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Der Kaninchenstall (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
416 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30447-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Kaninchenstall -  Tess Gunty
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Tess Gunty ist die jüngste Preisträgerin des National Book Award seit Philipp Roth und das größte Talent der amerikanischen Literaturgeschichte seit David Foster Wallace. »Der Kaninchenstall« verspricht eine solch intensive Lektüre, dass man kaum noch von »lesen« sprechen mag. »Durchleben«, »durchstaunen« wären bei diesem Meisterwerk weitaus angebrachter, gar »Erlebnis« kommt einem in den Sinn. »Lebensverändernd« ist sie mindestens, die Lektüre dieses Romans.  Die ätherische Blandine, die eine Obsession für Hildegard von Bingen entwickelt hat und durch das System gefallen zu sein scheint, lebt nur durch die dünnen Wände eines schäbigen Apartmentkomplexes in einem ehemaligen Industrieort in Indiana von ihren skurrilen Nachbarn getrennt: einer Frau, die online Nachrufe schreibt, einer jungen Mutter mit einem dunklen Geheimnis, und jemandem, der im Alleingang einen Feldzug gegen Nagetiere führt. Willkommen im Kaninchenstall. Ein Roman über den amerikanischen Rust Belt und seine Bewohner, die keineswegs alle über einen Kamm zu scheren sind, wie man fälschlicherweise annehmen könnte. Eine schonungslos schöne und beißend komische Momentaufnahme des zeitgenössischen Amerikas, eine hinreißende und provokante Geschichte über Einsamkeit und Sehnsucht, Verstrickung und schließlich: Freiheit. 

Tess Gunty ist in South Bend, Indiana, geboren und aufgewachsen. Sie hat Kreatives Schreiben an der NYU studiert. Gunty lebt in Los Angeles. »Der Kaninchenstall« ist ihr erster Roman.

Tess Gunty ist in South Bend, Indiana, geboren und aufgewachsen. Sie hat Kreatives Schreiben an der NYU studiert. Gunty lebt in Los Angeles. »Der Kaninchenstall« ist ihr erster Roman. Sophie Zeitz, geboren in Frankfurt am Main, übersetzt amerikanische und englische Literatur, u.a. die Romane von John Green, Raven Leilani und Douglas Stuart, Krimis von Jilliane Hoffman und Klassiker von H. D. Thoreau und Joseph Conrad. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet und lebt in Berlin. 

Alle zusammen, jetzt


C12: Am Mittwochabend gegen neun starrt der Mann, der vier Etagen über dem Verbrechen wohnt, in eine App namens Rate Your Date (für Erwachsene!). Die App leuchtet tiefrot, und er ist sich ziemlich sicher, dass sie leer ist. Wie viele Männer, die weibliche Zurückweisung erlebt haben, glaubt der Mann aus C12, dass Frauen auf diesem Planeten mehr Macht haben als alle anderen. Auf Fakten, die dagegensprechen, reagiert er mit Wut. Diese Art Wut ist typisch für Menschen, die sich einem Verliererargument verschrieben haben. Der Mann – mittlerweile Mitte sechzig – liegt im Dunkeln auf seiner Decke. Er ist fertig mit dem Tag, aber der Tag ist noch nicht fertig mit ihm; es ist noch zu früh zum Schlafen. Als Holzfäller hat er sein berufliches Verfallsdatum überschritten, aber ihm fehlen die finanziellen und die psychologischen Rücklagen für den Ruhestand. Häufig spürt er das Gewicht von Phantomholz, das er auf dem Rücken trägt wie ein Kind. Häufig spürt er das Gewicht eines Phantomkindes, das er auf dem Rücken trägt wie Holz. Seit seine Frau vor sechs Jahren starb, wirkt die Wohnung leer, obwohl sie mit Möbeln vollgestellt ist. Schwitzend hält er das große, helle Display in den Händen.

ganz süß, wien papa, aber dicker als auf den profilfotos. augenkontakt=falsch. fragt nix und guckt panisch auf die preise. geldbeutel mit klettverschluss, hat Userin MelBell23 vor zwei Wochen auf seinem Profil kommentiert. riecht wie gary, indiana.

Der einzige andere Kommentar wurde vor sechs Monaten gepostet, von DeniseDaBeast: dieser Mann ist eine tiefkühlkrokette.

In einer Wohnung weiter unten ist die Hölle los. Eine Party, nimmt er an.

 

C10: Der Teenager dimmt die Zimmerlampen zu schmeichelnden Heiligenscheinen. Er fährt sich durchs Haar, trägt Lippenbalsam auf. Tupft sich Eau de Toilette von einer Zeitschriftenprobe auf die Brust, auch wenn er weiß, dass die Geste absurd ist. Stellt den Kamerawinkel so ein, dass seine besten Linien und Schatten zur Geltung kommen. Seine Mutter hat Nachtschicht, aber er schließt trotzdem die Tür ab. Macht dreißig Jumping Jacks, dreißig Push-ups. Tippt: Ich bin bereit.

