Florence Butterfield und die Nachtschwalbe (eBook)
496 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01772-6 (ISBN)
Susan Fletcher, geboren in Birmingham, studierte Literaturwissenschaften in York und Kreatives Schreiben an der University of East Anglia. Sie hat mehrere preisgekrönte Romane geschrieben. Bereits für ihren Debütroman «Eve Green» erhielt sie 2004 den Whitbread First Novel Award, den Betty Trask Prize und den Author's Club Best First Novel Award. Susan Fletcher lebt in Warwickshire.
Susan Fletcher, geboren in Birmingham, studierte Literaturwissenschaften in York und Kreatives Schreiben an der University of East Anglia. Sie hat mehrere preisgekrönte Romane geschrieben. Bereits für ihren Debütroman «Eve Green» erhielt sie 2004 den Whitbread First Novel Award, den Betty Trask Prize und den Author's Club Best First Novel Award. Susan Fletcher lebt in Warwickshire. Silke Jellinghaus, geboren 1975, ist Übersetzerin, Autorin und Lektorin und lebt in Hamburg. Unter anderem hat sie Jojo Moyes und Graham Norton übersetzt. Katharina Naumann ist Autorin, freie Lektorin und Übersetzerin und lebt in Hamburg. Sie hat unter anderem Werke von Jojo Moyes, Anna McPartlin und Jeanine Cummins übersetzt.
1 Jemand weint
Vor vier Wochen starb ein Mann. Er stürzte – draußen im verwilderten Teil des Grundstücks, wo die Brennnesseln wachsen, wo Efeu und Zaunwinden den Sockel eines alten steinernen Cherubs umranken, sodass man den Cherub nicht mehr erkennen kann. Es ist eine überwucherte Stelle, an der es nach Fuchs riecht. Dorthin geht praktisch niemand. Aber an einem warmen Maiabend spazierte Arthur Potts genau an diese Stelle im Garten – wer weiß schon, warum? –, und er stolperte und schlug mit dem Kopf gegen den Sockel. Nur ein Mal, mit dem hellen, harten Kracks! einer Eierschale. Seine Pfeife und seine Brillengläser zerbrachen, und auch sein Handgelenk gab ein knackendes Geräusch von sich.
«Oh, Hilfe», rief die Person, die den Unfall beobachtete. «Zu Hilfe!»
Das Personal tat, was es konnte. Die Mitarbeiter rannten hinaus und knieten an seiner Seite, bis der Krankenwagen kam. «Arthur? Halte durch!» Aber Arthur Potts starb, während sie noch warteten: Die Wärme seines Lebens sickerte in die dunkle Oxfordshire-Erde, sein Mund blieb offen stehen, sein Blick wurde starr – und alle begriffen, dass sie neben Arthurs Überresten knieten und nicht mehr neben Arthur selbst. Stille legte sich wie Tau auf die Anwesenden. Sie hockten sich auf ihre Fersen und wechselten Blicke. Und er musste wohl plötzlich kleiner gewirkt haben – wie das bei Menschen eben ist, wenn sie sterben.
Florrie war nicht dort. Sie hat nicht gesehen, wie es geschah. Aber sie hat natürlich davon gehört, und seitdem hat sie oft darüber nachgedacht – über seinen Mund, über dieses Kracks!, die zerbrochene Brille. Sie hat sich gefragt, ob Arthur sich wohl kalt angefühlt hatte, als er dalag. Sie hat sich auch gefragt, ob er wohl wusste, dass das sein Ende war. Und falls ja, ob er dagegen ankämpfte? Ob er Angst hatte? Vielleicht hatte er auch, da er nun mal Arthur war, seinen Tod mit mildem, kindlichem Erstaunen akzeptiert: Ach, sieh an – so gehe ich also von dieser Welt.
Es ist schon beinahe Mitternacht. Alles ist still. Florence Butterfield setzt sich im Bett auf, sie trägt ihr geblümtes Nachthemd und starrt auf ihre Bücherregale, ohne sie wirklich zu sehen. Es hilft nicht zu grübeln, das weiß sie – aber sie kann nichts dagegen tun. Es ist nicht nur Arthurs Tod, der sie traurig macht: Florrie kann es kaum ertragen, wie er sterben musste. Denn obwohl der Tod in Babbington Hall kein Fremder ist, kommt er doch meist durch ein langsames Herz oder eine schwache Lunge; zumindest ereilt er die Kandidaten drinnen, im Haus. Wer hätte das hier gedacht? Das Brechen eines Schädels an einem mit Efeu bewachsenen Steinsockel? Und wie konnte das ausgerechnet Arthur passieren – der immer so lebhaft und umgänglich gewesen war, der so gern Nachtisch und Pferderennen und seine Tabakspfeife mochte, die immer ein leises Paff-Paff machte, wenn er sie rauchte? Außerdem war er recht jung gewesen – Mitte siebzig, wirklich gar kein Alter. Hier gibt es einige, die über hundert Jahre alt sind, und doch war es Arthur Potts, nicht sie, der mit einem Krankenwagen abtransportiert wurde und nicht mehr zurückkam.
