Mitgift (eBook)
384 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-31170-4 (ISBN)
Nicht einfach, eine Schwester zu sein, wenn die andere so schön ist, so leuchtend, so geheimnisvoll. Auf Anita und Aloe Böhm liegt ein Familiengeheimnis. Im Deutschland der 90er-Jahre weiß niemand damit umzugehen: Anita, die Jüngere, wurde als Intersex geboren. Mit Operationen und Hormonen versuchte man, ihre wahre Körpergeschichte zu tilgen und vor ihr und der Schwester zu verheimlichen. Erst als Studentin stellt Aloe sich den Fragen, die Anitas rigide Einpassung auch für sie, die »Normale« aufwerfen: Was bedeutet es, eine Frau zu sein? Biologisch? Und sozial? Sie beginnt, auf radikale Weise mit der Formbarkeit ihres eigenen Körpers zu experimentieren. Anita wiederum, verheiratet mit einem älteren Mann, versucht wieder zum Intersex zu werden. Endlich gelingt es den Schwestern, sich zu verbünden. Doch bei ihrem letzten Schritt unterschätzen sie die irrationalen Kräfte der Konvention.
Ulrike Draesner brillanter Roman »Mitgift«, erstmals 2002 erschienen, erzählt vom vergifteten Erbe der binären Ordnung und dem Recht auf Diversität. Das Werk, bei seinem Erscheinen der gesellschaftlichen Entwicklung weit voraus, liegt nun in einer von der Autorin dem heutigen Sprachgebrauch angepassten Neuauflage vor.
Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2024 für Draesners Gesamtwerk: »Ulrike Draesners Werke halten - mit hochentwickeltem Sprachbewusstsein - literarische Signale politischer Vorgänge in Zeitenwenden fest; sie bezeugen dadurch die verwandelnde Kraft der Literatur.« (aus der Begründung der Jury)
Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane, Essays und Gedichte vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (2021) für ihr Gesamtwerk, das multimediale Arbeiten und Übersetzungen einschließt. Die Jahre 2015 bis 2017 verbrachte Draesner in England. Nach verschiedenen internationalen Gastdozenturen und Poetikvorlesungen ist sie seit April 2018 Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Draesner lebt mit ihrer Tochter in Berlin.
1
Fliegen
Sie wollen es haben, kalt und schön steht es auf dem Tisch, unter der dicken Schokoglasur, auf der das Kokosfett glänzt. Aloe hat das Rezept noch gewusst, Kalter Hund, Butterkeks, Blockschokolade und Palmin. Wie es knackt, wenn man hineinschneidet, die Gabeln ragen in die Luft, die Gäste strecken die Finger, ihre Augen funkeln dunkelblau, lila und grün. Da ist kaum mehr Luft zwischen dem Kuchen und den Gabeln, nein, es sind Löffel, bunte Löffel; viel Luft ist nur unterm Tisch, denn kein einziger Fuß berührt den Boden, obwohl alle Stühle besetzt sind, alle fünfzehn Stühle um den ausgezogenen Tisch. Die bunten Schuhe, Nike-Sneakers und Salamander-Luftkissen, baumeln an halblangen Beinen, ein Löffel fällt auf den Teppich. Sie schreien nicht mehr so laut wie zuvor, wuseln, kauen und werfen die Augen schon auf das nächste Stück des kurz gewordenen Kuchens, auf den Teller des Nachbarn; nach Ungestüm riechen sie, ihre Sprache kommt hell und laut. Die Kerzen sind, wie um zu ihrer Aufregung zu passen, dünn und kurz, das Zimmer heiß, die Luftballons werden gleich platzen, da passiert es schon, die Gäste johlen. Dicke Fettkrümel kleben am Mund, eine der sieben Kerzen fällt vom Kuchen, »Stefan, pusten«, da rennt er herbei, die kurzen blonden Haare zu einem Schopf über der Stirn zusammengeschoben, wie immer, wenn er aufgewühlt ist, und pumpt die geröteten Wangen auf. Alle schauen, strampeln und klopfen, Limonade sprudelt in den Gläsern, und da spritzen die Flammen auf, so bläst er, und eine Kerze fällt in die Sahneschale, das rote Wachs fließt aus, ein pfennigrunder Fleck im Weiß.
