Die Jagd (eBook)
288 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-30733-2 (ISBN)
Die wissenschaftsbegeisterte Alaina Urquhart ist Co-Moderatorin des bekannten Podcast Morbid: A True Crime Podcast. Ihre Tage verbringt sie mit Aufnehmen oder Ausweiden. Und als Autopsietechnikerin bietet sie eine einzigartige Perspektive aus den Tiefen des Leichenschauhauses: Wenn sie ihr Mikrofon an den Nagel hängt, ist es ihrer Meinung nach an der Zeit, die Toten sprechen zu lassen. Bevor sie ihren ersten Thriller schrieb, erwarb sie Abschlüsse in Psychologie, Biologie und Strafjustiz. Alaina Urquhart lebt mit ihrer Familie und Mops Bailey in Boston.
1
Jeremy kann durch die Lüftungsschlitze die Schreie hören. Aber er reagiert nicht darauf. Seine abendliche Routine geht ihm über alles. Wenn er diese banalen, alltäglichen Tätigkeiten verrichtet, hat er das Gefühl, mehr er selbst zu sein. Wenn er im Badezimmer den alten Hahn des sauberen Waschbeckens aufdreht, beruhigt ihn das und bringt ihn wieder ins Gleichgewicht. Meistens endet sein Abend hier vor dem Spiegel. Nachdem er geduscht hat, rasiert er sich anschließend in aller Ruhe gründlich. Er geht gerne körperlich und geistig gereinigt zu Bett. Er nimmt sich jeden Abend Zeit für dieses Ritual und lässt sich dabei durch nichts stören.
Doch an diesem Abend reißt ihn ein besonders lauter Schrei aus seinem gewohnten Ablauf. Er starrt in den Spiegel und spürt, dass ein Gefühl der Wut seine Sinne vernebelt. Wie ein penetranter Verwesungsgeruch steigt es in ihm auf. Er kann nicht klar denken, während die beinahe rhythmischen Schreie aus dem Keller zu ihm empordringen. Soweit er sich erinnern kann, hat er Lärm schon immer gehasst. Als Kind hatte er an einem lauten, belebten Ort stets das Gefühl, dass alles um ihn herum auf ihn einstürzte. Inzwischen sind die einzigen Geräusche, die er mag, die Geräusche des Sumpfes. Diese Symphonie aus Tierlauten besänftigt ihn, hüllt ihn ein wie eine warme Decke. Die Natur liefert immer noch den besten Soundtrack.
Er versucht, die Schreie zu ignorieren. Seine Routine ist ihm heilig. Seufzend streicht er sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und schaltet das Radio neben dem Waschbecken ein. Das einzige andere Geräusch, das ihm Trost spendet, ist Musik. Doch gerade als er sich entspannen will, dröhnt »Hotline Bling« von Drake aus den Lautsprechern, und er schaltet das Gerät sofort wieder aus. Manchmal hat er das Gefühl, in der falschen Zeit geboren zu sein.
Sorgfältig wäscht er Blut und Dreck von seinen Händen, während er versucht, dem gedämpften, schmerzerfüllten Stöhnen, das deutlich hörbar aus den Lüftungsschlitzen dringt, keine Beachtung zu schenken. Er mustert im Spiegel sein Gesicht. Es scheint, als würden seine Wangenknochen jedes Jahr etwas mehr hervortreten und sich immer deutlicher abzeichnen. Das ist einer der merkwürdigen Vorzüge des Alterns, und er schätzt sich glücklich deswegen. Viele Menschen bewundern einen markanten Schädel. Dabei ist den meisten nicht einmal bewusst, wie urzeitlich und verhängnisvoll diese Vorliebe ist. Die meisten Menschen wollen die grausame Seite der Psyche nicht wahrhaben, die sich im oft brutalen Überlebenskampf ihrer Vorfahren entwickelt hat. Jene Wesensmerkmale, die sich im Laufe der Evolution als nützlich erwiesen haben. Die Menschen sind einfach zu dumm, um zu begreifen, dass ihre eigenen Vorlieben auf einen Genpool zurückgehen, der seinen Ursprung in Gewalt hat.