Florrie schaut in ihren Schoß. Sie vermisst ihren Freund so sehr, gerade in diesem Augenblick, dass sie schon überlegt, es laut zu sagen: «Ich vermisse dich wirklich, weißt du?», als säße Arthur in seinen verschlissenen Cordhosen vor ihr. Was er vielleicht auch tut? Unsichtbar? Wenn, dann lächelt er sie bestimmt an. Florrie. Du dummes Ding.
Ach ja. Denn was kann man da jetzt noch tun? Arthur lebt nicht mehr – aber Florrie atmet immer noch ein und aus. Ihr Herz pocht noch, will immer noch weitermachen. Wie sehr sie sich jeden Morgen freut, wenn sie die Augen aufschlägt und die mit Strukturfarbe dekorierte Decke mit dem rosafarbenen Lampenschirm mit Fransen sieht. Wenn ihr einfällt, dass sie einen ganzen Tag vor sich hat, voller Wunder, denn jeder Tag ist ein solches – selbst jetzt noch, in ihrem Alter.
In diesem Moment schlagen die Kirchenglocken zur Mitternacht. Florrie zieht ihr Laken zurecht. Sie nimmt ihre Brille ab und legt sie auf den Nachttisch, neben ihren Roman und ein Sträußchen getrockneten Lavendel, dann zählt sie die zwölf volltönenden Glockenschläge von St. Mary mit. Sie lauscht auf die wunderbare, tiefe Stille, die ihnen folgt.
Aber heute Nacht kommt diese Stille nicht.
Stattdessen hört sie nach dem Verklingen des zwölften Glockenschlags ein neues Geräusch. Was ist …? Florrie hält den Atem an, um besser hören zu können. Es ist ein zitterndes, seltsames Geräusch – wie der Wind an einem Drahtzaun oder die Saite eines Cellos. Oder ist es der einsame Ruf der gelbbraunen Eule, die im Buchenwald wohnt? Florrie greift nach ihrer Hörhilfe und dreht die Lautstärke auf, damit sie die Eule besser hören kann – denn sie schwärmt seit ihrer Kindheit für Eulen.
Aber es ist weder die Eule noch Cellomusik.
Es ist ein Weinen, da gibt es keinen Zweifel. Jemand weint unter ihrem Schlafzimmerfenster. Und es ist ein zartes, privates Weinen – als hielte dieser Mensch ein verletztes Lebewesen in den Armen. Das Geräusch dringt zwischen den Vorhängen hinein, weht in Florries Zimmer, und sie starrt mit aufgerissenen Augen und fragt sich, wer um alles in der Welt kann das sein? Wer sitzt da um Mitternacht auf der weiß lackierten Bank draußen vor ihrem Fenster und weint?
Aber Florrie kennt die Antwort schon.
Denn es ist nicht nur Florrie, die Arthur Potts vermisst.
Renata. Wie sie in dieser nächtlichen Stunde leuchten muss – mit ihrem weißblonden Haar und ihrer blassen Haut. Wie winzig sie auf der Bank aussehen muss – zusammengesunken, eckig, nur aus Handgelenken und Schlüsselbeinen bestehend; denn sie war zwar schon immer klein, aber seit Arthurs Tod wirkt sie noch kleiner. Tatsächlich ist so viel Traurigkeit in Renata, in letzter Zeit, dass Florrie sie zu gern auseinandernehmen würde, um diese Traurigkeit aus ihr herauszuholen, als wäre sie etwas Anfassbares wie ein verschluckter Knopf oder ein Nierenstein. Denn sie trauern zwar alle um Arthur, Renata jedoch gibt sich selbst die Schuld an seinem Tod. Florrie weiß das nur, weil sie es zufällig gehört hat, wie sie vor sich hinmurmelte: «Ich hätte doch.» Oder: «Wenn ich doch nur …» Bei seiner Beerdigung hatte Renata sich die Faust an die Brust gepresst, als schmerzte es sie körperlich.