Butterkeks, Kokosfett und Kakao; letzte Woche haben sie vorgekostet, keine Frage – das haben die anderen noch nie gesehen. Das neue Stück zerkrümelt, Splitter fliegen zur Seite, Aloe ist zufrieden: So muss es sein. Schon sind auch die Splitter weg, von kurzen Fingern vom Tischtuch gelesen. Der Geräuschpegel steigt, die Hälfte ist bereits wieder von den Plätzen gestürmt, einer kriecht unterm Tisch, dunkelblauer Cordhosenhintern, eine kreischt. Zwei Mädchen, zwei von vierzehn, sieben Jahre, vierzehn Gäste, in Ordnung, hat Aloe ihrem Stefan gesagt. Zwei Mädchen, und natürlich ausgerechnet dort, neben den Beinen in Pippi-Langstrumpf-Leggings, musste einer auf den Boden. Mühsam haben sie Platzkarten gemalt, Aloe und Stefan, vorgestern Abend, sich eine Sitzordnung ausgedacht, an die sich niemand hält, Stühle werden gerückt. Aloe grinst und schneidet weiter den Kuchen an, Stefan muss sein drittes Stück essen, schon ist es weg – unglaublich, wie Kinderwangen sich ausbeulen können. Benno trinkt ein Glas Milch, er trägt seine neue, rote Brille eigens für Stefan, der das cool findet, cool, und sein bester Freund tippt auf seinem roten Pokémongerät oder wie das inzwischen heißt. Hanna hat ihre Nägel lackiert, bunt, Kaugummis, Knallfrösche, ein Kindergeburtstag im April – viel Industrie, die Natur fällt als Spielplatz noch immer halb aus.
Den Vogel schießt Stefan ab, Ehrensache, diesmal wirklich, da steht es, mitten in der Wohnung, nur der Kuchen, der gewaltig geschrumpfte (Aloe hat einen zweiten im Kühlschrank), hat kurz abgelenkt – von dem weißsilbern strahlenden Shuttle. Hermes ist in blauen Buchstaben aufgedruckt, wie gepinselt, superschön, findet Stefan und kriecht hinein, richtig wie eine Rakete, wie eine im Fernsehen, ragt es hier in den Raum, nur real, herausfordernd und kühl, geräumig genug zum Drinsitzen, notfalls auch zu zweit, mit Hanna allemal.
Der Nachbarsjunge zieht sich die Hosen hoch – die einhändige Männergeste, mit der er es macht, dabei ist er erst sechs, seine Nase läuft, das merkt er nicht. Hamburger in der Küche, davor die letzte Spielerunde, Aloe reißt das Fenster auf, kühle Luft strömt herein.
Meist sagt er »Aloe« zu ihr, und es wird Zeit, ihm die Geschichte zu erzählen.
Am Abend isst sie das letzte Stück Kalter Hund. Stefan liegt im Bett, fix und fertig, mit einem Riesenbauch. Topfschlagen und Überraschungstüten abgreifen, die Gewinne müssen sich sehen lassen, die Gäste hatten genaue Vorstellungen davon, was sie wollten, und Aloe hat sich angestrengt. Jetzt ist auch sie fertig, und es ist still in ihrer Wohnung, fünf Stockwerke über der Stadt, die Schreie der Kinder hängen noch in der Luft, Krümel liegen auf dem Teppich, einmal als Mädchen hatte Aloe eine Weile nackt auf dem Teppich sitzen müssen, ohne Krümel, ihre Mutter hatte die hilflosesten Vorstellungen von Erziehung gehabt und sie im Wohnzimmer eingesperrt, »schäm dich«, und außen an der Glasfüllung der Tür war Anita hochgewachsen wie eine Pflanze, schattig und beweglich, und hatte Grimassen gezogen. Ihre Schwester Anita. Sie streift sich die Hose ab, hakt den BH auf, ruft Frank an, er weiß nicht, dass sie nackt auf dem Bett sitzt, und sie sagt es ihm nicht. Morgen Abend kommt er, über Nacht. Als sie sich das Nachthemd über den Kopf zieht, blitzen ihre Brüste im Spiegel auf, rund und weiß. Sie löscht das Licht.
Im Halbtraum erscheint ihr eine Frau unter Wasser, in einem tiefen, leuchtenden Blau, wissend lächelt sie Aloe an, geradezu liebevoll, und immer pocht Aloes Herz an dieser Stelle so sehr. Seltsam luzide, energisch, formvollendet der Körper der Schwimmerin im Blau. Anita. Gelegentlich fragt Stefan nach ihr, und es wird Zeit, ihm auch das zu erzählen, was er noch nicht weiß. Oder soll sie schweigen, wie ihre Eltern vor fast vierzig Jahren schwiegen über Anita und darüber, wer sie »wirklich« war oder gewesen wäre. Was machte es mit ihm, wenn sie es ihm sagte? Und was, wenn sie es weiterhin versteckte?
Aloe steht wieder auf. Sie kann die Lichter draußen sehen, die Spitzen einiger Bäume, Dächer. Es ist still, sie friert, die Heizung schaltet über Nacht automatisch ab. Sie schlängelt sich in den Kimono, den Erika, ihre Tante, ihr vor Kurzem aus Japan geschickt hat. Noch mit dem Gürtel beschäftigt, geht Aloe hinüber in ihren living room, weil sie das Hauptzimmer so nennt, living room. Als lebte man dort besonders stark. Es riecht ein bisschen wie an Weihnachten, wenn man als Kind am Morgen des ersten Feiertages zum Tannenbaum und den Geschenken schleicht, während alles noch schläft. Sie braucht die Stehleuchte nicht anzuschalten, um das Shuttle zu sehen. Den halben Tag hat Stefan in dem hellen Raketenkopf gesessen. Er wollte wissen, wie man »Hermes-Shuttle« ausspricht, und sie hat es ihm gesagt.
