Strom (eBook)
256 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60546-5 (ISBN)
Tobias Schlegl, Jahrgang 1977, moderierte lange beim Musiksender Viva, später die Satiresendung Extra 3 und das Kulturmagazin aspekte. Den Großteil seiner Fernsehjobs gab er 2016 auf und absolvierte eine Ausbildung zum Notfallsanitäter. Von diesem Beruf erzählte er in seinem Roman »Schockraum« (2020), der auf Anhieb zum Spiegel-Bestseller wurde. Tobias Schlegl lebt und arbeitet in Hamburg.
Tobias Schlegl, Jahrgang 1977, moderierte lange beim Musiksender Viva, später die Satiresendung Extra 3 und das Kulturmagazin aspekte. Den Großteil seiner Fernsehjobs gab er 2016 auf und absolvierte eine Ausbildung zum Notfallsanitäter. Von diesem Beruf erzählt er in seinem Roman »Schockraum« (2020), der auf Anhieb zum Spiegel-Bestseller wurde. Tobias Schlegl lebt und arbeitet in Hamburg.
2
»Guten Abend, General Kampa. Hier kommt die Nachtschicht. Haben Sie Ihre Tabletten genommen?«
Frank schließt die Tür und geht auf den alten Mann zu. Seine Crocs knartschen auf dem Linoleum.
Herr Kampa stöhnt leise. Frank greift nach der Tablettenbox und schüttelt. Die blauen Pillen für den Abend klappern in der dritten Kammer.
»Wo bleibt die Disziplin, Herr General? Denken Sie an Ihren Druck!«
Frank prüft die Vitalwerte. Kampa ist verkabelt, bei ihm wird dauerhaft der Blutdruck gemessen. 172/90. Bei einem systolischen Wert von 180 schlägt das Gerät Alarm.
Herr Kampa starrt Frank an. Sein Blick ist schwer zu lesen. Er hat etwas Finsteres, Strafendes und ist doch ausdruckslos. Frank ist sich unsicher, ob der General ihn überhaupt wahrnimmt. Vielleicht betrachtet er schon seit Stunden die Wand, und Frank ist ihm lediglich ins Sichtfeld getreten.
»Hallo? Jemand zu Hause?« Frank legt den Kopf schief. Vielleicht ahnt der General, dass ihm Großes bevorsteht, und bereitet sich innerlich vor.
Herr Kampa blinzelt, seine trockenen Lippen bewegen sich.
Frank lächelt aufmunternd.
»Docha«, haucht Herr Kampa.
»Wie bitte? Ich kann Sie nicht verstehen!« Als er sich hinunterbeugt, bemerkt Frank den unangenehmen Geruch, unverkennbar ekelerregend. Er beginnt, durch den Mund zu atmen, und lupft die Bettdecke. Ausgerechnet heute.
»War ja klar! Warum gehen Sie nicht zur Toilette, wenn Sie müssen?« Frank lächelt in sich hinein.
Er schlägt die Decke zurück. Kaum erträglich wallt ihm der Gestank entgegen. Die Schutzhose des Generals ist verrutscht. Braune Masse quillt auf die Auflage. Am Schenkel ein dunkler Fleck. Oberhalb des Knies endet Kampas Bein, vor einiger Zeit wurde es amputiert. Die Gefäße waren verschlossen, eine Folge der Diabetes.
»Da haben mir die lieben Kollegen aber eine schöne Überraschung hinterlassen. So liegen Sie schon eine ganze Weile, was?«
Frank hat keine Wahl, heute kommt Besuch. Kampa war einmal ein hohes Tier bei der Bundeswehr, jetzt liegt er da. Von draußen holt Frank Tücher und eine frische Auflage. Er packt den General an Hüfte und Schulter, drückt ihn hoch und auf die Seite.
Herr Kampa stöhnt auf. »Tochder!«, krächzt er.