Niemand sonst denkt, dass sie Schuld an Arthurs Tod haben könnte. Und doch scheint es, dass sie als Leiterin von Babbington Hall das Gefühl hat, sie hätte seinen Sturz vorhersehen und ihn verhindern müssen, dass sie den Sockel von den Zaunwinden befreien oder ein Schild an den schiefen Torpfosten hätte nageln müssen, auf dem steht Betreten verboten oder Vorsicht, oder den überwucherten Winkel hätte absperren sollen. Aber was hätte das gebracht? Arthur starb nicht wegen der Zaunwinde oder wegen eines baufälligen Mauerwerks. Ein Schnürsenkel war die Ursache gewesen: Arthur starb, weil er keinen festen Doppelknoten in die Schnürsenkel seines linken Schuhs geknüpft hatte. Also war Arthur letztlich selbst schuld an seinem Tod.
Arme Renata. Das liebe kleine Ding.
Was ist jetzt zu tun? Florrie will helfen. Sie will Renatas Hand nehmen und sie trösten. Sie würde gern diese weinenden Augen mit einem kühlen Taschentuch abtupfen und dabei murmeln: «Na, na», wie eine Mutter. Vielleicht sollte sie einfach aus dem Fenster rufen? Oder sie könnte die Notrufleine ziehen, die in der Zimmerecke hängt, und das Nachtpersonal herbeirufen, damit die Pfleger zu Renata eilen und sie hereinführen. Kurz denkt Florrie ernsthaft über die Idee nach. Dann wiederum weint Renata hier, ausgerechnet in der dunkelsten Ecke des Hofs, neben den Töpfen mit den Herzblattlilien und der verfallenen Mauer, in der Zaunkönige nisten. Niemand wohnt hier außer Florrie, die siebenundachtzig, einbeinig und ohne ihre Hörgeräte stocktaub ist. Daher nimmt sie an, dass Renata vielleicht gar keine Hilfe will.
Also zieht Florrie nicht an der Notrufleine. Stattdessen nimmt sie die Hörgeräte wieder heraus, legt sie weg und trinkt einen Schluck Wasser. Sie zieht ihr Laken zurecht, bis sie zufrieden ist – und schaltet ihre Nachttischlampe aus.
Sie beschließt, Blumen zu schenken, um zu helfen. Morgen wird Florrie im Rollstuhl auf das Gelände der Babbington Hall Seniorenresidenz und Betreutes Wohnen fahren und ein paar Blumen für Renata Green pflücken. Das ist nur eine kleine Geste, aber wem erwärmt eine Blume – oder auch zwei – nicht das Herz? Außerdem: Ist Ende Juni nicht die beste Blütezeit im Jahr? Die Gärten hier sind nicht perfekt gepflegt, das stimmt. Aber dadurch wachsen hier dicht an dicht Butterblumen und Margeriten, Lavendel und Rittersporn, Kornblumen und Klatschmohn, die sich selbst von den Rändern der benachbarten Äcker aussäen, ganze Heckenrosenbüsche wachsen hier, und außerdem gibt es ein dichtes, hübsches Beet Borretsch neben dem Kirchentor, das vor Hummeln nur so bebt und summt. Und all diese Blüten würden bestimmt ganz wunderbar in dem alten Chutney-Glas vom Dorffest aussehen, das Florrie genau für derartige Zwecke aufbewahrt hat.
Ja. Sie ist begeistert von der Idee. Sie dreht sich auf die linke Seite und erinnert sich, dass morgen der Tag der Sommersonnenwende ist – der längste Tag des Jahres, voller Wärme und Sonnenlicht. Es...
Erscheint lt. Verlag | 14.11.2023 |
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Übersetzer | Silke Jellinghaus, Katharina Naumann |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Agatha Christie • Alte Dame Detektivin • Altersheim • Altersheim Ermittlungen • Älterwerden • Britischer Humor • buch für frauen • Cosy Crime • Cosy Mystery • Eine Frage der Chemie • England • england krimi • Englischer Humor • Erinnerungen • Geschenke für Frauen • Glücklich altern • Großbritannien Kriminalroman • Hobby-Detektivin • Jane Gardam • louise penny • Mord im Altersheim • Mrs Quinn • Oxford • Richard Osman • Roman • Romane für Frauen • Romane Neuerscheinungen 2023 • Senioren • spannender Roman • späte Liebe • ungeklärter Todesfall • Verlust • Weihnachsgeschenk für Frauen |
ISBN-10 | 3-644-01772-7 / 3644017727 |
ISBN-13 | 978-3-644-01772-6 / 9783644017726 |
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