MERKUR 4/2023 (eBook)
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12171-1 (ISBN)
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
DOI 10.21706/mr-77-4-18
Benno Zabel
Erinnerungspolitik und Menschenrechte
Das Gedächtnis schmerzt wie die erfrorene Hand beim ersten kalten Wind.
Warlam Schalamow1
Die imperiale Gewalt der westlichen Moderne und die verdrängten Leidensgeschichten
Kollektives Erinnern ist zu einem politischen Topos geworden.2 Es durchdringt die Gegenwart als ein Akt der Selbstvergewisserung, des Heimisch-werdens in der eigenen Geschichte. Es ist eingebettet in dynamische Lebenswelten, gesellschaftliche Identitätskonstruktionen und Aushandlungsprozesse – wer können, wer wollen wir sein? –, die nur selten ohne Konflikte ablaufen. Das beginnt bei Deutungen von Inhumanitätserfahrungen und kulturellem Gedächtnis, setzt sich fort in der Frage, wie und von wem eine Geschichte erzählt wird, und mündet in das Ringen um Anerkennung von Verletzlichkeit. Erinnern ist deshalb immer auch Erinnerungspolitik.
Was das heißt, können wir am gegenwärtigen Ausbruch »neototalitärer Gewalt« in der Ukraine beobachten.3 Denn mit dem seit einem Jahr andauernden Krieg versucht Russland in zweifacher Hinsicht die Deutungshoheit über Geschichte und Erinnern zu erlangen: So wird der militärische Angriff eingebettet in ein imperiales Narrativ, das die Ukraine als abtrünniges Brudervolk charakterisiert, das man mit der Aggression auch an die gemeinsame Geschichte und die gemeinsame Zukunft »erinnern« und von einer korrupten politischen Elite befreien will. Die Deutungshoheit betrifft aber zugleich die unermesslichen Verheerungen des Krieges, die nicht etwa als Akt der Aggression, sondern als legitime Antwort auf die Abtrünnigkeit der Ukraine dargestellt werden. Verbunden ist damit nicht nur eine Opfervertauschung – Russland allein ist das Opfer eines westlichen Imperialismus, zu dessen Büttel sich die Ukraine gemacht hat –, sondern auch die Kolonisierung der Leidensgeschichte. Was wir hier hautnah erleben ist, in den Worten Albert Memmis, die »Exilierung der Einheimischen aus ihrer eigenen Geschichte«.4
Welche drastischen Folgen eine solche Exilierung aus der eigenen Geschichte mit sich bringen kann, zeigt ein Blick auf den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Herero (Ovaherero) und die geradezu infame (post)-koloniale Erinnerungspolitik.5 Es ist zugleich ein Blick, der die Frage des Erinnerns im Kontext einer globalen Inhumanitätsgeschichte verortet. So bestand die Politik Deutschlands jahrzehntelang darin, den Völkermord an den Herero zu bestreiten, ihn jedenfalls als einen durch das Staats- und Völkerrecht gedeckten Akt kolonialer Herrschaft anzusehen. Inzwischen hat die Bundesrepublik ihn zwar in moralischer und politischer Hinsicht anerkannt. Sie ist allerdings weiterhin darum bemüht, jegliche rechtliche Verantwortung und folglich jegliche rechtliche Anerkennung und Wiedergutmachung abzuwehren.6 Dieser Riss zwischen politisch-moralischer und rechtlicher Verantwortung birgt die Gefahr, dass die Logik kolonialer Herrschaftsmuster in demokratisch-rechtsstaatlichem Gewand reproduziert wird, mehr noch, dass sie sich im Ergebnis auch auf die Möglichkeiten kollektiven Erinnerns auswirkt.
Vertiefen wir diesen Gedanken ein wenig: Wenn heute gegen eine rechtliche Verantwortung für die Kolonialverbrechen des Deutschen Reiches argumentiert wird, dann wird in der Regel auf die Historizität und die spezifischen Geltungsbedingungen des Rechts Bezug genommen. Auch als Völkerrecht müsse, so heißt es, das Recht aus dem Bewusstsein der Zeit heraus verstanden und daher akzeptiert werden, dass zum Zeitpunkt des Völkermords koloniale Herrschaft generell akzeptiert war, dass rechtlich bindende Vereinbarungen wie etwa die Völkermordkonvention nicht vorlagen, dass die Herero nicht als Vertrags- oder Völkerrechtssubjekte angesehen wurden und dass Kolonialkriege von bestimmten humanitären Einbettungen, wie der Haager Landkriegsordnung, ausgenommen waren.
Diese Rekonstruktion des Rechts macht aber vor allem eines erkennbar: Das Kalkül einer rassistisch menschenverachtenden Politik bestand gerade darin, dass die im Völkerrecht ansonsten üblichen Rechte kolonisierten Ethnien und Volksgruppen bewusst vorenthalten wurden. Und es ist diese imperiale Haltung, die nunmehr dazu führt, dass eine rechtliche Verantwortung ausgeschlossen werden kann.