»Ach, Tochter! Was ist mit Ihrer Tochter?«
Frank stützt Herrn Kampas Rücken mit dem Unterarm.
»Tochter! Ich … muss … Tochter!«
Mit einer Hand löst er den Klebestreifen der Schutzhose.
Der General räuspert sich. »Ich muss … meine Tochter abholen, vom Kindergarten.«
Frank wischt über den Hintern. Um die Einfärbung am Schenkel bemüht er sich gar nicht erst.
»Ihre Tochter geht nicht mehr in den Kindergarten. Die ist erwachsen.«
Herr Kampa grunzt. »Doch.«
Frank lässt ihn wieder auf den Rücken rollen. Die Auflage ist gewechselt, die neue Schutzhose sitzt. »Und jetzt nimm endlich deine Pillen.«
Er packt die dünnen Haare und drückt den Kopf nach vorn. Herr Kampa verzieht das Gesicht.
»Komm schon. Nicht so wehleidig!« Frank steckt ihm eine nach der anderen in den Mund und lässt ihn an der Schnabeltasse saugen.
»Na bitte. Das hätten wir. Nun bist du fein für deinen großen Auftritt.« Frank lächelt. »Ich lüfte mal, wenn’s recht ist. Nicht, dass sich die hohen Kollegen aus der Intensiv noch ekeln!«
Heute Nacht ist Frank ganz allein auf Station. Mal wieder. Alle krank. Trotzdem wird es gleich voll werden. Gleich kommen sie alle angerannt. Und dann werden sie sehen und staunen.
»Sagen Sie«, flüstert der General, »sagen Sie meiner Tochter, dass ich bald da bin.«
»Ich ruf sie nachher an, versprochen!«, antwortet Frank. Er zieht die Tür hinter sich zu und erstarrt.
*
Happy ist Diddy nicht, als er in den dunkelblauen Kasack schlüpft. Er ist spät dran und hat die Übergabe verpasst, aber das ist nicht das Thema. Eigentlich säße er jetzt mit Olli auf der Couch, bei Netflix, Pinot noir und Zartbitterschoki. Doch gerade, als sie den Tisch abgeräumt hatten, rief Paula an. »Ein absoluter Notfall«, »eine Riesen-Ausnahme«, »richtig was gut« habe Diddy bei ihr. Ob ihr bewusst ist, dass sie jedes Mal das Gleiche sagt? Wäre er Pflegedienstleiter – aber er ist nicht Pflegedienstleiter, und er will es auch gar nicht sein. Nur noch Orga am Hacken, Mangelverwaltung mit Chef im Nacken. Dabei ist er der Dienstälteste auf Station, fast dreißig Jahre im Beruf, zehn davon hauptsächlich hier in der Geriatrie. Er könnte den Laden mit links leiten. Aber dann hätte er kaum noch Zeit für die Patienten.
Diddy atmet tief durch und schlüpft in die Birkenstocks. Alle Betten sind belegt. Optimalerweise ist die Nachtschicht zu dritt. Tatsächlich arbeiten sie meist zu zweit. Heute hat sich kurz vor Dienstbeginn Anastasia krankgemeldet. Übrig blieb Frank. Keine Frage, Frank ist fit, der kann den Job. Aber ganz allein mit achtzehn Patienten – das ist gemein. Das möchte er selbst Frank nicht zumuten, obwohl der ihm nicht sonderlich sympathisch ist.
Diddy schließt den Spind. An der Tür hängt eine Klappkarte mit der Diddl-Maus, vor einer rosa-lila Wolke reckt sie ihm einen Blumenstrauß entgegen. Ganz liebe Geburtstagsgrüße! Jedes Jahr machen sich die Kollegen einen Scherz draus und schenken ihm eine Diddl-Karte. Er tauscht die alte gegen die neue und trägt es mit Fassung.
