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Aenne und ihre Brüder (eBook)

Spiegel-Bestseller
Die Geschichte meiner Mutter | Reinhold Beckmann erzählt die Geschichte seiner Familie - ein Buch gegen das Schweigen über den Krieg

*****

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2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3015-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aenne und ihre Brüder -  Reinhold Beckmann
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»Die Geschichte meiner Familie. So viel ungelebtes Leben!« Reinhold Beckmann »Reinhold Beckmanns Mutter war eine große Erzählerin. Und nun gibt Beckmann ihre Geschichte an uns weiter. Er erzählt sie uns auf völlig schnörkellose Weise, klar, einfach, eindringlich.«Senta Berger Das Leben von Reinhold Beckmanns Mutter Aenne war fru?h von Verlusten gezeichnet. Ihre Mutter starb, als Aenne noch ein Baby war. Vier Brüder hatte sie, alle im Krieg gefallen. Anders als viele ihrer Generation hat Aenne über diese Zeit nie geschwiegen. Ihre Brüder und Eltern blieben immer gegenwärtig, in Gesprächen, Fotos und Erinnerungen.  Reinhold Beckmann erzählt die Geschichte von Aenne, Franz, Hans, Alfons und Willi, zwischen hartem Alltag auf dem Dorf, katholischer Tradition und beginnender Diktatur. Und davon, was der Krieg mit Menschen macht. wenn keiner zurückkehrt. »Reinhold Beckmann erzählt mit Respekt und Liebe die Geschichte seiner Mutter. Ein aktuelles, ein lesenswertes Buch!«  Gerhart Baum  »Ein Buch voller Liebe und Trauer. Ein Buch über die Verwüstungen des Krieges. Und ein Buch für den Frieden - das genau zur richtigen Zeit kommt.« Heinrich Wefing, Die Zeit »Das Buch ist so berührend, weil es diese vier jungen Leben so sichtbar macht. Als ob es gestern gewesen wäre. Ja, es war gestern - und ist heute leider wieder so!« Udo Lindenberg

Reinhold Beckmann (geboren 1956 in Twistringen) ist Journalist und Musiker. Seine Fernsehkarriere begann er beim WDR. Nach einem Ausflug zu den privaten Fernsehsendern mit ran und ranissimo moderierte er in der ARD zwei Jahrzehnte lang die Bundesliga-Sportschau und diskutierte in der wöchentlichen Talksendung beckmann politische und gesellschaftlich relevante Themen. Heute ist er als Produzent und Filmemacher aktiv und mit seiner Band deutschlandweit unterwegs. Mit seiner Initiative NestWerk e.V. setzt er sich für benachteiligte Kinder und Jugendliche in strukturschwachen Stadtteilen Hamburgs ein.
Spiegel-Bestseller

Reinhold Beckmann (geboren 1956 in Twistringen) ist Journalist und Musiker. Seine Fernsehkarriere begann er beim WDR. Nach einem Ausflug zu den privaten Fernsehsendern mit ran und ranissimo moderierte er in der ARD zwei Jahrzehnte lang die Bundesliga-Sportschau und diskutierte in der wöchentlichen Talksendung Beckmann politische und gesellschaftlich relevante Themen. Heute ist er als Produzent und Filmemacher aktiv und mit seiner Band deutschlandweit unterwegs. Mit seiner Initiative NestWerk e.V. setzt er sich für benachteiligte Kinder und Jugendliche in strukturschwachen Stadtteilen Hamburgs ein.

Leben und Sterben auf dem Dorf


Eins


1. August 1921

Das kräftige Glockengeläut der St. Bartholomäuskirche von gegenüber ist auch an diesem Montagmorgen der unüberhörbare Weckruf im Haus des Schuhmachermeisters Mathias Haber. Die Nacht ist unruhig gewesen. Die ersten Wehen hatten bereits nach Mitternacht eingesetzt. Aber noch sind die Abstände lang genug.

»Ik gläube, et duert no, auwer giv Maria man all Bescheed«, ruft seine Frau Elisabeth ihm aus dem Bett zu. Hebamme Maria Knemöller hat schon den ersten drei Haber-Kindern auf die Welt geholfen. Franz (8), Hans (6) und Alfons (2) waren unkomplizierte Geburten und sind mittlerweile gut geratene Jungs. Die drei ziehen sich noch mal die Bettdecke über den Kopf. Es ist schließlich Ferienzeit. Von dem, was heute bevorsteht, ahnen sie nur wenig.

Mathias Haber wirft einen kurzen Blick in die Werkstatt. Der Stapel der noch zu reparierenden Schuhe schaut ihn etwas vorwurfsvoll an. Am Samstag sind erneut einige Paar abgegeben worden. Die Namen der Kunden schreibt Mathias immer mit einem Fettstift auf die Sohle. Neue Absätze, neue Sohlen. Das tägliche Geschäft. Um acht Uhr kommt sein Geselle ins Haus und wird sich heute ganz allein an die Arbeit machen.