Er sieht nicht unbedingt wie jemand aus, der schreckliche Dinge tut. Im Gegenteil, er wirkt harmlos und manchmal geradezu vorbildlich. Deshalb läuft auch alles so reibungslos. Es gibt eine Pflanze namens Amorphophallus titanum, die umgangssprachlich als Titanenwurz bezeichnet wird. Es handelt sich um eine große, wunderschöne Pflanze, der man nicht ansieht, dass sie gefährlich ist. Doch wenn sie etwa alle zehn Jahre erblüht, verströmt sie einen Geruch, der an verfaultes Fleisch erinnert. Dennoch überlebt sie. Und gedeiht. Er unterscheidet sich nicht allzu sehr von ihr. Zur Blütezeit strömen die Menschen in Scharen um diese seltsame Pflanze zusammen, und sie hat trotz ihrer Eigenarten eine Menge Bewunderer.
Morgen ist Donnerstag. Der Donnerstag ist sein Freitag. Er hasst es zwar, wenn die Leute auf der Arbeit so etwas sagen, dennoch gönnt er sich den Luxus, die Freitage freizunehmen, seit er sich an der Tulane University of Medicine fürs zweite Studienjahr eingeschrieben hat. Obwohl er sich dort durch ein paar Kurse quälen muss, beginnt für ihn am Freitag bereits das Wochenende. Diese Tage sind stets von großer Betriebsamkeit erfüllt. Er ist diesmal besonders aufgeregt, weil er mit seinen aktuellen Hausgästen am kommenden Wochenende Großes vorhat. Aber um seine Pläne vollständig in die Tat umzusetzen, braucht er noch eine weitere Person.
Emily wird ihnen Gesellschaft leisten. Er hat sie wochenlang beobachtet, seit er im Biologielabor mit ihr ein Team gebildet hat, und er ist sich sicher, dass sie jene Herausforderung darstellt, die er sich erhofft. Emily geht mehrmals die Woche joggen und stopft offenbar kein Junkfood in sich hinein. Sie verfügt also bestimmt über Ausdauer. Sie lebt zusammen mit zwei Mitbewohnern in Ponchatoula, wo sie außerhalb des Campus ein großes altes Haus gemietet haben. Abgesehen davon, dass sie ihrem neuen Laborpartner zu viel über sich erzählt hat, ist sie kompetent, selbstständig und intelligent, was für sie bei seinem Spiel von Vorteil sein wird. Zwar haben ihre Mitstreiter auch ihre Vorzüge, aber da sie schon länger hier sind, werden sie die für das Wochenende geplanten Aktivitäten wohl nicht bis zum Ende durchstehen.
Seine beiden anderen Gäste mussten seit ihrer Ankunft letzten Samstag ein paar Misshandlungen über sich ergehen lassen. Er war mit ihnen bei Buchanan’s spontan ins Gespräch gekommen. Normalerweise nimmt er sich Zeit, seine potenziellen Gäste erst kennenzulernen, so wie Emily, aber diese beiden sind ihm einfach in die Arme gelaufen. Als hätte ihn das Universum gebeten, den Müll rauszubringen. Natürlich war er der Bitte nachgekommen.
Katie und Matt sind furchtbar durchschnittlich. Ihnen mangelt es an der Fähigkeit zum eigenständigen Denken, und sie waren nur allzu bereit, einem Menschen mit scharf geschnittenen Gesichtszügen in der Aussicht auf Drogen nach Hause zu folgen. Inzwischen wissen Katie und Matt, dass sie einen Fehler gemacht haben. Er kann jetzt aus dem Lüftungsschacht erneut ein schmerzerfülltes Stöhnen hören und verliert langsam die Geduld.
Er beendet sein Schlafritual und eilt die Treppe zum Keller hinunter, wo seine Gäste untergebracht sind. Im selben Moment hört er, wie sich Katies leises Stöhnen in angsterfüllte Schreie verwandelt, und als er auf sie zugeht, zuckt ihr zierlicher Körper zurück.
»Du solltest nicht vergessen, dass du hier nur zu Gast bist«, sagt er und blickt ihr in die trüben braunen Augen.
