern würden, die sich noch vor dem ersten Schnee in den nächsten Stunden Vorräte und einen Platz zum Überwintern suchen würden.
Ich hatte meinen Big Boy unter dem Bett vergessen. Ich war überzeugt, an diesem Tag sicher zu sein. Keine Situation, die mehr als ein Messer erfordern würde. Ich musste mich nur von den Flughunden fernhalten. Dennoch nahm ich mir vor, von nun an die Hütte nicht mehr ohne Gewehr zu verlassen. Unter dem Blick der Habichtverwandten trat ich in den kalten Schatten des Waldes. Nach ein paar Metern drehte ich mich um. Hinter mir war die Wiese zu einer grellen Masse zerflossen, in deren Licht nichts mehr zu erkennen war.
Nach wenigen Schritten wurde ich fündig. Im Dickicht leuchtete es. Ich bog den Farn zur Seite. Zwischen Moospolstern stand eine etwa fünf Zentimeter hohe Blume, die, soweit ich mich erinnerte, noch in keinem meiner Verzeichnisse auftauchte. Es konnte sich um eine neue Art handeln, vielleicht aber auch bloß um eine Mutation. Die Pflanze, möglicherweise zur Familie der Ericales gehörig, besaß genau fünfzehn offen-glockige gelbe Blütenblätter mit rosafarbenen Staubblättern und einem Griffel, der von einer dunkelvioletten Narbe gekrönt wurde.
Behutsam drehte ich einen der robusten Stängel aus dem lockeren Erdreich. Der winzige Samen, der durch meine Lupe am Ende der haarfeinen Wurzel zu erkennen war, hatte den Jahreszeitenwechsel offenbar sofort registriert. Er hatte getrieben. Der süße, schokoladige Duft, den die Blütenblätter verströmten, besaß eine starke Wirkung, die aus der Not geboren war: Wo anderen Blumen Wochen blieben, um bestäubt zu werden, hatten sie wohl nur Tage. Mit Erfolg. Im Gegenlicht, das zwischen den Stämmen in Streifen einfiel, glitzerten Insektenwolken....
Erscheint lt. Verlag | 30.8.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Bayern • Dystopie • Ein Buch von S. Fischer • Eremit • Eskapismus • Fernsehbranche • München • Neunziger Jahre • Norwegen • Zukunft |
ISBN-10 | 3-10-491757-4 / 3104917574 |
ISBN-13 | 978-3-10-491757-3 / 9783104917573 |
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