Auf der Station ist es still. Nur ein mattes Husten dringt aus dem ersten Isolationszimmer links vom Eingang, rechter Hand hört Diddy Hans und Doris schnarchen. Er mag den Trubel am Tag lieber als die Ruhe der Nacht, die so trügerisch sein kann. Diddy genießt es, wenn Leben in der Bude ist, wenn aus dem Fernseher in der Guten Stube die Kastelruther Spatzen schmettern und die dementen Patienten den Flur entlangmarschieren, immer im Kreis, bis sie müde sind.
»Dann mal los«, murmelt Diddy, greift sich zwei benutzte Tassen von einem Teewagen und eilt den Gang im Osten hinunter zum Cockpit. Vor dem Zimmer von Herrn Kampa bleibt er wie angewurzelt stehen.
»Nicht so wehleidig!«, hört er eine Stimme durch die Tür. Bei allem Respekt, Frank vergreift sich manchmal befremdlich im Ton. Vielleicht sollte er das bei Gelegenheit mit Paula besprechen. Vor knapp einem Jahr ist Frank ins Team gekommen – und seither eine echte Stütze, robust und belastbar. Gerade in brenzligen Situationen funktioniert er wie ein Uhrwerk. Und sein Wissen ist beachtlich – über Medikamente kann er regelrecht Vorträge halten: Dosierung, Kontraindikationen, Wirkweise, die physiologischen Abläufe. Er wäre ein guter Arzt geworden. Außerdem kann Frank reanimieren wie kein Zweiter, von ihm werden sich im Kollegium Heldengeschichten erzählt. Er war wohl mal Rettungssani, da sammelt man natürlich Erfahrung. Diddys letzte Reanimation ist ewig her. Irgendwie kommt er immer drumrum.
Die Tür schwingt auf.
»Ich ruf sie nachher an, versprochen!«, sagt Frank. Als er Diddy sieht, entgleist ihm sein spöttisches Grinsen.
»Hast du mich erschreckt, Diddy! Was machst du denn hier?«
»Ich bin für Anastasia eingesprungen. Hat dich das nicht erreicht?« Mal wieder typisch, denkt sich Diddy. »Ist alles ruhig so weit?«
Er wendet sich in Richtung Cockpit, Frank folgt ihm.
»Ja, so weit sind alle versorgt. Frau Kurz macht ihr übliches Theater – ›Hilfe, Hilfe!‹. Du weißt schon. Geht man rein, ist nichts.«
»Schmerzmittel hat sie?«
»Der Tropf ist komplett durchgelaufen, aber ich mache mir etwas Sorgen um den General«, sagt Frank und fängt an, in seinem Rucksack zu kramen, der neben einer Tastatur im Besprechungsraum liegt. »Er wirkt völlig weggetreten. Der macht’s nicht mehr lange, glaub ich«, sagt Frank abwesend.
»Hm. Sobald er Besuch hat, ist er das blühende Leben. Frank?«
Frank reagiert nicht, sein Kopf versinkt im Rucksack. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, ärgert sich Diddy.
»Übrigens, die Dokumentation hat noch viele Lücken«, murmelt Frank. »Mit herzlichen Grüßen der Spätschicht. Danke für nichts. Na endlich!« Er scheint gefunden zu haben, was er gesucht hat.
»Ach, mir reicht schon, dass alle im Bett sind. Wenn du...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bela B. Felsenheimer • Bestseller-Autor • Bücher 2023 Neuerscheinungen • Bücher zum nachdenken • Gesundheitssystem • Krankenhaus • Krankenpfleger • Leben und Tod • Macht • Matze Hielscher • Niels Högel • Notfallsanitäter • Pflege • Pfleger • Rettung • Sarah Kuttner • See. Not. Rettung. • SPIEGEL-Bestsellerautor • Tobi Schlegl Buch • Tobi Schlegl Sanitäter • Tobi Schlegl Viva • Wahre Begebenheit |
ISBN-10 | 3-492-60546-X / 349260546X |
ISBN-13 | 978-3-492-60546-5 / 9783492605465 |
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