Der Vorweiner (eBook)
240 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3018-1 (ISBN)
Bov Bjerg, geboren 1965, ist Schriftsteller und Vorleser. Sein erster Roman hieß »Deadline«, sein zweiter, »Auerhaus«, wurde verfilmt und von vielen Theatern inszeniert. Eine Geschichtensammlung erschien unter dem Titel »Die Modernisierung meiner Mutter«. Mit »Serpentinen« war Bov Bjerg auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020.
Bov Bjerg, geboren 1965, ist Schriftsteller und Vorleser. Sein erster Roman hieß »Deadline«, sein zweiter, »Auerhaus«, wurde verfilmt und von vielen Theatern inszeniert. Eine Geschichtensammlung erschien unter dem Titel »Die Modernisierung meiner Mutter«. »Serpentinen« stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020.
Kapitel 2,
welches, da es einen vortrefflichen Eindruck der vollständigen Geschichte zu vermitteln vermag, an erster Stelle steht. Anna kittet ein Fenster, Frau Bartel stellt ihre Nacktschnecken vor. Ort: Bartels Garten (mit Lagerfeuer!)
(Alkoholkonsum, Rauchen, Gewalt gegen Weichtiere)
Als sie nach dem kurzen Winter wieder auf Bartels Datsche hinauskutschierten, herrschte ein ganz formidables Wetter. Sonntagswetter nannte man diesen wolkenlosen knallblauen Himmel, und seit vielen Jahren war jeder Tag ein Sonntag, seit vielen Jahren herrschte das gleiche prächtige Wetter, herrschte wolkenlos und knallblau der gleiche prächtige Himmel, vom Aufstieg der Sonne am Morgen bis zu ihrem Versinken am Abend herrschte wolkenlos und knallblau der gleiche prächtige Himmel, nur ganz gelegentlich verschleiert durch die Rauchschlieren der Steppen- und der Restwaldbrände.
Die Sonnenpfeile stachen durch die Baumkronen und bohrten in den Sandweg helle Tupfen. Licht und Schatten wechselten schnell und strengten A. wie Anna an, strengten ihre Augen an und noch mehr ihr Gehirn, das Mühe hatte, aus dem konfettihaften Flackern etwas Erkennbares, etwas wenigstens entfernt Bekanntes herauszufiltern. Doch den Fuß nahm Anna nicht vom Pedal.
Zwischen den hellen Klecksen lag bewegungslos ein dunkler Ball, mitten auf der Fahrbahn. Ein Gürteltier?
Es war zu spät, einen Bogen zu nehmen. Anna hielt auf die Kugel zu und nahm sie zwischen die Räder. Die Kugel verschwand unter dem Chassis.
Sie tauchte im Rückspiegel wieder auf, rollte sich auseinander, stand kurz da, für einen Moment, ein Halbrund auf kurzen Stelzen, dann verschwand das Tier mit schnellen Trippelschritten im Unterholz.
Annas Vorweiner fragte: »Wann stirbst du endlich?«
Anna entgegnete: »Das vermag ich nicht zu sagen. Nicht allzu bald, so steht zu hoffen.«
Sie sah konzentriert nach vorn auf den Weg.
Sie fragte: »Warum? Will Er zurück?«
Der Vorweiner holte tief Luft und gähnte dabei lange.
Anna setzte nach: »Ob Er zurückwill.«
»Nein«, sagte der Vorweiner. »Ich will nicht zurück.«
Anna sagte: »Wir fahren einfach hin und kitten.«
Der Vorweiner fragte: »Kitten?«
Sein Resteuropäisch war wirklich sehr gut. Der schwache Akzent hatte sich mit den Jahren fast abgeschliffen.
Anna sagte: »Nicht Katzen. Kitten. Fenster kitten.«
Der Vorweiner sagte: »Ich weiß. Bedeutet in meiner Sprache dasselbe. Fensterkatzen.«
Er war ein Spaßvogel. Es war schön, ihn bei sich zu haben.
Fünfzehn Uhr. Drei Akkorde meldeten den Beginn der Nachrichten.