Sie ist völlig unscheinbar. Ihr braunes glanzloses Haar klebt mit getrocknetem Blut an ihrem Hals. Sie sieht aus wie die typische Bewohnerin eines Trailerparks, obwohl sie sich größte Mühe gegeben hat, das zu verbergen. Ihre leicht vorstehenden Zähne hätten ja einen gewissen Charme, wenn sie nicht so ein unfassbarer Schwachkopf wäre. Als er sie in der Bar ansprach, erzählte sie Matt gerade von einem Erlebnis aus ihrer Cheerleader-Zeit an der Highschool – irgendeine armselige Geschichte, die angesichts ihres momentanen Zustands völlig abwegig klang. Jeremy zieht die Seile fest, mit denen sie an ihren Stuhl gefesselt ist, und überprüft, ob der Infusionsbeutel sie mit ausreichend Flüssigkeit versorgt. Im Schlauch sind keine Knicke, und der Beutel ist noch fast voll.
»Matt zeigt mehr Respekt. Nimm dir ein Beispiel an ihm, Katie.« Mit einem breiten Grinsen deutet er auf Matts stummen, reglosen Körper, der zusammengesackt auf dem Stuhl neben ihr sitzt.
Er hat das Bewusstsein verloren, wahrscheinlich durch den Schock, den er bei Jeremys letztem Besuch hier unten erlitten hatte. Katie beginnt, laut zu weinen, worauf Jeremy die Augen verdreht. Sie stellt seine Manieren auf eine Probe, und ihre Verzweiflung widert ihn maßlos an. Schweigend bleibt er neben ihr in der Dunkelheit stehen und drückt auf den Play-Knopf des tragbaren Lautsprechers zwischen den beiden Stühlen. »A Girl Like You« von Edwyn Collins erfüllt den Raum, und Jeremy grinst in sich hinein. Endlich ein angenehmes Geräusch.
»Ah, schon besser.« Er wiegt sich im Takt der Musik und gibt Katie Gelegenheit, sich zu beruhigen.
Doch nach dem ersten Refrain fängt sie an zu wimmern. Ohne zu zögern, greift er nach der Zange hinter ihrem Stuhl und reißt ihr mit einer zügigen Bewegung den quietschrosa lackierten Nagel vom linken Daumen. Dann zieht er ihr schreiendes Gesicht dicht an seines heran.
»Noch ein Laut von dir, und ich nehm mir deine Zähne vor. Verstanden?«
Sie bringt nur ein Nicken zustande, und er wirft die Zange in die Ecke und geht mit einem Augenzwinkern wieder nach oben.
In seiner Kindheit hat man Jeremy nur wenig Mitgefühl entgegengebracht. Er wurde stark vernachlässigt. Sein Vater war sehr streng, wenn auch gerecht, und erwartete von seiner Frau und seinem Sohn ein gewisses Maß an Gehorsam. Wenn Jeremy ihn in einem günstigen Moment erwischte, lernte er unter der gewissenhaften Anleitung seines Vaters die eine oder andere Fähigkeit und Lektion fürs Leben. Als Flugzeugmechaniker war sein Vater dafür verantwortlich, verschiedene Teile der Flugausrüstung instand zu halten. Obwohl dafür kein Berufsabschluss nötig war, erfüllte es Jeremy mit Stolz, dass sein Vater etwas mit Flugzeugen zu tun hatte, und er war ganz versessen darauf, etwas über eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit zu erfahren. Wenn er seinen Vater jedoch im falschen Moment erwischte, schlug ihm nichts als kalte Verachtung entgegen.
Trotz dessen Launen freute sich Jeremy jeden Tag darauf, wenn sein Vater von der Arbeit nach Hause kam. Zwar unternahmen sie kaum etwas zusammen, aber genau das schätzte er. Nachdem er den ganzen Tag mit seiner Mutter verbracht hatte, genoss er das vertraute Schweigen, während er mit seinem Vater vor dem Schlafengehen gemeinsam fernsah. Tagsüber war Jeremy die meiste Zeit sich selbst überlassen, und nur hin und wieder wurde dieser Zustand von einer der übertriebenen...
Erscheint lt. Verlag | 1.12.2023 |
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Übersetzer | Frank Dabrock |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Butcher and the Wren |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2023 • Chris Carter • Das Schweigen der Lämmer • eBooks • gelber vogel • Gerichtsmedizinerin • Max Bentow • Neuerscheinung • neuerscheinung thriller 2024 • neue thriller 2024 • New York Times Bestseller • Pathologie • Paul Cleave • Psychothriller • Serienkiller • Thriller • True Crime |
ISBN-10 | 3-641-30733-3 / 3641307333 |
ISBN-13 | 978-3-641-30733-2 / 9783641307332 |
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