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Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31215-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah -  Cho Nam-Joo
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Die koreanische Bestsellerautorin Cho Nam-Joo widmet sich in diesem Entwicklungsroman einem Frauenleben, das geprägt ist von Armut und der immensen Scham, mit Mitte 30 noch unverheiratet zu sein. Manis Familie lebt in einem der ärmsten Stadtteile von Seoul. Ihr Vater arbeitet in einem Imbiss und ihre Mutter ist erwerbslos. Als kleines Mädchen träumte Mani davon, rhythmische Sportgymnastin zu werden, inspiriert durch Fernsehbilder der Olympischen Spiele 1988 in Seoul. Als Kind fängt sie mit dem Turnen an, muss aber schnell einsehen, dass sie im Vergleich zu anderen kein Talent hat. Sie wird ein einfaches, unerfülltes Leben führen, auch geprägt von der Demütigung, mit Mitte dreißig noch keine eigene Familie zu haben. Die Nachricht von der Stadtteilsanierung lässt die Immobilienpreise in die Höhe schießen, gleichzeitig erfährt Manis Familie zufällig, dass die Sanierung abgeblasen werden solle. Als ein Fremder ihr Haus kaufen will, ist die Familie uneins darüber, ob sie diesem gutmütigen Mann die Wahrheit sagen oder ihn täuschen soll. Ihr ganzes Leben lang haben sie sich an das Prinzip der Ehrlichkeit gehalten. Welche Entscheidung werden sie treffen, wenn sie vor dem größten Dilemma ihres Lebens stehen?

Cho Nam-Joo war neun Jahre lang als Drehbuchautorin fürs Fernsehen tätig. Ihr Roman »Kim Jiyoung, geboren 1982« hat sich weltweit über zwei Millionen Mal verkauft und war auch in Deutschland ein großer Bestseller. Cho Nam-Joo lebt in Korea.

Cho Nam-Joo war neun Jahre lang als Drehbuchautorin fürs Fernsehen tätig. Ihr Roman »Kim Jiyoung, geboren 1982« hat sich weltweit über zwei Millionen Mal verkauft und war auch in Deutschland ein großer Bestseller. Cho Nam-Joo lebt in Korea. Jan Henrik Dirks promovierte an der Seoul National University in Theaterwissenschaft und lehrt nun an der Gachon University und am Literature Translation Institute of Korea. Er übersetzt Romane und Sachliteratur und wurde 2015 für die Übersetzung des Romans »Vaseline-Buddha« von Jung Young Moon mit dem Daesan Literary Award ausgezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Da habe ich gesagt, ich möchte turnen


Wenn es nach meinem Vater ging, dann hatte Mama eine Schraube locker. Nur eine einzige unter Hunderten von Schrauben, und die war auch nicht ganz rausgefallen, sondern nur nicht fest angezogen. Irgendwo stimmte etwas mit Mamas Gleichgewicht nicht, zwar konnte sie aufrecht stehen, aber wenn man ein wenig an ihr rüttelte, war eindeutig ein leises Scheppern zu hören, wobei unklar war, woher es kam, und wenn man sie in Bewegung setzte, zitterte sie zwar ganz leicht, funktionierte aber ansonsten ohne größere Probleme. So sei das bei Mama. Als Kind war es mir nie recht bewusst geworden, aber als ich älter wurde, dachte ich, dass Vater ein ziemlich weiser Mensch sei.

Mama war die jüngste Mutter in unserer Klasse. Ich konnte gut mit ihr reden. Sie war meine beste Freundin. Eine Zeit lang, damals. Seit ich klein war, erzählte ich Mama alles, was ich gehört, gesehen und erlebt hatte, und sie hörte immer gut zu.

Damals mochte ich meinen Vater nicht. Egal, was ich sagte, er hörte nie zu, und wenn doch, sagte er nichts dazu. Es hatte etwas Beklemmendes. Wenn er freihatte, schlief er den ganzen Tag – das Gesicht zur Wand gerichtet. Für mich war Vater nichts als ein großes Stück Rücken, das nie antwortete. Warum ihn Mama wohl geheiratet hatte? Wenn ich sie fragte, blickte sie mit traurigen Augen ins Leere und meinte:

»Mein Vater hat auch immer gesagt, ich sei ganz schlimm unterbelichtet.«

Wie Mama sagte, waren Großvaters Worte ihr gegenüber immer begleitet von der Bemerkung »debiles Dummerchen«. Das gefiel mir zwar nicht, aber ich dachte mir einfach, er mache auf diese Weise vermutlich seinem Ärger Luft, darüber, dass er seine geliebte Tochter einem armen Schlucker zur Frau gegeben hatte.

