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Terafik (eBook)

Roman

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eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Blessing (Verlag)
978-3-641-30973-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Terafik -  Nilufar Karkhiran Khozani
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Es ist Nilufars erste Reise nach Iran und in eine ihr unbekannte Familie - die Familie ihres Vaters, der sie verlassen hat, als sie noch ein junges Mädchen war, und zurück in seine Heimat gegangen ist. Dort trifft sie auf neue Gesichter, die alle ihre Wunden und Sehnsüchte haben, und eine Gesellschaft voller Gegensätze. Nilufar lernt ein Leben kennen, das ihres hätte sein können, und einen Vater, der ihr immer dann ausweicht, wenn sie ihm nahekommt. Umgeben vom Chaos der Hauptstadt Teheran und der wohlmeinenden Gastfreundschaft ihrer Verwandten entblättert Nilufar Schicht um Schicht die Zerrissenheit eines Landes, ihrer Familie und ihrer eigenen Identität.

Nilufar Karkhiran Khozani, 1983 in Gießen geboren, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Psychologie und absolvierte anschließend eine Ausbildung als Verhaltenstherapeutin. Sie veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften. 2020 erschien ihr Gedichtband mit gesampelter Lyrik Romance Would Be a Very Fine Bonus Indeed. Sie war Artist in Residence beim PROSANOVA Festival 2020 und übersetzte das Skript Town Bloody Hall für den Film Als Susan Sontag im Publikum saß. »Terafik« ist ihr erster Roman. Sie lebt in Berlin.

Berlin 2016


Lichtpunkte

Die Lichtpunkte der Hochhausfassade vor meinem Balkon lesen sich wie ein Sternbild. Balkone formieren sich zu endlosen Wiederholungen, pixelige Reflexionen gegen den Himmel wie in einem gigantischen Mosaik aus Leerstellen. Ich stehe dort manchmal abends und höre den Geräuschen zu, die aus den Blöcken kommen. Ich frage mich, wie mein Leben hätte verlaufen müssen, um mich wie die Menschen dort in einer der gegenüberliegenden Wohnungen wiederzufinden, in einem Zuhause mit mir vertrauten Menschen und Familienfotos an der Wand. Ich kann mir so schlecht vorstellen, dass ich hier auf dem Balkon eines Berliner Plattenbaus stehe und gleichzeitig ein Teil von mir zu einem ganz anderen Land gehört. Als wären die Orte auf seltsame Weise verhakt, ein Zeitgitter, das mich komplett überfordert. Aber ich stehe ja hier, denke ich. Das ist ja real.

In meiner Wohnung gibt es keine Fotos an der Wand. Sie sieht nach über zehn Jahren immer noch aus, als wäre ich nur übergangsweise hier. Statt Familienfotos habe ich lediglich ein großes Flipchart-Papier an der Wand, das ich kurz vor meiner Reise wieder hervorgeholt hatte, um mich ein wenig zu orientieren. Manchmal schaue ich mir abends die gezackten und gekreuzten Linien darauf an. Sie sehen aus wie die Umrisse der Hochhausfassade, die sich in meinem Kopf festgesetzt haben. Ein Familienentwurf. Ich betrachte die Verbindungen zwischen den Angehörigen auf dem Genogramm, das ich vor ein paar Jahren während meiner Ausbildung hatte zeichnen müssen. Eine einfache Linie für eine Partnerschaft, eine doppelte für eine Ehe, eine durchgestrichene für eine Trennung oder Kontaktabbrüche, eine gezackte für eine »konfliktreiche Beziehung«, eine gestrichelte für unsteten Kontakt. Mein Koffer ist vollgestopft mit Haribo ohne Gelatine und Merci-Schokolade und kurz vor dem Platzen. Ich hoffe, es wird reichen.

