Scherbentod (eBook)
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01570-8 (ISBN)
Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie hat zahlreiche Fantasy-Romane, Krimis und Kinderbücher in verschiedenen Verlagen veröffentlicht.
Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie hat zahlreiche Fantasy-Romane, Krimis und Kinderbücher in verschiedenen Verlagen veröffentlicht.
Kapitel 1
Berlin, Friedrichsfelde, 1928
Leonard Reiter, der Mann, der sich des Rufes erfreute, der beste Hellseher Berlins zu sein, seit es ihm vor kurzer Zeit gelungen war, mehrere Mordfälle aufzuklären, stand vor einem Problem. Seine heutige Kundin, eine korpulente Dame im demonstrativen Schwarz einer trauernden Witwe, kam einfach nicht zum Kern der Sache.
Seit er ihr hübsches Haus betreten hatte, das, wohin man auch blickte, von einem Leben ohne Geldsorgen erzählte, verwöhnte sie ihn auf jede erdenkliche Weise. Ihm waren winzige Häppchen mit Fisch und Gurke und einige edle Tropfen serviert worden, gefolgt von zuckrigem Gebäck und echtem Kaffee. Er hatte geduldig vier träge Katzen gestreichelt, die politische Weltlage und den neusten Klatsch mit ihr diskutiert und fühlte sich mittlerweile ausreichend genug informiert, was die Lebensumstände und Ansichten seiner Kundin betraf. Er war bereit, ihr eine Zukunft zu prophezeien, die sie hören wollte. Doch wann immer er versuchte, ihre Hand zu ergreifen, um mit der Vorstellung zu beginnen, entzog sie ihm diese.
Mittlerweile hegte er Zweifel, ob sie wirklich Interesse an ihm als Hellseher hatte oder einfach nur Gesellschaft suchte. Prinzipiell wäre ihm das durchaus recht gewesen. Nur warteten an diesem Tag noch weitere Verpflichtungen auf ihn. Kunden, die ebenfalls drauf brannten, ihr Geld für ein paar nette Worte und einen Hauch von Hoffnung lockerzumachen. Denn das war es, was Leonard üblicherweise verkaufte.
«Denken Sie, uns steht ein kalter Herbst bevor?» Josefa Redinger füllte ihm einen klebrig aussehenden Likör in ein viel zu großes Glas und setzte sich neben ihn auf das gestreifte Biedermeier-Sofa. Dies schien Leonard die passende Gelegenheit, endlich eine erste Prophezeiung anzubringen. Erneut griff er nach der Hand seiner Gastgeberin, hielt sie energisch fest und schwieg einen Moment lang andächtig, bevor er verkündete:
«Nebel werden wallen, Frost legt sich auf die Gräser, aber Sie werden es bis in den Frühling wohlig warm haben. Gibt es noch mehr, das ich Ihnen verraten soll?» Er sah von ihrer mit Altersflecken gesprenkelten Hand auf und schenkte ihr ein Lächeln. Wetterprognosen waren nicht dazu angetan, großen Eindruck zu hinterlassen, aber irgendwo musste er ja anfangen.
«Geben Sie mir bitte meine Hand zurück.» Ihr Blick war streng. «Darin befindet sich nichts, was von Interesse ist. Ich bin eine alte Frau und erwarte nicht mehr viel vom Leben. Nur eines treibt mich noch um: Ist meine Nichte noch am Leben? Oder hoffe ich vergebens?»
«Ihre Nichte?», wiederholte Leonard, um Zeit zu gewinnen, und beobachtete, wie Josefa Redinger sich schwerfällig erhob und auf eine Kommode zuging. Von der nahm sie einen Silberrahmen, in dem das Porträt eines Mädchens steckte.
«Das ist Lina.» Sie klang wehmütig, als sie zum Sofa zurückkehrte und ihm die Fotografie reichte.
Sie zeigte das schmale Gesicht einer sehr jungen Frau. Ein Mädchen auf der Schwelle zum Erwachsenenalter. Das Haar zu lang, um der Mode dieses Jahrzehnts zu entsprechen, ein verträumter Blick in den dunklen Augen, der die Romantikerin verriet. Durchaus apart, aber keine besonders auffällige Erscheinung. Sie wirkte auf Leonard wie ein noch unfertiger Mensch, der sich und die Welt bisher nicht recht verstanden hatte, und die nächsten Worte seiner Gastgeberin bestätigten dies.
