Kleine Probleme (eBook)
208 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30318-6 (ISBN)
Nele Pollatschek, 1988 in Berlin geboren, hat Englische Literatur und Philosophie in Heidelberg, Cambridge und Oxford studiert und wurde darin 2018 promoviert. Für ihren Debütroman Das Unglück anderer Leute (2016) erhielt sie den Friedrich-Hölderlin- Förderpreis (2017) und den Grimmelshausen-Förderpreis (2019). Es folgte das Sachbuch Dear Oxbridge. Liebesbrief an England (2020). Nele Pollatschek schreibt für Die Zeit, sie wurde Kulturjournalistin des Jahres (2023, 2024), erhielt den Deutschen Reporterpreis (2022) sowie den Förderpreis für Komische Literatur (2024).
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 06/2024) — Platz 16
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 05/2024) — Platz 15
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 04/2024) — Platz 13
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 03/2024) — Platz 15
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 01/2024) — Platz 20
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 02/2024) — Platz 15
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 43/2023) — Platz 19
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 42/2023) — Platz 18
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 41/2023) — Platz 14
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 40/2023) — Platz 9
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 39/2023) — Platz 20
Nele Pollatschek, 1988 in Berlin geboren, hat Englische Literatur und Philosophie in Heidelberg, Cambridge und Oxford studiert und wurde darin 2018 promoviert. Für ihren Debütroman Das Unglück anderer Leute (2016) erhielt sie den Friedrich-Hölderlin- Förderpreis (2017) und den Grimmelshausen-Förderpreis (2019). Es folgte das Sachbuch Dear Oxbridge. Liebesbrief an England (2020). Nele Pollatschek schreibt für Die Zeit, sie wurde Kulturjournalistin des Jahres (2023, 2024), erhielt den Deutschen Reporterpreis (2022) sowie den Förderpreis für Komische Literatur (2024).
2. Linas Bett
Es ist natürlich vollkommen unmöglich, alles an einem einzigen Tag zu schaffen. Aber es ist auch vollkommen unmöglich, ein anderer zu werden. Wenn man sich jahrelang mit sowas beschäftigt, dann weiß man, dass der Weg zum Unmöglichen das Unmögliche ist. Reine Mathematik. Minus mal minus gibt plus und unmöglich mal unmöglich ergibt eben doch oder zumindest jetzt erst recht. Johanna würde sagen, dass Mathematik so nicht funktioniere, und mit Mathematik kennt sie sich aus, Mathematik und Latein, die schweren Fächer, meine Johanna. Aber mit dem Unmöglichen kennt sie sich eben nicht aus. Das Unmögliche ist mein Fach. Auch kein ganz leichtes.
Außerdem würde Johanna sagen, ich solle doch bitte mal pragmatisch sein. Pragmatik ist Johannas drittes Fach, das unterrichtet sie zu Hause und bislang unbenotet. Ich schaute meine Liste also noch einmal ganz pragmatisch an. Streichen konnte ich da nichts mehr, sonst würde es nicht funktionieren, sonst würde der Spalt sich wieder schließen und ich stünde immer noch mit beiden Beinen fest in mir, oder mit beiden Beinen wackelig, mit weichen Knien, taumelnd, aber auf jeden Fall in mir, und da wollte ich doch weg.
Das Lebenswerk machte mir Sorgen und natürlich dachte ich dein Lebenswerk sind Sorgen, Lars, aber das sind die schlimmen Stimmen, auf die man in so einer Situation echt nicht hören darf. Vielleicht hätte ich doch lieber Erol schreiben auf die Liste stellen sollen, jetzt stand da eben Lebenswerk und Lebenswerk ist ein sehr großes Wort, der K2 der Wörter, und ich musste ihn besteigen, mit weichen Knien und ohne meine Sherpa. Ich suchte eine freie Stelle zwischen Geschirr und Altpapier, wischte den Zucker zur Seite und klopfte dreimal mit der Faust auf den Tisch, es klebte ein bisschen, aber dafür klang es gut, dumpfes Holz und glockenhelles Gläserklirren, als käme der Weihnachtsmann mit leichter Verspätung und zerknautschten Geschenken doch endlich noch zu mir. Über das Lebenswerk würde ich später nachdenken, beim Putzen. Johanna sagt, dass sie beim Putzen immer die besten Ideen hat, ich beim Fernsehen, deswegen teilen wir uns das meistens auf.