»Wann kommst du endlich nach Iran?«, hatte mein Vater immer am Telefon gefragt. »Ich weiß nicht, wenn ich mit den Prüfungen fertig bin, irgendwann.« Ich hatte immer gerade Prüfungen. Eigentlich hatte ich es nie wirklich vor. Mein Leben lang hatte mich meine Mutter davor gewarnt, in »so ein Land« zu reisen. Ich konnte ja bis auf ein paar Floskeln nicht mal Persisch. Ich konnte mir auch lange Zeit nicht vorstellen, was es dort zu entdecken gäbe, außer einer Menge Vorschriften und »Schwierigkeiten«, über die mein Vater sich immer am Telefon beklagte. Mein Vater und ich hatten uns ohnehin nicht wirklich viel zu sagen. Alles an ihm erschien mir weit weg, schon immer. Andererseits ließ mich der Gedanke, einmal die Grenzen niederzureißen und »dieses Land« mit eigenen Augen zu sehen, nicht mehr los. Bei meinen Freunden in Berlin besaß Iran sogar einen gewissen Coolnessfaktor. Außerdem machte mein Vater keinerlei Anstalten, erneut nach Deutschland zu kommen. Ich vermisste ihn eigentlich nicht, wie man eben einen Unbekannten nicht vermissen kann. Er verschwand nie richtig, sondern blieb eine nicht ausgesprochene Frage. Seit seinem letzten Besuch in Berlin, der inzwischen fünf Jahre her ist, haben wir uns nicht mehr gesehen.

Vor vier Monaten dann rief er mich wieder an, wie immer Freitagvormittag, der freie Tag in Iran und kurz vor meiner Mittagspause in der Klinik. Auf meinem Handy, das auf meinem Mensatablett lag, leuchtete die ganze Zeit »Papa Iran« auf. Ein Kollege fragte: »Willst du nicht drangehen? Scheint wichtig zu sein.« Was sollte schon Wichtiges sein? Ich schob das Handy diskret zur Seite. Mein Vater erreichte mich später, um mir beiläufig zu erzählen: »Nilufar, ich werde immer älter, außerdem, wie soll ich sagen, ich lebe jetzt nicht mehr alleine, ich kann nicht einfach so nach Deutschland kommen.« Ich nahm mein Handy und suchte mir eine Ecke auf dem Stationsflur. »Also, Fatemeh und ich, wir haben beschlossen, dass du dieses Jahr zu uns kommst. Fatemeh ist sehr nett, du wirst sie mögen, sie freut sich schon, und ihre Kinder auch, die werden wir alle besuchen! Ich sage dir noch, was du alles mitbringen sollst.« – »Ich kann hier nicht einfach weg, wie stellst du dir das vor, was soll das überhaupt?« Mein Kollege von vorhin lief wieder im weißen Kittel an mir vorbei und zwinkerte mir zu. Ich lief rot an. »Ich will wirklich, dass du wenigstens ein Mal nach Iran kommst. Du bist schließlich auch Iranerin! Ich möchte, dass du hier alle kennenlernst!« Ich hatte viele meiner Verwandten tatsächlich noch nie gesehen. Ich wusste nur, dass es sie gab, als wären sie Gefangene in einem Paralleluniversum. Da war mein Onkel Hassan, der älteste Bruder meines Vaters. Er hatte sieben Kinder. Konservativ und sehr religiös sei er, das war für den Rest der Familie untragbar. Ein anderer Bruder war einfach verschollen, nach Kanada ausgewandert. Mein dritter Onkel Mehdi war in meiner Erinnerung riesengroß. Er war sogar mal Vizebürgermeister von Teheran gewesen, aber das war alles, was ich wusste. Er hatte einen Sohn und eine Tochter, die aber deutlich älter waren als ich. Meine Tante Rudabeh und ihr Mann, den alle bei seinem Nachnamen Hashemian nannten, hatten eine Tochter ungefähr in meinem Alter, Narges, sie habe ich nie kennengelernt. Als Mehdi, Hashemian und Rudabeh uns mal in Deutschland besucht hatten – ich ging Rudabeh ungefähr bis zur Hüfte –, kam Narges nicht mit. Ich weiß noch, dass alle wahnsinnig große Koffer hatten und dass in unserer kleinen Plattenbauwohnung, die plötzlich viel größer schien, auf einmal viel mehr los war. Sie brachten viele Geschenke mit, staunten über alles, was ich machte, und die ganze Zeit spielte irgendjemand mit mir. Das Wichtigste war aber, dass sie Nanejun mitbrachten, meine Großmutter. Wo immer ich hinging, hielt sie meine Hand, als wäre das schon immer so gewesen. Ich war traurig, als sie schließlich nach drei Monaten Visumsdauer meine Hand wieder loslassen musste und abreiste. Seit ich ein Kind war, habe ich sie nicht mehr gesehen. Iran bleibt in meinem Kopf wie ein ständig tropfender Wasserhahn. Ich konnte nicht mehr nicht an dieses Land denken. Dann buchte ich einfach ein Ticket.