 

C8: Die Mutter nimmt das Baby mit auf die Couch und zieht das T-Shirt hoch. Eigentlich sollte es so spät nicht mehr wach sein, aber Babys halten sich nicht an Regeln. Beim Trinken will es bonden, und die Mutter versucht es. Versucht es noch mal. Versucht es wirklich. Aber sie schafft es nicht. Das Baby feuert arglistige, telepathische, erwachsene Vorwürfe gegen ihre Haut. Sie kann es spüren. Es saugt sich fest, kratzt sie mit Nägeln, die noch zu zart sind, um geschnitten zu werden, aber lang und scharf genug, um sie zu schneiden. Mit der freien Hand greift sie nach dem Handy. Eine Nachricht der Mutter der Mutter: Sie schickt ein Foto von Daisy, der Bartagame, in einem Mini-Bikeroutfit. Ein gepolsterter Helm an den stacheligen Echsenkopf geschnallt, eine schwarze Kunstlederjacke um den Bauch gezurrt. Auf dem Rücken der Jacke steht in Hells-Angels-Schrift: DRAGON DISASTER. Die Echse steht auf dem Esstisch und starrt mit unergründlicher Miene in die Kamera. Die Mutter der Mutter zoomt das Dinosaurierauge heran, das sie aus einer fernen Zeit zu beobachten scheint, vor neunzig Millionen Jahren.

Du hast dein Baby, ich hab meins!!, schreibt die Mutter der Mutter, die mit ihrem zweiten Mann in Pensacola lebt. HA HA HA! Roy hat das Outfit aufgetrieben … zum Piepen, oder??? Gott segne dich und mein süßes Enkelbaby

Gereizt wischt die junge Mutter die Nachricht weg und scrollt in drei Social-Media-Plattformen herum, das warme Gewicht ihres Babys unter dem rechten Arm, das beim Trinken leise zufriedene Geräusche von sich gibt. Wie üblich toben sich im Internet Raubtiere aus. In der Stadt gibt es nur Raubtiere. Wenn die Mutter die Handlung der heutigen Zeit zusammenfassen müsste, würde sie sagen: Jeder bestraft jeden für Dinge, die keiner getan hat. Und sie sitzt hier, weigert sich, ihr Baby anzusehen, bestraft es für etwas, das es nicht getan hat.

Die Mutter hat panische Angst vor den Augen ihres Babys.

Das Baby ist vier Wochen alt. Seit vier Wochen lebt die Mutter im Keller ihres Verstandes. Den ganzen Tag hat sie ihre Ängste mit Mamablogs geschürt. Mamablogs sind grauenhaft, noch schlimmer als medizinische Webseiten, aber genauso darauf angelegt, deinen Thanatos auszubeuten. Muttersein ist die wertvollste Arbeit, die du je leisten wirst, verkünden die Mamablogs mit wetterfester Überzeugung. Bevor sie die Seiten anklickte, hat sie sich für die schlimmstmögliche Diagnose gewappnet, dachte sie: Du bist eine schlechte Mutter. Aber das war nicht die schlimmstmögliche Diagnose. Du bist eine Psychopathin, urteilen die Mamablogs über sie. Du bist eine Gefahr für die Menschheit.

Auf dem Sofa, mit dem Baby im Arm, steigt Panik in der Mutter auf und sie versucht, dagegen anzukämpfen. Tief einatmen, die Spannung ausatmen. Stirn, Brauen, Mund lockerlassen. Nichts hören außer dem Surren des Deckenventilators. Sie soll sich vorstellen, ihr Körper wäre eine Qualle oder so was. Visualisieren, wie sich die Grenzen zwischen ihr und dem Rest der Welt auflösen. Ihre Cousine Kara, mit der sie früher zusammenwohnte, hat ihr die Tricks beigebracht.