Beim elften Punkt auf der Liste fehlte noch ein Verb. Vielleicht Johanna beglücken, aber das klang gleich so sexuell, und das war ja nicht unser Problem, nicht ursächlich. Johanna begeistern oder Johanna eine Freude machen, das würde mir später noch einfallen. Das war ja das Gute an einer Liste, auf der so viel Ödes stand, da hatte man dann Zeit zum Nachdenken, vor allem, wenn man pragmatisch vorging.
Ich zündete mir noch eine Zigarette an und dachte darüber nach, welche Aufgaben sich am besten verbinden ließen und in welcher Reihenfolge, nahm mein Telefon in die Hand, um vorher noch schnell mein Postfach zu checken, vielleicht hatte Erol schon geschrieben und ich wollte ihn nicht warten lassen, nach dreimal zwölf Monaten wäre mir das wirklich unangenehm gewesen. Auf meinem Telefon war noch ein Artikel über die Zehn Dinge, die dir helfen, dein Leben besser zu organisieren, und das war genau das, was ich jetzt brauchte.
Ich war gerade bei 6. Einfach machen, als die Uhr am Herd piepte. 13:00. So nicht, Lars Cornelius Messerschmitt, so verdammt nochmal nicht. Das ist doch der älteste Trick des Internets, und du hast doch gerade erst Punkt drei gelesen Das Telefon einfach mal weglegen. Ich drückte die Zigarette aus und legte das Telefon zwischen eine pelzige Kaffeetasse und eine Aluminiumschale mit Curryresten, die bestimmt noch gut waren. Wenn man allein wohnt, ist noch gut ein Gummiband. Dann stand ich auf und schob das Telefon ins Tiefkühlfach, sicher ist sicher.
Bevor ich die Küche verließ, schmiss ich noch schnell die Spülmaschine an, die würde ich dann später ausräumen und dann gleich wieder einräumen, und Johanna würde sagen, dass ich das sehr pragmatisch gelöst hätte. Ich zog den Werkzeuggürtel an, er lag noch neben dem Herd, und schnappte im Vorbeigehen die Rolle Gaffaband vom Kühlschrank. Ich wusste nicht, wofür ich es brauchen würde, aber eines hatte ich bei der Arbeit mit Kameramännern gelernt. Was die Welt im Innersten zusammenhält, ist Gaffaband.
Ich bahnte mir einen Weg durchs Wohnzimmer, vorbei an leeren Zigarettenpäckchen und vollen Aschenbechern, lüften musste ich später auch noch. Lüften und vielleicht mal duschen. Ich knarzte die Treppe hoch und nahm gleich den Stapel Papiere mit, der noch in mein Arbeitszimmer musste, pragmatisch eben. Und Johannas Akkuschrauber, keine Ahnung, wie er da hingekommen war. Dann stand ich in Linas Zimmer und Margaret Thatcher schaute auf mich herab.
Kinder muss man nicht verstehen, man muss sie nur lieben, sagt Johanna, und das kommt unserer Beziehung zu Lina sehr entgegen. Lina war seit einiger Zeit in einer Margaret-Thatcher-Phase, davor war es Beyoncé. Wie gesagt, nur lieben.
Seit letztem Weihnachten hing Margaret Thatcher jetzt schon über Linas Matratze und blickte eisern in ihr Zimmer. Auf Linas Jugendstilschreibtisch und die trutschige Lampe im Tiffany-Stil, auf den Biedermeierschrank und die spätviktorianischen Porzellanpuppen mit den toten Augen, auf das geschwungene Schminktischchen, die beiden Friseurföhne und das stabförmige Ding, das aussieht, als vibriere es, von dem mir aber glaubhaft versichert wurde, dass es sich lediglich um ein Onduliereisen handle, nicht dass mich das was angeht oder irgendwie stört, die Kinder sollen Freude haben an ihren Körpern, ich will halt nur echt nichts davon wissen, das sind Bilder, die wird man nie wieder los. Daneben Wäscheklammern. Das haben wir uns bei Yannis nicht so gefragt, wie das wohl ist, wenn Kinder ihre Sexualität als digital natives entdecken, man weiß ja, was man im Internet so alles findet, als Erwachsener kann man da ja entscheiden, also, auch was man moralisch überhaupt in Ordnung findet, aber bei Pubertierenden, das ist nicht wie damals die Bravo und dann die weichgezeichneten Magazine hinterm Tresen, heute kommt einem das richtig bieder vor im Vergleich mit dem, was die Kinder im Internet, egal.