Mathias liebt diesen Moment der Stille am frühen Morgen. Dann, wenn sich der Geruch von Leder und Leim mit Kümmel und Anis vermischt. Die Backstube von Lagemann ist direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite.

Lagemann grüßt kurz. Mathias grüßt zurück. Das Brot wird er auf dem Rückweg mitnehmen. Auch wenn die Speisekammer der Habers in dieser Zeit nicht viel hergibt, Lagemanns Graubrot ist ein Genuss. Ein bisschen Zucker auf das backwarme Brot, und die drei Söhne sind erst mal zufriedengestellt.

Mathias hat ein paar schwere Jahre hinter sich. Der Krieg hat bei ihm Spuren hinterlassen. Die alte Frische ist noch nicht wieder zurück. Dazu diese täglichen Sorgen um die Schusterwerkstatt. Aber all das soll heute keine Rolle spielen. Zum vierten Mal wird er, wenn alles gut geht, heute Vater werden. Wieder ein Sohn – oder wird’s endlich ein Mädchen?

Und so geht Mathias durch die kleinen, gepflasterten Straßen von Wellingholzhausen hinunter zum Haus der Hebamme. Es gehört zu den Eigenarten des Dorfes, dass die Straßen alle ein wenig krumm und verbogen sind. Manche Häuser springen im Winkel vor oder zurück, je nachdem, wie es dem Bauherrn gefiel. Fachwerkbauten mit weiß getünchten Wänden und kaffeebraunem Gebälk. Ein malerischer Anblick.

Als er vor dem Haus der Hebamme ankommt, steht die schon vor der Tür. In freudiger Erwartung sozusagen.

»Na, Matsken, es et bi Liesbeth all so wiet?«

»Jau, ick gläube, dat duert nich mäh lange.«

»Jä, dann goh ick mal mit.«

Die meisten Menschen in Wellingholzhausen sind Bauern oder Handwerker. Die harte Arbeit auf dem Feld und in der Werkstatt prägt ihren Alltag. Und am Abend wird ein »Vaterunser« gebetet. Gottergeben und obrigkeitstreu sind die Menschen in Wellingholzhausen. Es ist die Zeit, als in den Familien nahezu jedes Jahr ein Kind geboren wird. Stirbt es, ist es schade, bleibt es am Leben, ist es gut und Gottes Segen zu verdanken.

Pünktlich zum Mittagessen erblickt Anna Maria, genannt Aenne, das Licht der Welt. »Halb eins«, so wird es im Geburtsregister von Wellingholzhausen vermerkt. Mutter und Kind sind wohlauf. Papa Mathias ist bei der Geburt nicht im Zimmer. Kinderkriegen ist Frauensache, Ehemänner sind dabei nicht erwünscht. Erst als die Hebamme das Zeichen gibt, darf Mathias seine Tochter sehen. Wenig später können auch die drei Racker Franz, Hans und Alfons kurz um die Ecke blinzen und ihre kleine Schwester begutachten.

Am 3. August hält der Herrgott seine schützende Hand über das Würmchen. Die kleine Anna Maria wird getauft. Vielleicht war der Herr im Himmel nicht so ganz bei der Sache. Denn das Leben hat schon bald ein paar Schicksalsschläge für die Familie Haber vorgesehen, die so manchen am lieben Gott hätten zweifeln lassen. Aber nicht so meine Mutter Aenne.

Zwei


Die Landschaft um Wellingholzhausen hat ihre eigene verträumte Schönheit. Der nahe gelegene »Beutling« ist ein beliebter Wanderort. Eine kleine Erhebung von immerhin 220 Metern, vorgelagert dem Hauptkamm des Teutoburger Waldes. Der Beutling wird auch deshalb so gern aufgesucht, weil er den jungen Paaren ein paar Verstecke zum Träumen und Lieben bietet. Zärtlichkeiten werden schließlich nicht in den elterlichen vier Wänden ausgetauscht, zumindest nicht, bis ordentlich geheiratet wurde.

Die Menschen in Wellingholzhausen erfüllen die Pflichten, die ihnen der Glaube aufgibt. Die katholische Kirche hat das Sagen im Dorf. Wen interessiert da schon, wer die weltlichen Geschicke lenkt und führt. Der Name des Bischofs aber ist jedem geläufig. Bischof Wilhelm Berning amtiert ja quasi in der Nachbarschaft. Von Wellingholzhausen nach Osnabrück ist es ein Katzensprung.