Bevor die Mutter Mutter wurde, war sie Hope. »Witzig, dass ausgerechnet du Hope heißt«, hat Kara einmal gesagt. »Du bist eine der hoffnungsloseste Mensch, den ich kenne.« Nach der Highschool fing Hope als Kellnerin und Kara als Friseurin an. Zusammen wohnten sie in einem billigen Häuschen am Fluss. Kara stand auf Neonklamotten, Zimtkaugummi und leidende Männer. Sie wechselte alle paar Monate die Haarfarbe, doch ihre Lieblingsfarbe war Lila. Sie war ein erstaunlich glücklicher Mensch, sang aus vollem Hals Celine Dion und tanzte beim Kochen. Hope stellte sich häufig vor, wie es wäre, in der Psyche ihrer Cousine Ferien zu machen. Einmal, mit zwanzig, hatte Kara Hope um drei Uhr morgens im Bad gefunden, zusammengerollt auf den Fliesen, schluchzend vor Angst, Angst vor allem – einem Allem, das so groß war, dass es auf nichts hinauslief, und das Nichts verschluckte sie, verschluckte alles. Am nächsten Tag ging Kara mit Hope zu Vegetable Bed, Vacca Vales einzigem Naturkostladen, einem Würfel flackernden Lichts, der sie mit dem Duft nach Gewürzen und einer Vielfalt an Zuckeralternativen verzauberte. Sie trugen eine große Papiertüte mit homöopathischen Heilmitteln nach Hause, die Hope weder verstand noch sich leisten konnte: Eisenhut, Arsenicum album, Ignatia. Immer wenn Hope in eine ihrer elektroschockartigen Schattenphasen stürzte, verordnete ihr Kara eine Handvoll Kügelchen, kochte Lavendeltee, ordnete Spaziergänge an. Meditation. Yoga. Magnesium. Häufig schaltete sie eine Episode von Hopes Lieblingsserie Meet the Neighbors ein. »Trag diese Kette«, sagte Kara. »Das ist Amethyst – ein beruhigender Quarz, toll gegen Angst. Wehrt negative Gefühle ab. Hier, mach diese Atemübung mit mir.« Wie Kara Männern, die sie in Bars kennenlernte, gern erzählte, war sie Myers-Briggs-INFP (»Mediatorin«), Enneagramm Typ 2 (»Geberin«), astrologische Jungfrau (»Heilerin«). Sie war überzeugt, dass Kümmern ihre Berufung war.

Hope hat immer noch Karas Fliederstimme im Ohr, wenn sie die Atemübung macht. Tief einatmen. Ausatmen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn. Noch mal. Beim Atmen spürt Hope ihr Baby auf der Haut, warm und weich.

So rätselhaft ist ihre Angst gar nicht, versucht sie sich zu beruhigen. Ihr Mann ist den ganzen Tag auf der Baustelle, und in Hopes jüngerer Geschichte kommt Schlaf nicht vor, nur ein Kloß im Hals von einer anrückenden Erkältung. Ihre Brüste sind zu Melonen angeschwollen, durch die Hauptleitungen in ihrem Gehirn schießt Strom, und ihr Körper hat sich ganz ohne Kaffee zu einer hyperanimalischen Wachsamkeit hochgeschaukelt. Die Hormone haben die Lautstärke der Welt voll aufgedreht, ihre Ohren babywärts gerichtet, zwingen sie, auf seine neue, gurgelnde Stimme zu lauschen, rund um die Uhr. Sie fühlt sich wie eine Füchsin. Eine Füchsin auf Adderall.

Von den anderen Körperschrecken ganz zu schweigen. Nach der Geburt war Schluss mit Pussy, da war nur noch Vagina. Langsam wird Hope klar, dass Schwangerschaft, Geburt und Kindbett drei Akte eines Horrorfilms sind, den dir niemand zeigt, bis du ihn selbst erlebt hast. In der katholischen Schule mussten Hope und ihre Mitschülerinnen Dokus über Abtreibungen sehen, in denen gezeigt wurde, wie die Frauen hinterher weinen und der Fötus vor den medizinischen Instrumenten zurückschreckt. Aber hat ihr irgendjemand gesagt, was passiert, wenn man den Fötus aus der Gebärmutter in die Welt drückt? Nein. Das war etwas »Schönes«. Etwas »Natürliches«. Vor allem ein »Wunder«. Mutterschaft unter dem heiligen blauen Mantel, die schauerlichen Details vertuscht, eine raffinierte Verschwörung, um Katholiken dazu zu bringen, noch mehr Katholiken in die Welt zu setzen.

Beim Stillen wird die Mutter von Nachwehen durchzuckt wie von göttlichen Blitzen. Stillen ist nicht intuitiv, und beim Abpumpen kommt sie sich vor wie eine Cyborg-Kuh. Wenn sie niesen muss, pinkelt sie sich in die Hose. Deswegen soll sie Kegel-Übungen machen, die die Hölle sind. Im Internet steht, sie soll sich vorstellen, sie würde...

Erscheint lt. Verlag 6.7.2023
Übersetzer Sophie Zeitz
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte amanda gorman • Amerika • Amerikanische Literatur • chosen family • David Foster Wallace • Debütromane 2023 • Euphoria • Feminimus • Florence Given • Geheimnis • Gesellschaftsikritik • Kindheit • Meg Wolitzer • National Book Award • rabbit hutch • Rust Belt • south bend • Teenager • Waterstones Debut Fiction Prize
ISBN-10 3-462-30447-X / 346230447X
ISBN-13 978-3-462-30447-3 / 9783462304473
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