Was »Hermes« bedeutet, hat er nicht gefragt.
Sie denkt daran.
Ob Stefan mehr ahnt, als sie annimmt? Er ist noch ein Kind, also ein Mensch mit begrenzter Sehnsucht. Welch unsinniger Gedanke. Kinder wirken vielleicht so, weil sie, was sie ersehnen, nicht sagen können. Sie brauchen sichtbare Dinge dafür. Also wollte er ein Shuttle. Ein richtiges, großes, mit dem man zum Mond fliegt – zum Hineinkriechen, im living room.
Und wenn er vor ihr steht, mit der Hitze seines Körpers, seinem kindlich eifrigen Puls, mit Trauer und Lust, und diesem Spannungsmix in den Augen aus Wissen und Neugier, was macht sie, wenn er sie ansieht, als wisse er, was sie nicht sagen kann, eine Mischung aus Erregung und Sehnsucht im Blick, was macht sie, wenn er wieder sagt: Erzähl mir von ihr.
Sie sackte in die Lehne zurück, ihre Knie drückten in den Rücken des Vordermannes. Flugzeuge wurden auch jedes Jahr enger. Es roch nach Kaffee und Fertigfood, über den Lautsprecher knisterten die üblichen Ansagen. Aloe versuchte, die Zeitung aufzuschlagen, stieß an den ausgefahrenen Ellbogen ihres Sitznachbarn. Foto des Jahrhunderts titelte die Woche und zeigte Armstrongs Schuhabdruck im Mond. Zart gekrümmte Kämme über tiefen Tälern – alles schien bis in die letzte Pore eingefangen zu sein: jedes Sandkorn, die Riffelung eines Stiefels, Schuhgröße 52 mindestens, ja, selbst das Erstaunen des Bodens über diesen ungewohnten, allerersten Tritt, festgehalten im Bild. Wahrscheinlich war es gefälscht, das nahm inzwischen jeder an bei jedem Bild, aufgenommen nach dem ersten Schritt des Astronauten, egal, es verblüffte Aloe erneut: wie weich der Mond aussah, wie weich.
Wahllos hatte sie beim Einsteigen nach der Zeitung gegriffen und noch auf den Namen der Maschine geschielt, der im Schlitz zwischen den gefältelten Gummilippen der Gangway und der Einstiegsluke zu sehen war. Auf der Heckflosse tanzte ein Mädchen mit roten Herzaugen und grünem Shirt. Sie rollten zur Startbahn. Aloes Nachbar, ein Dreißigjähriger im Anzug mit pinkgelbgestreifter Krawatte, schob seinen Aktenkoffer unter den Vordersitz, da stoppte die Boeing abrupt. Drei Sprühgeräte, metallische Megaspinnen, torkelten wie betrunken heran und überstäubten die Maschine mit rosa Salzsauce. Es war Ende März und schneeig kalt. In dicken Schlieren floss der Schaum am Fenster herab, unmittelbar vor Aloes Gesicht.
Endlich fuhr der Pilot die Motoren hoch – klappt es, klappt es nicht –, endlich die Kraft, die einen in den Sessel drückt, sich dann zurückzieht, ein dezentes Tier, nicht unbedingt geheuer, das sich für den Rest der Reise damit begnügt, an den Passagierohren zu knabbern, please remain seated, um sich, kurz vor Ende, fasten your seat belts, dank eines Luftloches erneut in Erinnerung zu bringen. Mitten im schönsten Absacken, zwischen dem Dröhnen der Turbinen, ist ein zartes Schmirgeln, ein Reiben, ein verdammt schadenfrohes, freudiges Jaulen zu hören. Sie faltete die Zeitung zusammen, »…don Heathrow, fourteen degrees celsius, thank you for choosing Br…«, der Lautsprecher knisterte, »hope to see you again soon«. Aloes Sitznachbar schlief, sie nahm sich zwei Schokoladenherzen aus dem...
Erscheint lt. Verlag | 11.1.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Diversity & Diversität leben • Doggerland • Drittes Geschlecht • eBooks • Hermaphrodit • Intersexualität • Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung • Neuerscheinung • Roman • Romane • Schwitters • Sexualität • Sexuelle Identität • sexuelle Selbstfindung • Sieben Sprünge vom Rand der Welt • Zwitter |
ISBN-10 | 3-641-31170-5 / 3641311705 |
ISBN-13 | 978-3-641-31170-4 / 9783641311704 |
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