Verfehlungen und Verbrechen (eBook)
176 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60547-2 (ISBN)
Ursula März, geboren 1957 in Herzogenaurach, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie in Köln und Berlin. Seit Anfang der 1990er Jahre arbeitete sie als Literaturkritikerin und Feuilletonistin unter anderem für die Kulturzeitschrift Kursbuch, für die Frankfurter Rundschau und für die Wochenzeitung DIE ZEIT. Sie erhielt 1991 den Preis der Casinos Austria für Publizistik und 2005 der Berliner Preis für Literaturkritik. Bei Hanser erschienen Fast schon kriminell: Geschichten aus dem Alltag (2011) und Für eine Nacht oder fürs ganze Leben: Fünf Dates (2015). Ihr erster Roman Tante Martl (2019) wurde ein Bestseller.
Ursula März, geboren 1957 in Herzogenaurach, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie. Seit Anfang der 1990er Jahre arbeitete sie als Literaturkritikerin und Feuilletonistin u.a. für die Kulturzeitschrift Kursbuch, die Frankfurter Rundschau und die Wochenzeitung DIE ZEIT. Sie erhielt 1991 den Preis der Casinos Austria für Publizistik und 2005 der Berliner Preis für Literaturkritik. Bei Hanser erschienen Fast schon kriminell: Geschichten aus dem Alltag (2011) und Für eine Nacht oder fürs ganze Leben: Fünf Dates (2015). Ihr erster Roman Tante Martl (2019) wurde ein Bestseller und verkaufte sich 80.000-mal.
Rotlicht
An einem Tag im Jahr 2011 sprach Rolf Vogelgesang auf dem Billigstrich um die Potsdamer Straße im Berliner Westen eine schwarzhaarige, sehr zierliche Prostituierte an. Er war kein geübter Freier. Er druckste herum und suchte nach den richtigen Worten für das, was er wünschte. Und welche Wünsche es waren, wusste er auch nur vage. Die Frau kam ihm zuvor, indem sie im sachlichen Geschäftston ihre Preise mitteilte: 20 Euro für die orale Variante im Auto, 50 Euro für eine halbe Stunde in einer Pension plus Zimmermiete.
Rolf Vogelsang hörte schon nicht mehr richtig zu. Binnen Sekunden ging sein Interesse so weit über alles Geschäftliche und Sexuelle hinaus, als sei in ihm eine Bombe gezündet worden. »Es hat mich«, wird er Jahre später als Prozesszeuge sagen, »sofort erwischt.« Ihn durchfuhr ein coup de foudre, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Er stand, da war er sich vollkommen sicher, der Frau seines Lebens gegenüber. Alles an ihr berührte und entzückte ihn. Alles war er von dieser Sekunde an bereit, für sie zu tun. Und er tat auch alles, um die Bulgarin Hanka Draganova, die an der Potsdamer Straße nur Hani genannt wurde, aus dem Schmutz der Straßenprostitution zu erretten. Schon bei der zweiten Begegnung eine Woche später lud er sie zum Essen in einem Grillimbiss ein. Sie kam ihm unterernährt vor, viel zu dünn für ihr Alter.
Er bezahlte sie dafür, dass sie mit ihm ins Kino ging, ihn auf Spaziergängen begleitete, sich im nahe gelegenen Tiergarten auf einer Decke niederließ und ein paar der gesunden Nahrungsmittel probierte, die er in einem Picknickkorb bereithielt. Er bezahlte die Stunden, die er damit zubrachte, ihr ins Gewissen zu reden und die Erbärmlichkeit ihres Daseins vor Augen zu führen. Er war besessen von der Idee, ihr mit all diesen Aktivitäten das Bild eines anderen, eines bürgerlichen, umsorgten und gesicherten Lebens an seiner Seite zu veranschaulichen. An einem Sonntagnachmittag stellte er ihr sogar seine beiden halbwüchsigen Kinder vor, damit sich die Mitglieder der Familie, die er für seine zukünftige hielt, schon einmal kennenlernen konnten. Kurz darauf trennte sich seine Frau von ihm und reichte die Scheidung ein.