Nun wissen wir auch, dass die rückwirkende Beurteilung historischer Sachverhalte etwas Anmaßendes und Willkürliches an sich hat. Geht es doch darum, frühere Gesetze mit Einsichten zu konfrontieren, die zur Zeit ihrer Geltung keine oder eine nur untergeordnete Rolle spielten. Deshalb hat sich der Grundsatz der Intertemporalität – des Verbots rückwirkender Rechtsanwendung – eingebürgert. Dieser Grundsatz wird nicht nur verteidigt, um die Autonomie, sondern auch um die Berechenbarkeit des Rechts sicherzustellen. Aber soll das auch dann noch gelten, wenn sich das Recht zu seinen eigenen anerkannten Prinzipien in eklatanten Widerspruch setzt, selbst zu Willkür wird? Es handelt sich hier um dieselbe Frage, die Gustav Radbruch bereits mit Blick auf das Recht und die Verbrechen des Nationalsozialismus aufgeworfen hat.7
Aber auch wenn man den gängigen Standpunkt einzunehmen gewillt ist, bleibt der Umstand, dass das Kaiserreich als Kolonialstaat ein Rechtsstaat sein wollte.8 Der koloniale Rechtsstaat war zwar ein Paradox, ein scheinheiliger Doppelstaat, zugleich aber war er eine evolutionäre Tatsache. Und ein perfider Einsatz von Herrschaft war es auch, dass dieser Rechtsstaat ein Kolonialrecht schuf, das einzelne Individuen, Gruppen oder Ethnien kannte, die kaum eigene Rechte hatten, die exkludiert sein sollten. Es spricht einiges dafür, dass wir angesichts dessen, wenn nicht von einem Widerspruch, so doch von einer Krise des Rechts sprechen dürfen. Denn das Kolonialrecht setzte an die Stelle von rechtsstaatlichem Recht staatlich gelenkte Gewalt.
Welche Konsequenzen hat diese Krise heute? Zunächst sehen wir, dass rechtliche Verantwortung durch das postkoloniale Recht selbst blockiert wird. Damit wird aber nicht nur ein gemeinsamer Diskurs über die Krise wie auch über die Potentiale von Politik und Recht verhindert. Verhindert wird ebenso, dass die Geschichte und die Folgen kolonialer Dehumanisierung aus der Opferperspektive und unabhängig von kolonialen Narrativen zur Sprache kommen. Zugespitzt formuliert: Es ist diese (post)koloniale Konstellation, die die Gegenerzählung, die je besondere Leidensgeschichte, überschreibt.9 Dagegen könnte eingewendet werden, dass der postkoloniale Rechtsstaat in Lernprozesse verwickelt ist, dass sich das Recht gerade als Völkerrecht aus seiner Unrechtsvergangenheit herausgearbeitet hat und nun an der rule of law festhalten müsse. Hinzukomme, dass das Recht die Sicherung äußerer Freiheit und Gleichheit ermöglichen solle und deshalb auch politische Interessen außer Betracht zu lassen habe.
Aber ist das so? Zugegeben, es gibt im 20. Jahrhundert eine Transformation des Rechtsbewusstseins, die nach den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus, namentlich des Holocaust, noch zusätzlich an Kraft gewinnt und auf nationaler und auf völkerrechtlicher Ebene neue Standards des Schutzes, der Sichtbarkeit und der Ermächtigung etabliert hat. Martti Koskenniemi spricht deshalb auch vom Völkerrecht als dem »gentle civilizer of nations«.10 Flankiert wird diese Entwicklung durch den globalen Aufstieg der Menschenrechte. Es ist heute unbestritten, dass diese Transformation des Rechtsbewusstseins in engem Zusammenhang mit der Transformation freier und autoritärer Gesellschaften stand und nur so zu verstehen ist. Unbestritten ist auch, dass sie großen Anteil an einer Aufarbeitung der Menschheitsverbrechen in Deutschland hatte, denken wir nur an die Auschwitz-Prozesse und die anschließende Erinnerungspolitik.
Und doch kann diese Transformation nicht über die Widersprüche und Krisen hinwegtäuschen, die sie selbst erzeugt oder prolongiert. Denn dass das Recht – zumal das Völkerrecht – ein so sanftes Medium nicht ist, ja, dass bereits die Vorstellung einer durch den globalen Norden vorangetriebenen Zivilisierung ein fundamentales Problem darstellt, ist ebenso offensichtlich wie die Tatsache, dass das Völkerrecht verstrickt ist in ein dichtes Netz von Herrschaft, Ideologien und Interessen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn wir uns den Umgang mit regionaler und globaler Inhumanitätsgeschichte ...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2023 |
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Reihe/Serie | MERKUR |
MERKUR | MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Debatte • Essay • Geschichte • Gesellschaft • Kultur • Kunst • Politik |
ISBN-10 | 3-608-12171-4 / 3608121714 |
ISBN-13 | 978-3-608-12171-1 / 9783608121711 |
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Größe: 1,4 MB
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