«Sie war siebzehn, als ich sie zum letzten Mal sah. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich.»
Er legte das Bild auf den Tisch, ließ die Fingerspitzen seiner rechten Hand auf dem Glas ruhen und schwieg, um Josefa Redinger zum Weitersprechen zu animieren. Es funktionierte.
«Sie verschwand vor vier Jahren, in der Nacht, als ihre Eltern starben. Böse Stimmen behaupten, Lina hätte sie selbst umgebracht, aber das glaube ich nicht. Fakt ist, dass ich meine Schwester und meinen Schwager verloren habe, weil sie von dem fleischgewordenen Bösen aus dem Leben gerissen wurden. Was aus Lina wurde, wohin sie in dieser furchtbaren Nacht gegangen ist, kann niemand mit Gewissheit sagen. Ob sie noch lebt oder ebenfalls umkam, auch das entzieht sich meiner Kenntnis. Doch ich kann nicht aufhören, mir wieder und wieder ebendiese Fragen zu stellen.»
Leonard, der ihr aufmerksam zugehört hatte, nahm das Bild erneut an sich. Er suchte in dem Blick des Mädchens nach irgendetwas, das auf innere Abgründe hindeutete, und fand es nicht. Mochte man Lina auch nur vor die Stirn schauen können, die Augen waren trotzdem das Fenster zur Seele. Und diese schien Leonard eher die eines Kindes zu sein. Glaubte er daran, dass Kinder morden konnten? Nun, dieses bestimmt nicht. Und wenn Lina seit vier Jahren nicht mehr auf der Türschwelle ihrer sich sorgenden Tante gestanden hatte, so blieb nur die Schlussfolgerung, dass auch sie den Tod gefunden hatte, als ihre Eltern starben – oder möglicherweise auch bald darauf. Es tat Leonard ein wenig leid, dass er mit seiner Weissagung ihre letzte Hoffnung vernichten musste, doch alles andere wäre der Dame gegenüber nicht aufrichtig gewesen.
Diese fuhr fort: «Im ersten Jahr nach ihrem Verschwinden gab es vereinzelte Menschen, die Lina gesehen haben wollen. Manche von ihnen waren sich sogar völlig sicher, ihr begegnet zu sein. Doch ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Würde sie noch leben, was sollte sie daran hindern, zu mir zu kommen?»
Vielleicht ein Doppelmord, der auf ihrem Gewissen lastet?, dachte Leonard, behielt den Gedanken aber für sich. Jetzt wurde diese Angelegenheit langsam kompliziert, und er konnte Josefa Redingers Verwirrung nachvollziehen. Wenn das Mädchen wirklich gesehen worden war, und zwar gleich mehrfach, gab es berechtigte Zweifel an ihrem Tod. Auch ihn verunsicherte dieser Aspekt der Geschichte, trotzdem wurden von ihm jetzt Antworten erwartet, und wenn er sein Geld wert sein wollte, musste er eine Entscheidung treffen, welche der widersprüchlichen Informationen er glauben wollte. War das Mädchen, das ihn durch das Glas des silbernen Rahmens mit leerem Blick anschaute, eine untergetauchte Mörderin? Oder doch nur ein weiteres Opfer, das schon lange Zeit gut verborgen in ungeweihter Erde ruhte? Er war hin- und hergerissen.
«Mit ihrem Vater hat unsere Lina sich nicht besonders gut verstanden. Sie liebte Tiere, er aber wollte kein Viehzeug im Haus haben. Ein schwieriger Mann.» Sie strich einer besonders fetten Katze, die soeben aufs Sofa gesprungen war, über den Rücken. «Lina war nicht immer glücklich in ihrem Elternhaus, aber ihre Mutter hat sie geliebt. Nie hätte sie beide getötet. Allerhöchstens ihn, wenn er gedroht hätte, ihrem Ziegenbock etwas anzutun. Den habe ich ihr zum Geburtstag geschenkt. Seit der Schreckensnacht logiert er in meinem Garten.»
Leonard überlegte, ob nicht doch eine unverfängliche Prophezeiung, die möglichst viel Interpretationsspielraum ließ, in diesem Fall die beste Lösung war. Da konnte seine Auftraggeberin sich ihre eigene Wahrheit herauspicken, ohne dass er sich festlegen musste.