Bei Apeldoorn, Niederlande, habe eine Familie einen Vergnügungspark besucht. Zum Abschluss hätten die Eltern den beiden Töchtern, sieben und acht Jahre alt, ausnahmsweise erlaubt, mit der Geisterbahn zu fahren. Die beiden Kinder seien im offenen Waggon in die Geisterbahn hineingerollt, allerdings nicht wieder herausgekommen. Die Mutter habe darüber den Verstand verloren. Die Nachrichtensprecherin sagte: »Seit diesem schrecklichen Erlebnis hat die Frau nicht aufgehört zu schreien. Wir wollen unseren Hörer:innen die Schreie der Mutter nicht vorenthalten.«
Schrecklich, dachte Anna, während in den Nachrichten die niederländische Mutter durchdringend schrie, röchelnd und kehlig.
Schrecklich, dachte Anna noch einmal, wirklich schrecklich. Doch dann stutzte sie. Wie geriet eine Meldung aus Apeldoorn in ihren Nachrichtenstrom? Das war nicht mehr ihre Melange. Jemand hatte die Formel verstellt.
Anna fragte den Vorweiner: »War Er am Radio?«
Er sagte nichts.
»Ob Er am Radio war.«
Der Vorweiner starrte zur Seite, in den schmalen Kiefernwald hinaus.
Anna fragte, jetzt etwas durchdringender: »Will Er zurück?«
Der Vorweiner sagte: »Nein, ich will nicht zurück. Ja, ich war am Radio.«
Anna tippte, ohne hinunterzusehen, auf das Display und stellte das Radio auf ihre Formel zurück.
In Königstein im Taunus habe sich ein Ehepaar im Keller seiner Villa eingeschlossen. Die Polizei habe die beiden für Einbrecher gehalten und den Mann erschossen. Wieder schrie eine Frau.
Schrecklich, dachte Anna.
Der Wagen wurde langsamer, das Reifenrollgeräusch verstummte beinahe, jetzt drang von draußen die Motorenlärmersatzmelodie herein, es war die Noise-Rock-Ambient-Version von »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus«, die andere Verkehrsteilnehmer vor Annas Wagen warnen sollte.
Über Bartels Grundstück waberte dichter Qualm. Der Wagen holperte über den Erdwulst am Wegrand und rollte in die Einfahrt hinein.
Anna hatte stets Furcht, die Wurzel eines Baumes oder eine andere Unebenheit könne den Wagenboden aufreißen und den Akku beschädigen. Es war widersinnig, eine Ladestation an einer derart holprigen Stelle zu platzieren.
Die beiden stiegen aus dem Wagen und hinein in den Rauch.
»Tach, Frau Meisterin«, grunzte Bartel.
»Seien Sie gegrüßt, Herr Bartel«, lächelte Anna, so gut sie konnte.
Am großen Feuer saß die Niederschicht, Bartel mit all seinen Verwandten und Wahlverwandten. Seine Kinder, seine Enkel, seine Freunde.
Am Feuer hockte auch ein junger Mann, den Anna hier noch nie gesehen hatte. Er wirkte etwas verloren.
Anna vermutete, dass es ein Vorweiner war. Es war das erste Mal, dass sie an Bartels Feuer einen fremden Vorweiner sah. Ihr eigener Vorweiner schaute sie fragend an. Anna konnte nur mit den Schultern zucken.
Jedes Mal wenn sie hierherkamen, loderte das Feuer. Lackierte Bretter kokelten darin, Kartons, Matratzen, Farbeimer, Autoreifen. Der Niederschicht ging der Müll niemals aus. Anna erschien es wie ein glücklicher Zufall, dass sie die alte Laube noch nicht verfeuert hatten.
Bartel brachte das Werkzeug und gab es Annas Vorweiner, wortlos und ohne ihn anzusehen.
Den Kitt reichte er Anna selbst, in einer Plastiktüte. Sie zog die Tüte auf und roch daran. Darauf hatte sie sich seit Tagen gefreut. Frischer Kitt, so roch das Leben. Leinöl.
Anna klopfte mit dem Messergriff vorsichtig den brüchigen Kitt aus der Fuge. Bei jedem Schlag klirrte leise das alte Fensterglas.
