Leoparden im Tempel (eBook)
144 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01912-6 (ISBN)
Michael Maar, geboren 1960, ist Germanist, Schriftsteller und Literaturkritiker. Bekannt wurde er durch «Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg» (1995), für das er den Johann-Heinrich-Merck-Preis erhielt. 2002 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2008 in die Bayerische Akademie der Schönen Künste, 2010 bekam er den Heinrich-Mann-Preis verliehen. Das Buch «Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur» stand lange auf der Spiegel-Bestsellerliste. Zuletzt erschien in einer Neuausgabe «Leoparden im Tempel». Michael Maar hat zwei Kinder und lebt in Berlin.
Michael Maar, geboren 1960, ist Germanist, Schriftsteller und Literaturkritiker. Bekannt wurde er durch «Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg» (1995), für das er den Johann-Heinrich-Merck-Preis erhielt. 2002 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2008 in die Bayerische Akademie der Schönen Künste, 2010 bekam er den Heinrich-Mann-Preis verliehen. Das Buch «Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur» stand lange auf der Spiegel-Bestsellerliste. Zuletzt erschien in einer Neuausgabe «Leoparden im Tempel». Michael Maar hat zwei Kinder und lebt in Berlin.
Die magnetische Eidechse
H.C. Andersen
Dieser Hans Christian hat die Welt verändert. Im Jahr 1820 entdeckte der dänische Physiker Hans Christian Ørstedt bei der Vorbereitung auf eine Vorlesung zufällig den Einfluß elektrischer Ströme auf eine Magnetnadel. Wenn Strom durch einen Leiter fließt, bildet sich um ihn herum ein Magnetfeld. Ohne diese Entdeckung, die sich in Europa in Windeseile verbreitete, gäbe es heute keinen Generator, kein Radio, keinen Fernseher, keinen Computer.
Fünfzehn Jahre nach der Entdeckung des Elektromagnetismus lieferte Professor Ørstedt einen weiteren Beweis seines Finderglücks und sicheren Gespürs. Einem befreundeten Dichter, der gerade erst zaghaft aus dem Dunkel hervorzutreten begann, sagte er voraus, seine Romane würden ihn vielleicht berühmt machen, seine Märchen aber unsterblich.
Der Naturforscher hatte den besseren Blick als die Literaten, die den Emporkömmling mit den Scheelaugen der Zunft betrachteten. Konnte der überhaupt korrekt schreiben? War sein Dänisch nicht voller Fehler? Recht behielt Ørstedt, und wie fulminant. Die Märchen Hans Christian Andersens zählen heute zu den sieben literarischen Weltwundern. Andersen ist in alle Sprachen übersetzt, seine Figuren sind Universalien geworden, ihr Schöpfer zu dem postumen Ruhm gelangt, der ihm äußerst mißfallen hätte, der aber der höchste ist: das sanfte Zurückgleiten in die Anonymität.
Dieses Zurückgleiten, mit dem aller peinliche Erdenrest abgestreift wird, hat gerade in seinem Fall etwas Tröstliches. Die Nachtseiten des Schwans aus Odense waren so auffällig, daß die Nachwelt nicht immer die Augen fromm vor ihnen verschließen könnte. Ob der mit vierzehn Jahren mittellos nach Kopenhagen gestreunte und vor Ehrgeiz glühende Bub nun aus Königs- oder Hurenhaus stammte (eher letzteres nach Auffassung der jüngsten Biographen), seine Kindheit muß, aller späteren Verklärung zum Trotz, das reine Elend gewesen sein. Und dann das Alter, das schlimme Alter, in dem Andersen zur Landplage geworden ist. Eine kleine Szene nur: Andersen liest heimlich Briefe seiner adligen Gastgeberin, wird zur Rede gestellt und erklärt, er habe nur herausfinden wollen, ob man in England noch von ihm spreche: Welche Enttäuschung, kein Wort über ihn, dabei habe er geglaubt, auf der Insel möge man ihn besonders! Als kranker und morphiumsüchtiger Greis wird Andersen ein unausstehlicher Egoist, roh, rücksichtslos, der in Restaurants sein Gebiß im Wasserglas reinigt und aus Geiz in der kalten Wohnung friert – eine böse queen, die nicht altern kann und auf die sich rachsüchtig die Furien stürzen, all das Verdrängte des Lebens, das ein Märchen nur dann war, wenn man Märchen wie Der Schatten meint.
War das ein später Zusammenbruch der Persönlichkeit? Eher ein Zusammenbruch der Fassaden und Palisaden, die den narzißtischen Kern dieser Persönlichkeit vor den Blicken mehr schlecht als recht geschützt hatten. Über diesen narzißtischen Kern erfährt man auch aus den neuen Biographien wenig; wie sie überhaupt immer dann, wenn sie sich einem heißen Kern nähern, einen kleinen Schlenker zur Seite machen und zum nächsten Thema übergehen.
Die Leiden des Orang-Utans
Andersens Leiden … Von der Triumphreise zurück, muß er erleben, wie unter seiner Kopenhagener Wohnung laut plaudernd nach oben gezeigt wird: «Sieh einer an, da steht unser im Ausland so berühmt gewordener Orang-Utan!» Enorme Füße, eine riesige Adlernase, Schweinsäuglein und überlang herabschlackernde Arme, eine dürr hochragende Gestalt, so daß er außer Orang-Utan auch Kranich genannt werden konnte, des Zappelns und Schwänzelns wegen aber auch Eidechse – so das Äußere des großen Dänen. Andersen litt ein Leben lang an ihm, galt dabei als furchtbar eitel; die überkompensierte Scheu des Häßlichen, der zu oft angestarrt wurde und sich noch als Sechzigjähriger in Seitengassen verzog, wenn Passanten sich lachend nach ihm umdrehten.