Mathias Haber, der Dorfschuster, und sein Zwillingsbruder Balthasar sind eng verbunden miteinander. Sie sehen sich täglich. Balthasar kommt gern in das Haus seines Bruders, auch weil er im Moment nicht so viel zu tun hat in seiner Schneiderwerkstatt. Und um seine kleine Nichte zu bestaunen. Mathias und Balthasar waren beide im Ersten Weltkrieg. Im Stellungskrieg gegen Frankreich an vorderster Front. Balthasar hat diesen beißenden, kläffenden Husten von dort mit nach Hause gebracht. Und auch Mathias ist seit seiner Rückkehr aus Frankreich nur ein Schatten früherer Tage. Die beiden machen sich Sorgen um Elisabeth. Die Mutter der kleinen Aenne liegt immer noch im Wochenbett. Das Stillen fällt ihr schwer. Sie kommt einfach nicht zu Kräften. Dazu dieses ständige Hüsteln. An den Nachmittagen ist ihre Temperatur immer leicht erhöht. Auch der zierlichen Aenne ist anzusehen, dass etwas nicht stimmt. Die Augen sind entzündet. Dorfarzt Dr. Große-Schönepauck weiß nicht recht zu helfen, ahnt aber Böses. Hat sich Elisabeth Haber etwa die Schwindsucht zugezogen? Alle Symptome deuten darauf hin. Nur wie ist der Bazillus ins Haus gekommen? Mathias hegt einen Verdacht. Sein Zwillingsbruder muss es gewesen sein – dieser Husten, den er aus Frankreich mitgebracht hat. Da liegt kein Segen drauf.

Für Aennes Vater sind das jetzt aufreibende Tage. Er muss die Werkstatt am Laufen und seine drei kleinen Jungs bei Laune halten. Besonders der zweijährige temperamentvolle Alfons mit seinem dunklen Wuschelkopf benötigt eigentlich noch die ganze Zuwendung der Mutter. Die Dinge spitzen sich immer mehr zu. Da hilft auch kein »Vaterunser«. Die Hebamme ist inzwischen Dauergast bei Habers. Sie kämpft um die kleine, schwächelnde Aenne. Dr. Große-Schönepauck hat Balthasar Hausverbot erteilt. Der kann ohnehin nicht mehr kommen, seine Lungenkrankheit setzt ihm mittlerweile schwer zu. Schon seit Tagen ist er bettlägerig.

»He hät de galoppierende Schwindsucht. De Herrgott hät da all siene Hand up«, konstatiert Nachbar Nesemeyer am Sonntag nach dem Kirchgang.

Drei Tage später stirbt Balthasar. Im Sterberegister von Wellingholzhausen wird notiert: »Kriegsschwindsucht.« Also die gefürchtete Tuberkulose. Wenn ein Kranker hustet, genügen schon winzig kleine Tröpfchen, um die Infektion weiterzutragen.

Es ist Mittwoch, der 19. Oktober 1921. Mathias’ Zwillingsbruder ist tot. Seine Frau Elisabeth kämpft um ihr Leben. Und die kleine zwölf Wochen alte Aenne ist noch längst nicht übern Berg.

Drei


Bischof Wilhelm Berning ist schon seit dem 26. Mai 1914 Oberhirte des Bistums Osnabrück. Wegen seines jugendlichen Alters von nur 37 Jahren war die Wahl des Tischlersohns aus Lingen zum Bischof durch das Domkapitel seinerzeit eine ziemlich spektakuläre Angelegenheit. Und dann kam gleich der große Krieg, wenige Monate nach seiner Weihe. Berning ist ein leidenschaftlicher Verfechter der Monarchie und hat seine Gläubigen während des Krieges immer wieder zur bedingungslosen Vaterlandsliebe aufgefordert:

»Ein guter Katholik ist stets ein guter Patriot. Vaterlandsliebe ist eine heilige, religiöse Pflicht. (…) Treu stehn wir deshalb, auch in Not und Tod, zu unserem geliebten Vaterland und unserem verehrten Kaiser und König Wilhelm II., dem gerechten und gütigen Landesvater, dem wir unverbrüchliche Treue und Liebe bewahren.«

Daran hat auch der Schustermeister Mathias Haber einmal geglaubt. Doch dann kam die Wirklichkeit des Krieges. Im Schützengraben gibt es keinen Herrgott. Das hat er in Frankreich bitter erfahren müssen. Ihm wird elend, wenn er daran zurückdenkt. Nachts quälen ihn Schreckträume. Es gewittert dann in seinem Kopf. Wie ein endloses Trommelfeuer, das man einfach nicht abstellen kann. Viele seiner Freunde sind nicht mehr nach Hause gekommen.

Mathias besucht trotzdem regelmäßig den Gottesdienst und betet täglich seine Rosenkränze. Erst kommt der Glaube, dann das Brot und dann irgendwann die Politik. Und die muss christlich ausgerichtet sein. So hat er es gelernt. Deshalb wählt Mathias Zentrum, die Partei der Katholiken. Wie fast alle in Wellingholzhausen.

Er weiß, sein junger Bischof hält nicht viel von der Republik, lehnt alle Politiker und Parteien ab, die sich nicht mit der Kirche verbunden...

Erscheint lt. Verlag 31.8.2023
Zusatzinfo Mit zahlreichen Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Doppelpass • Familiengeschichte • Fußball • Katholische Kirche • Kicker • Lanz • Moderator • Nationalsozialismus • Pazifismus • Russland • Sportschau • Stalingrad • transgenerational • Trauer • Trauma • Ukraine • Verlust • Widerstand • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8437-3015-6 / 3843730156
ISBN-13 978-3-8437-3015-0 / 9783843730150
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