Abend für Abend fuhr er mit dem Auto durch die Straßen des Rotlichtviertels, um Hani zu suchen. Wenn er sie nicht an ihrem Standplatz fand, gab er das frische Obst und die Vitaminsäfte, die er immer dabeihatte, am Tresen der Eckkneipe ab, in der sich die Prostituierten für eine Zigarettenpause trafen, bevor sie zurückkehrten aufs Trottoir.
Er wusste, dass er im Milieu der Zuhälter und Drogendealer für einen dieser Narren gehalten wurde, die quartalsmäßig auftauchen, sich mit dem Helden eines Hollywoodfilms verwechseln und nichts Besseres zu tun haben, als ihr Herz an eine Nutte zu hängen. Es war ihm egal. Tief in seinem Inneren dürfte er geahnt haben, dass er im Lauf des Jahres 2014 auf eine Weise ausgeplündert wurde, deren burlesker Einschlag die Infamie noch steigerte.
Rolf Vogelgesang, ein Mann von fünfzig Jahren, ein Ingenieur in leitender Position, dessen Leben sich bis dahin so unauffällig wie durchschnittlich gestaltet hatte, nahm den Ruin seiner gesamten Existenz hin. Er tat dies in einer Liebesraserei, die sich am ehesten mit religiösem Fanatismus vergleichen lässt. Für Hani war ihm kein Risiko zu groß, kein Abgrund zu tief, kein Opfer zu schmerzlich.
Im Spätsommer 2016 steht Rolf Vogelgesang in einem kurzärmligen Karohemd als einer von vielen Zeugen vor dem Berliner Landgericht. Angeklagt sind die 29-jährige Hanka Draganova und der 37-jährige bulgarische Dimitrov Tanev. Ihr wird Betrug vorgeworfen, bei ihm kommt aus Sicht der Staatsanwaltschaft allerhand zusammen. Zuhälterei, Menschenhandel, gefährliche Körperverletzung und betrügerische Erpressung sind nur die gewichtigsten Anklagepunkte. Schon am ersten Prozesstag deutet sich an, wie schwierig es werden wird, sie nachzuweisen.
Als Nebenklägerin tritt Tatjana Nedeva auf, ebenfalls eine bulgarische Prostituierte. Auf Schritt und Tritt wird sie von zwei Anwältinnen begleitet, denn es ist nicht auszuschließen, dass Hintermänner des Prostitutionsgewerbes sie bedrohen. Schützt sie deshalb den Angeklagten, indem sie jede halbwegs belastbare Aussage schon im nächsten Moment durch seltsam blumige Erläuterungen abschwächt? Oder schützt sie ihren Ruf als loyales Mitglied eines Milieus, das schmutzig und gewalttätig sein mag, aber der einzige Ort ist, an dem sie so etwas wie eine Heimat findet? Tatjana Nedeva ist 27 Jahre alt. Sie war 20, als sie zum Anschaffen nach Berlin kam. Sie hatte, wie die meisten der osteuropäischen Prostituierten, wie auch Hani, nie eine andere Arbeit ausgeübt, nie ein anderes Leben geführt als das am Straßenrand.
Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Berlin 2009 ging sie mit Dimitrov Hanev eine Partnerschaft ein, in der die Grenze zwischen Anhänglichkeit ihrerseits und finanzieller Ausbeutung seinerseits mäandernd verlief. Wie viel von ihren Einkünften sie ihm aushändigte, will sie vor Gericht nicht sagen. Ebenso wenig, ob sie es freiwillig oder unter der Androhung von Gewalt machte. Ob regelmäßig und nur gelegentlich. Genau dies aber sind die Kriterien, die das Strafgesetzbuch vorgibt, um über den Tatbestand der Zuhälterei zu entscheiden.