Die Bruchstücke zupfte sie heraus und legte sie dem Vorweiner in die Hand, dann saßen wieder ein paar Zentimeter trockenen Kitts ganz fest. Anna übersprang sie. Sie klopfte einmal ringsherum, dann betrachtete sie ihre Hand. Sie rieb die trockenen Fingerspitzen aneinander. Sie waren grau. Dunkelgrau. Das waren die Beweise würdiger Arbeit.
Anna drückte frischen Kitt in die Fuge des Fensters, Messerspitze für Messerspitze.
Als die beiden fertig waren, brachte Bartel zwei Flaschen Bier. Anna reichte eine an ihren Vorweiner weiter.
»Was darf ich Ihnen geben, Herr Bartel?«, fragte sie.
»Sagen wir zwanzig«, antwortete Bartel.
Anna zählte Bartel das Geld in die Hand. Das war es ihr wert. Es war eine schöne Arbeit. Bartel bedankte sich, Anna sagte sanft: »Ich habe zu danken.«
Sie verabredeten einen Termin für das Fensterstreichen im Mai und einen für die Kartoffelernte im Juni. Die Ernte belief sich auf dreißig pro Stunde, dazu kamen zwanzig für die Kartoffeln, pro Kilo. Im Laden kosteten sie zehn, doch hier waren die Kartoffeln selbst geerntet, eigenhändig. Das war es Anna wert. Sie würde ihre Finger in die sandige Erde bohren, würde mit den bloßen Händen darin graben, die Kartoffeln herausklauben, eine nach der anderen. Anna freute sich auf den Dreck, der noch tagelang unter den Fingernägeln kleben würde.
A. wie Anna lag ausgestreckt auf dem Gummipolster und blickte in die Sonne.»Wie ist denn das passiert?«, fragte der Betäuber mit tiefer, beruhigender Stimme.»Sieht ja schlimm aus! Schmerzen?«Etwas leiser, die Stimme etwas höher, aufgeregter: »Mensch, Mensch, Mensch.«Dann sagte er: »Zählen Sie bitte langsam bis zehn. Das kriegen wir schon hin.«»Eins, zwei, drei …«»Moment!«, rief der Betäuber.»… sieben, acht …«»Erst die Maske!«»… neun, zehn.«Anna sah vor sich das Messer, das Schwein, das Blut. Das saublöde Blut.Annas Stimme drang leise und dumpf unter der Maske hervor: »Eins. Das ist so passiert.«Später, im Herbst dann, würde sie Laub rechen, Kiefernzapfen einsammeln, umgraben. Das summierte sich alles, doch das war es ihr wert.
Bartel fragte: »Kommt ihr rüber?«
»Wir kommen gleich!«, rief Anna.
Der Vorweiner reichte ihr das Geschirrspülmittel. Sie drückte einen Tropfen auf die Zeigefingerspitze, dann zog sie sorgsam den Kitt in der Fuge glatt.
Die beiden ließen sich am Feuer nieder. Anna verschränkte die Beine zum Lotussitz. Bartels Frau kippte eine Wanne voller neuen Mülls in die Flammen. Ein Elektrokabel blieb am Rand des Feuers liegen. Die Isolierung wurde schwarz, dann schmolz sie und begann zu brennen.
Gegenüber kauerte ein dürrer Glatzkopf. Es gebe welche, begann er unvermittelt laut zu zischen, die würden immer im Warmen und Weichen gehalten. Die bekämen alles umsonst, Drogen, Essen, Unterkunft. Und Ficksachen.
Anna dachte: Kopulationsdokumentationen.
Sie würden aber auch alles geben, fuhr...
Erscheint lt. Verlag | 31.8.2023 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abenteuerroman • Auerhaus • Deutscher Buchpreis 2020 • Dienstleistung • Dystopie • Feudalismus • Flüchtlingskrise • Gastarbeiter • Gesellschaft • Hierarchie • Klima • Klimaflüchtlinge • Klimawandel • outsorcing • Resteuropa • Serpentinen • Shortlist • Technologie • Zukunft |
ISBN-10 | 3-8437-3018-0 / 3843730180 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3018-1 / 9783843730181 |
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