Mamas Familie war zwar nicht steinreich, aber doch durchaus wohlhabend. Großvater hatte, seit Mama klein war, einen Reisladen betrieben und damit ziemlich viel Geld gemacht. Und sie war das einzige Kind der Familie. Sie sagte, sie sei auch das einzige Kind im Dorf gewesen, das in westlichen Kleidern herumgelaufen sei. Sie hatte auch – und das in der damaligen Zeit – Klavierstunden gehabt und Nachhilfeunterricht bei einem Hauslehrer, der bei ihnen wohnte, und einen Chauffeur gab es auch. Trotzdem konnte sie nicht Klavier spielen, hatte große Lernschwierigkeiten und schaffte es auch als Mittelstufenschülerin kaum, allein den Weg nach Hause zu finden. Deswegen gab es auch den Chauffeur. Großvater saß hin und wieder im Lotossitz da, leicht mit dem Körper hin und her schaukelnd und leise vor sich hin murmelnd:

»Alles verkorkst, deswegen. Wegen so einer kleinen Macke. Wenn von vornherein alles aussichtslos gewesen wäre, hätten wir sie einfach aufgegeben. Aber bei dem kleinen bisschen … Da müssen wir ja unserer Menschenpflicht nachkommen. Debiles Dummerchen.«

Mama hatte dazu nichts gesagt, sondern Großvaters Ansichten nickend zugestimmt. Insofern, als sie die Realität genau erkannte, war sie normal. Allerdings bestand diese Realität in ihrer eigenen Debilität. Mama war nicht normal, aber weil sie selbst nicht glauben konnte, dass sie nicht normal war, konnte es sein, dass meine nicht normale Mutter irgendwo doch nicht unnormal war. Es war ein ziemlich vertracktes logisches Rätsel. Wenn ein grün gekleideter Mensch sagt, alle grün gekleideten Menschen seien Lügner, ist er dann ein Lügner oder nicht? So in dieser Art halt.

Eigentlich hatte Mama keine großen Probleme. Doch immer mal wieder gab es plötzlich Momente, in denen sich die Schraube löste. Nicht in dem Maße, dass dies für sie zu großen Beeinträchtigungen im Alltag geführt hätte, aber doch so, dass sie sich merkwürdig verhielt. Besonders, wenn sie sich an fremden Orten befand, war sie manchmal ziemlich durch den Wind.

Als ich in die sechste Klasse ging, war es vorgekommen, dass ich mit Mama in der Stadt unterwegs war und wir die Bushaltestelle, an der wir hätten aussteigen müssen, verpasst hatten. Wir waren fünf oder sechs Stationen zu weit gefahren, und deshalb schlug ich vor, von der Haltestelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit der gleichen Buslinie in die entgegengesetzte Richtung zurückzufahren. Auch Mama wusste, dass wir ein ganzes Stück zu weit gefahren waren. Der Bus gegenüber fuhr genau dorthin, wo wir hinmussten, und Fahrtgeld hatten wir auch genug. Aber Mama meinte, wir sollten einfach zu Fuß gehen. Ich konnte es ihr so lange erklären, wie ich wollte, sie beharrte darauf, dass sie das Gefühl habe, wir würden mit dem Bus nicht zurückkommen. So standen wir dort am Fußgängerüberweg und stritten lauthals miteinander, bis ich Mama schließlich bei der Hand nahm und vierzig Minuten lang mit ihr nach Hause ging.

Das, was mein Großvater meiner Mutter als »debilste Aktion« ankreidete, war, dass sie meinen Vater getroffen hatte. Großvater sagte, er habe unheimlich viel Mühe darauf verwendet, meine Mutter in gewöhnlicher Weise zu erziehen. Nachdem sie ungewöhnlich spät gelernt hatte zu sprechen, zu laufen und ohne Windeln auszukommen, lernte sie auch in der Schule sehr schlecht. Deshalb hatte Großvater sie verwöhnt und verhätschelt, um sie zum Lernen zu bringen, so dass sie es schließlich mit Müh und Not auf eine Fachhochschule am Seouler Stadtrand geschafft hatte.

Es gab damals durchaus nicht viele Eltern, die eine lernunfähige Tochter unbedingt auf eine weit entfernte Fachhochschule schicken wollten. Die Nachbarn lachten meine Großeltern für ihre vergeblichen Mühen nur aus. Doch Großvater setzte seinen Willen durch. Denn er glaubte, mit einem Fachhochschulabschluss würde manches anders, und zumindest bestünde dann die Möglichkeit, einen Mann aus etwas besserem Hause für sie zu finden. So verflüchtigte sich das einst große Vermögen der Familie, und Mama heiratete schließlich meinen Vater, der als Handlanger auf der Baustelle am Gebäude der Fachhochschule arbeitete, auf die Großvater sie unter Aufwendung aller finanzieller Mittel geschickt hatte. Warum waren eigentlich alle Schulen, damals wie heute, ständig Baustellen? Mein Mutter brachte die Hochschule, auf die sie es so mühsam geschafft hatte, schließlich nicht zu Ende.