«Seit vier Jahren zucke ich bei jedem Klingeln an der Haustür zusammen, weil ich sofort denke, es könnte endlich Lina sein. Wenn ich die Post entgegennehme und eine Motivkarte zwischen den Umschlägen entdecke, hoffe ich auf einen Gruß meiner Nichte. Aber nie wird dieser Wunsch erfüllt. Ich warte. Tag für Tag, Woche für Woche, es lässt mich nie wirklich los. Inzwischen ist mir jede Antwort recht, wenn ich nur endlich Gewissheit bekomme. Deswegen habe ich sie zu mir gerufen.» Sie sah ihn bittend an, ohne das Streicheln der schnurrenden Katze zu unterbrechen. «Werden Sie mir meinen Seelenfrieden zurückgeben? Ich will doch nur eine Erklärung, damit die quälenden Fragen ein Ende haben.»
Leonard verfluchte sich und sein Mitgefühl. Alles sprach dafür, in diesem Fall keine allzu klare Vision abzuliefern, doch sein verzweifeltes Gegenüber tat ihm wirklich leid. Also sagte er: «Haben Sie einen persönlichen Gegenstand Ihrer Nichte? Ein Kleidungsstück vielleicht?»
Nun wurde die Katze auf den Boden gesetzt, und die korpulente Frau in der schwarzen Robe wallte zur Tür hinaus, nur um gleich darauf mit einem hellblauen Seidenschal in den Händen zurückzukehren. «Wird das ausreichen?»
Leonard nickte und nahm das Stück Stoff in seine Hände. Er schloss die Augen und fühlte das weiche Material zwischen den Fingern. Noch immer hatte er keine Entscheidung getroffen. Womit war Josefa Redinger eher gedient? Mit der Version einer flüchtigen Mörderin oder einer verscharrten Toten? Und wie weit war er bereit zu gehen?
«Ich spüre Schmerz inmitten von Finsternis. Und große Trauer.»
«Das muss die Trauer um ihre Eltern sein», rief seine Kundin dazwischen und klang plötzlich sehr aufgeregt.
«Es ist lange vorbei. Und es schmerzte nicht nur die Seele, auch der Körper», fuhr Leonard fort. «Alles Kämpfen war vergeblich, es gibt keine Hoffnung mehr, und die Dunkelheit verwandelt sich in Tiefe, die kein Leben mehr hält. Nur mehr Stille.»
«Sie ist also gestorben?», zog Josefa Redinger selbst ihre Schlüsse aus seinen Worten. «Mein armes Mädchen. Aber ich habe es ja immer befürchtet. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie zu mir gekommen.»
Leonard öffnete die Augen und gab den Seidenschal an die Hausherrin zurück. «Sie wird niemals zurückkommen», bestätigte er. «Sie hat ihr Leben schon vor langer Zeit verloren, vermutlich in der Nacht, in der auch ihre Eltern starben. Und ich wette, sie hat Sie aufrichtig geliebt.»
Prompt brach Josefa Redinger vor seinen Augen zusammen. Ein Meer von Tränen floss über ihre faltigen Wangen, und einen kurzen Moment lang glaubte Leonard, zu weit gegangen zu sein.
Dann aber rief sie: «Ich bin Ihnen so unendlich dankbar, Herr...
Erscheint lt. Verlag | 15.8.2023 |
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Reihe/Serie | Historischer-Berlin-Krimi | Historischer-Berlin-Krimi |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | 1920er • 20er • Alex Beer • Anne Stern • Berliner Kriminalpolizei • Berlin Krimi • deutsche Kriminalromane • Fräulein Gold • historischer Krimi • Kindle krimi • Kindle unlimited • Krimi E-Book • Krimi Neuerscheinung • Krimi neuerscheinung 2023 • Krimireihe • Kripo Berlin • Polizistin • Prime Reading • René Anour • Serienmord • Spannung • weibliche Ermittlerin • Weibliche Kriminalpolizei • Weimarer Republik • Zwanzigerjahre |
ISBN-10 | 3-644-01570-8 / 3644015708 |
ISBN-13 | 978-3-644-01570-8 / 9783644015708 |
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