Eine Wohnadresse hatte Tatjana Nedeva in Berlin nicht. In vielen Nächten schlief sie mit Dimitrov Hanev im Auto auf dem mittleren Parkstreifen der Bülowstraße, die quer zur Potsdamer Straße verläuft. Wenn sie Geld hatten, übernachteten sie in einem der Billighotels der Gegend. Im Oktober 2013 wird Dimitrov Hanev verhaftet, zwei Monate später wegen Raub zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft verwickelt sich das Knäuel jener Ereignisse, die schließlich auch Rolf Vogelsang mitreißen und in den Ruin schleudern werden.
Zu Jahresbeginn 2014 wendet sich Dimitrov Hanev einer namentlich nicht genannten tschechischen Prostituierten zu, sie genießt nun sein persönliches Interesse. Sein wirtschaftliches an Tatjana Nedeva soll er umso brutaler durchgesetzt und sie gezwungen haben, Tag und Nacht auf dem Strich zu arbeiten, mit immer mehr Drogen, um wach zu bleiben. Er soll sie geprügelt und einmal mit einem Messer angegriffen haben.
In ihrer Wut auf die tschechische Nebenbuhlerin erstattete Tatjana Nedeva mehrmals Anzeige gegen Dimitrov Hanev. Allerdings zog sie die Anzeigen oft schon am Tag darauf zurück. Länger als eine Nacht hielt sie es im Frauenhaus, wo der Sozialdienst sie unterbrachte, nicht aus. Auf die Frage des Verteidigers von Dimitrov Hanev, weshalb sie nach den Misshandlungen nicht nur immer wieder zurückgekehrt sei zu seinem Mandanten, sondern regelrecht darum gekämpft habe, die Position der Favoritin in dessen zuhälterischem Management zurückzuerobern, gibt sie zu Protokoll: »Weil ich ein gütiges Herz und eine gütige Seele habe.«
Im Frühsommer 2014 werden die Karten noch einmal neu gemischt. Hani tritt nun an die Seite von Dimitrov Hanev. Wenn man beiden glauben mag, erlebten sie einen Blitzschlag der Liebe, wie er drei Jahre zuvor Rolf Vogelsang verglüht hatte. In einer von seinem Verteidiger verlesenen Erklärung teilt Dimitrov Hanev dazu mit: »Hani ist die Liebe meines Lebens. Ich musste mich von Tatjana und von der Tschechin trennen, ich liebte beide nicht mehr.«
Bisweilen ähnelt der Prozess einem Bühnenschwank, der das Publikum in den Genuss einer Zuckergussrhetorik nah an der Grenze zum Absurden bringt. Die Protagonisten wiederum, die dabei auftreten, erinnern an eine verschworene Dorfgesellschaft, zu deren obersten Gesetzmäßigkeiten es gehört, ihre illegalen Machenschaften, Intrigen und Machtkämpfe um keinen Preis nach außen dringen zu lassen.
An einem Prozesstag tritt ein junger Wirtschaftsjurist in den Zeugenstand, der zufällig im Rotlichtviertel um die Potsdamer Straße wohnt. Im Sommer 2015 erstattete er Anzeige gegen Dimitrov Hanev. Dieser habe ihm ein iPhone nicht zurückgegeben, welches er ihm zur Reparatur überlassen habe. Dem Angeklagten Hanev ist vieles zuzutrauen, Spezialkenntnisse auf dem Gebiet der Elektronik nicht unbedingt. Und warum, wundert sich der Richter, war Dimitrov Hanev mehrfach Gast im Wohnzimmer des Wirtschaftsjuristen? Könnte dies mit dem Erwerb von Crystal Meth zu tun gehabt haben? Auf solche Fragen hin tun sich im Kopf des Zeugen Gedächtnislücken...
Erscheint lt. Verlag | 30.11.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alltagskriminalität • Bagatelldelikt • Berlin • Gericht • Gerichtsreportage • Krimikolumne • Kriminalität • Milieugeschichten • Prozess • Prozessbeobachtung • Sabine Rückert • True Crime • True Crime Storys • Verbrechen • Verfehlungen • Vergehen • Wahre Geschichten • ZEIT Verbrechen |
ISBN-10 | 3-492-60547-8 / 3492605478 |
ISBN-13 | 978-3-492-60547-2 / 9783492605472 |
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