Wie ich erst später erfuhr, war sie noch vor dem Ende des ersten Semesters mit mir schwanger. Sie wurde von ihren Eltern rausgeworfen und brach die Schule ab. Schwanger – gemeinsame Wohnung – Kind – Heirat. So war die Reihenfolge offenbar gewesen. Eine Hochzeitsfeier hatte es natürlich nicht gegeben, nur eine eilige Eintragung im Standesamt, um meine Geburtsanzeige in die Wege leiten zu können. Wie sie sich das erste Mal getroffen hatten, wer sich zuerst verliebt hatte, wer dem anderen wie ein Geständnis gemacht hatte, wie es angefangen hatte, wie und wann sie es hinbekommen hatten, ein Kind zu machen – schließlich wurde meine Mutter immer vom Chauffeur zur Schule gebracht und abgeholt –, darüber verloren die beiden nie ein Wort.

Soweit ich weiß, hatte Vater keine Familie. Ich weiß auch nicht, ob er zur Oberschule gegangen war, und wenn ja, ob er sie abgeschlossen hatte. In der jährlichen Befragung zu den häuslichen Verhältnissen schrieb Vater jedes Mal etwas anderes. Mittelschulabschluss, Oberschulabschluss, Oberschule abgebrochen. Zusammengekommen waren ein Gelegenheitsarbeiter ohne Geld, ohne Bildung und ohne Familie und eine Studentin aus reichem Hause.

Im Fernsehen hatte ich einmal eine Dokumentation gesehen über eine Frau, die an einer rennommierten Frauenuniversität studierte, und einen Mann, der vor dieser Universität Bungeobbang verkaufte. Die beiden hatten einander geheiratet. Er war mutig gewesen, und sie hatte erkannt, dass es ihm ernst war. Der erbitterte Widerstand der beiden Familien hatte ihr Vertrauen zueinander umso mehr gefestigt. Die Worte des jungen Ehepaares, das den Wunsch äußerte, irgendwann gemeinsam an den Platz vor der Universität zurückzukehren, um dort Bungeobbang zu verkaufen, hatten mich zu Tränen gerührt und es mir schlagartig bewusst gemacht. Dass es mit meinen Eltern doch ganz ähnlich war. Na ja, obwohl …

Meine Mutter war ständig wütend, mein Vater blieb unverändert zugeknöpft. Als Mamas Genervtheit irgendwann ein Extrem erreicht und auch Vaters Desinteresse schlimme Ausmaße angenommen hatte, meldete ich unsere Familie bei einer Fernsehsendung an, in der Familienprobleme besprochen und gelöst wurden. Denn ich hatte das Gefühl, dass nicht mehr viel fehlte, bis es bei uns zu Hause zum großen Knall käme. Einige Tage später meldete sich ein Rundfunkmitarbeiter und stellte mir am Telefon verschiedene Fragen.

»Streiten Ihre Eltern oft?«

»Na ja, äh … Streiten tun sie eigentlich nicht.«

»Dann werden sie einander gegenüber wohl auch nicht gewalttätig?«

»Nein, das nicht.«

»Leidet einer der beiden vielleicht an Alkohol- oder Spielsucht? Oder geht fremd?«

»Soweit ich weiß, nein.«

»Ist einer der beiden mal von zu Hause weggelaufen?«

»Nein.«

»Ähm … Dann ist es vielleicht so, dass einer den anderen vollkommen ignoriert und wie Luft behandelt, obwohl er im gleichen Haushalt lebt? Man redet nicht miteinander, isst und schläft getrennt?«

»Meine Eltern schlafen nicht getrennt.«

»Sagen Sie … Wo ist denn dann das Problem?«

Da wurde es mir klar. Dass zwischen den beiden eigentlich alles in Ordnung war. Glücklich waren sie zwar auch nicht gerade, aber sie lebten einfach weiter, ohne dass es grundlegende Probleme gegeben hätte.

 

Nachdem unsere Turngemeinschaft in die Brüche gegangen war, hatte ich nichts mehr...

Erscheint lt. Verlag 11.1.2024
Übersetzer Jan Henrik Dirks
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Die Frau im Nebel • Feminismus • geboren 1982 • Gesellschaftsnormen • Han Kang • Jung Young Moon • Kim Jiyoung • Koreanische Literatur • K-Pop • Min Jin Lee • parasite • Patriarchat • rhytmische Sportgymnastik • Sexismus • Sexualität • Südkorea • unverheiratet
ISBN-10 3-462-31215-4 / 3462312154
ISBN-13 978-3-462-31215-7 / 9783462312157
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