Ich stehe vor einem Muster aus vielen durchgestrichenen Linien, ein Ornament, das bei längerem Hinsehen verschwimmt, wie die Kachelmuster in den alten persischen Bauwerken. Die Linien und Symbole formieren sich immer wieder neu. Ein Gitter, in dem sich die Lebenswege der Generationen kreuzen. Das Quadrat meines Vaters verbindet eine Gerade mit meinem Quadrat, da war ich klein, da lebten wir zusammen. Dann die Scheidung, er ging wieder nach Iran zurück, also eine durchgestrichene Linie. Ob nicht doch eine gezackte Linie besser gewesen wäre oder vielleicht eine unterbrochene? Ich kann mich schwer entscheiden. Nanejun thront über allen wie eine Sonne. Das Quadrat neben ihr ist ebenso durchkreuzt. Mein Großvater ist sehr früh verstorben, ebenfalls das Herz, er sei eines Tages einfach umgefallen. Eine große Katastrophe für meine Großmutter, mein Vater war gerade erst sieben und Pouya, ihr Ziehsohn, noch ein Baby. Die Linie zwischen Pouya und seiner Frau Shirin ist die einzige, die ich nicht durchgestrichen gemalt habe.

»Du kannst doch bei uns bleiben. Gefällt es dir etwa nicht, bei deinem Vater zu bleiben? Und meinst du etwa nicht, Fatemeh würde gut für dich kochen?« Ich konnte mir kaum vorstellen, mich fast vier Wochen der Obhut meines Vaters auszuliefern. Ich würde keine einzige Entscheidung mehr treffen können. Tatsächlich war er komplett für mich verantwortlich, sobald ich einen Fuß auf iranischen Boden setzte, so wollte es das Gesetz, aber generell war jeglicher Widerstand bei meinem Vater zwecklos. Er schaffte es am Ende einfach immer, so lange zu diskutieren, bis er seinen Willen durchgesetzt hatte. Sicherlich würde er Fatemeh vorschieben, sie würde wahnsinnig enttäuscht sein, wenn ich nicht so lange bei ihnen blieb wie vorgesehen. Mein Plan, in Teheran an der Uni einen Kurs für Ausländer zu belegen und erst mal im Hotel zu wohnen, ließ sich nicht umsetzen. Ich konnte bisher kaum mehr als das Alphabet, obwohl ich einiges mehr verstand, als ich selbst sagen konnte. »Warum willst du unbedingt Geld ausgeben für ein Hotelzimmer? Das ist nicht wie in Deutschland. Du musst hier viele Regeln befolgen und abends zu Hause sein. Wo ist dieses Institut überhaupt? Und deine Tante Rudabeh besteht darauf, dass du auch eine Weile bei ihr wohnst. Wir regeln das alles. Deine Cousine Narges ist da und kann mit dir überall hingehen. Damit du nicht mit der U-Bahn fahren musst. Die U-Bahn ist viel zu voll, da bekommst du gar keine Luft und wirst eingequetscht. Warum willst du überhaupt so einen Kurs an der Uni machen? Die lernen doch nur von morgens bis abends. Bei uns in der Familie kannst du auch Persisch lernen. Du kannst dich mit Fatemeh unterhalten. Von den vier Wochen kannst du zwei in Teheran bei Tante Rudabeh wohnen und zwei bei Fatemeh und mir in den Bergen, dort habe ich ein kleines Ferienhaus gebaut. Das wird dir gefallen! Oder ist es dir peinlich, dass wir nicht so ein großes Haus haben wie die anderen? Wir werden außerdem viel unterwegs sein und Verwandte besuchen. Da bleibt keine Zeit für einen Sprachkurs.« Schließlich willigte ich ein, einige Zeit bei ihm und einige Zeit bei Tante Rudabeh und Narges zu verbringen.

»Kümmere dich um deinen Pass. Du gehst zur Botschaft in Berlin und lässt dir einen Reisepass ausstellen, du machst das schon. Du brauchst kein Visum.« Mir war bis dahin gar nicht bewusst gewesen, dass ich tatsächlich als iranische Staatsbürgerin zählte. Ich hatte nie ein Ausweisdokument bekommen. »Doch, doch«, sagte mein Vater. »Ich schicke denen eine Ausweiskopie von mir, du stehst da als meine Tochter drin. Das reicht. Du bist dann automatisch Iranerin.«

Ich machte mich also in der darauffolgenden Woche...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Autofiktion • Debüt • eBooks • Familiengeschichte • Gießen • Iran • Neuerscheinung • Reise • Roman • Romane • Teheran • Vater-Tochter-Beziehung
ISBN-10 3-641-30973-5 / 3641309735
ISBN-13 978-3-641-30973-2 / 9783641309732
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