Bis auf die Staubschicht war Linas Zimmer erleichternd ordentlich. Seit Johanna nach Lissabon gefahren war, hatte ich Linas Zimmer nicht mehr betreten, genau wie Yannis’ altes Kinderzimmer oder das Schlafzimmer oder mein Büro. Eigentlich hatte ich die meiste Zeit unten verbracht, zwischen Wohnzimmer, Küche und Gästebad, letzteres auch eher selten. Auch diese Entscheidung im Nachhinein enorm pragmatisch, weil ich mir ziemlich sicher sein konnte, dass ich nur unten richtig putzen müsste, beim Rest des Hauses würde eine schnelle Runde mit dem Staubsauger reichen. Und vielleicht Staub wischen, wieso sammelt eine Sechzehnjährige viktorianische Porzellanpuppen? Wie soll man das denn bitte entstauben, fragte ich mich, delegierte das Problem aber sofort an später, delegieren ist wichtig, wenn man im Leben etwas erreichen möchte.
Ich öffnete den Biedermeierschrank und hievte die beiden großen Pappkartons heraus, die Lina unter die Kleiderstange mit den pastellfarbenen Wollkostümen geschoben hatte. Wir haben ihr das Bett zum vierzehnten Geburtstag gekauft, bei einem großen schwedischen Möbelhaus, das sich auf Korea reimt, aber nicht sehr gut. Den Abbau ihres alten Kinderbetts hatte ich noch geschafft, ich hatte es sogar auf die Straße getragen für den Sperrmüll, aber das neue Bett, ich muss es wirklich nicht nochmal erklären, es lag halt immer noch in zwei Pappkartons in Linas Schrank, wie so ein pochendes Herz unter den Dielen.
Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass Lina das Bett natürlich längst hätte selbst aufbauen können. Es gibt wenig, was Lina nicht kann, und ein Bett aufbauen gehört sicherlich nicht dazu. Ich habe ihr das mal gesagt, dass sie es doch einfach selber machen könnte, anstatt mir die ganze Zeit so ein beschissen schlechtes Gewissen zu machen.
Weißt du, Papa, wenn ich das jetzt mache, dann lernst du es nie. Das sagte sie, und dann legte sie sich seufzend auf die Matratze auf dem Fußboden und schlief ein, während Margaret Thatcher mit ihren stahlblauen Augen auf mich herabschaute.
Ich zog die beiden Kartons übers Parkett und schnitt mit dem Teppichmesser die Pappe auf. Dann lehnte ich Linas Matratze an die Wand und stopfte Kissen und Decke in den Schrank.
Das Gute an Koreamöbeln ist, dass man genau weiß, was die Fallen sind. Man braucht viel Platz, das ist mal das Erste. Als Zweites muss man sich überlegen, wo man die Schrauben und den ganzen Kram aus den Plastiktüten hintut, damit man bloß kein Teil verliert und dann stundenlang danach suchen muss und sich so wahnsinnig ärgert, und dann rennt man hektisch durchs Haus, stößt sich den Zeh an der Türzarge, beschimpft Frau und Kinder, bereut es sofort, wird immer wütender, versucht es dann halt ohne das verdammte Teil, und dann passt was nicht, und dann versucht man es eben mit Gewalt, und dann bricht man sich eben den Mittelhandknochen und dann fährt man eben ins Krankenhaus und dann tut eben alles unendlich weh, und was nicht wehtut, wackelt noch drei Jahre später, da wackelt was, sagen die Kinder dann, und man sagt dann besser nichts. Also muss man auf den Kleinkram höllisch aufpassen, das weiß jeder, dann verliert man natürlich trotzdem irgendwas, das weiß auch jeder, aber deswegen hat man ja den Werkzeuggürtel, das Klebeband und die innere Ruhe.
Ich atmete tief ein, nahm die leere Obstschüssel vom Schreibtisch, schüttete den Inhalt der drei Plastiktüten hinein und klopfte mir auf die Schulter.
Das Bett ist so ein...
Erscheint lt. Verlag | 7.9.2023 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Dear Oxbridge • Familienleben • Humor • Lebens-Philosophie • Midlife Crisis • Nele Pollatschek • Prokrastination • to do • To-do-Liste |
ISBN-10 | 3-462-30318-X / 346230318X |
ISBN-13 | 978-3-462-30318-6 / 9783462303186 |
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