Der Körper war aber nicht nur häßlich, er war auch das hohe Tor, durch das jede Minute der Sensenmann treten konnte – verkleidet, so dumm war er nicht, als gutmütiges Zipperlein. Eine ahnungsweise Vorstellung von Andersens Hypochondrie und dem Wogen seiner Ängste bekommt man durch das Tagebuch eines seiner wechselnden jungmännlichen Reisebegleiter. Andersen verschluckt sich beim Essen und muß den Tisch verlassen, um sich auszuhusten. «Obwohl die Gastgeberin Widerspruch erhob, behauptete er, daß eine Nadel im Fleisch gewesen sei; er habe sie verschluckt und könne sie deutlich in seinem Körper spüren. An diesem Abend und am nächsten Tag machte er sich große Sorgen wegen der möglichen Folgen. Er war so verängstigt, daß er darüber die Befürchtung vergaß, aus einer kleinen Pustel über seiner Augenbraue könnte ein großer Auswuchs werden, der sein Auge verdecken würde – eine Sorge, über der er wiederum vergessen hatte, daß er sich einbildete, einen Bruch zu bekommen, weil ich ihn aus Versehen mit dem Spazierstock ganz leicht in der Magengegend angestoßen hatte, was ihn wiederum von dem Gedanken abbrachte, er könne sich Gelenkwassersucht zugezogen haben, worüber er sich bei der Ankunft in Wien große Sorgen gemacht hatte.»
Andersen wurde siebzig, die längste Zeit war nicht der Leib krank, sondern das Gemüt. Die innere Unruhe ließ ihn nirgends bleiben; wie Kleist und Nietzsche war er immer auf Reisen, die ablenken sollten und nie lange Linderung brachten. Anders als Nietzsche, der sich mit seinen Leiden zurückzog, war der im Zickzack durch Europa eilende Märchenmann eine gefürchtete Nervensäge. Durch heillosen Egozentrismus fiel er noch den geduldigsten Gastgebern zur Last. Charles Dickens machte, als der Besuch wieder abgereist war, seinen Gefühlen in einer Karte Luft, die noch lange danach ihr festes Plätzchen über der Frisierkommode im Gästezimmer behielt: «Hans Christian Andersen schlief in diesem Zimmer fünf Wochen – der Familie schien es eine EWIGKEIT.» Im Manchester Guardian war später zu lesen, wie man ihn hinter seinem Rücken genannt hatte – the bony bore –, und wie man vor Verlegenheit fast gestorben war, als er in einem seiner entzückenden Einfälle bei einem Dinner begann, einen Margeritenkranz zu flechten und auf dem Hut Wilkie Collins’ zu drapieren.
Der arme Andersen war lästig, die schlimmste Last aber blieb er sich selbst. Durch ständige Bewegung konnte er sie verschieben und die Druckstellen wechseln, abladen konnte er sie erst am letzten Tag. Als Diener ihres Herrn vagabundierten auch seine Symptome, die Zwänge, Tics und fixen Ideen. Andersen litt unter Depressionen und Wahnvorstellungen; Großvater und Vater starben im Irrsinn, er selbst blickte oft genug schwankend von der Klippe hinab. Wenn sich unbekannter Besuch anmeldete, schlief er nicht mehr, überzeugt davon, er erwarte seinen Mörder. Aus Angst vor Hausbränden führte er ein Seil im Koffer mit, und wie bei dubiosen Lokalen jeden Morgen dieselbe verblichene Tafel Heute frische Muscheln vor der Tür steht, lag auf seinem Nachttisch immer der Zettel: «Ich bin scheintot.»
Jungfrau im Männerwams
In gewissem Sinn war er es. Lebenslänglich auf der Gefängnisinsel, auf die er seit der Jugend verbannt wurde, in nie gelockerter Einsamkeit, von einem Gift, einer Wunde moros und mürbe gemacht … Von all diesen Leiden wollen Andersens Biographen nicht viel wissen. Ein kleines Kapitel immerhin widmet der gründlichste unter ihnen, ein Namensvetter Andersens, der berühmten Polemik Aus eines noch Lebenden Papieren von 1838, mit der sich Dänemarks zweiter großer Mann, damals noch unbekannter Theologiestudent, an Andersens Vernichtung versuchte. Warum war Kierkegaard so kiebig? Verrät sich der Grund in der nicht minder berühmten Fußnote, in der er Andersen als eine jener Blumen beschreibt, «bei denen das Männliche und das Weibliche auf einem Stengel beieinandersitzen» – was hübscher, aber nicht weniger giftig gemeint ist als die Stelle, an der er ihn mit einer Amphibie mit Froschbeinen und dem Schwanz eines Salamanders vergleicht? So wenig der Biograph der sich aufdrängenden Frage folgt, ob Kierkegaards überschießender Affekt nicht etwas mit Feindschaft aus Nähe und also der eigenen Konstitution zu tun haben mochte, so sehr mildert er alles herab, was mit Kierkegaards Angriffsziel zusammenhängt: Andersens bigeschlechtlicher Ausrichtung, wie er es nennt. Fast ist man ihm dankbar dafür, daß er nicht auch den Namen des homosexuellen Ballettänzers abschwächt, mit dem der alte Andersen eine Affaire hatte – er hieß «Scharff».
Eine gewisse Prüderie ging von der dänischen Andersen-Forschung schon immer aus. In jüngster Zeit tarnt sich diese Prüderie mit schwach französisch parfümierten Theorieschleiern. Weil es den Begriff «homosexuell» noch nicht gab, kann es Andersen also auch nicht gewesen sein, ungefähr darauf läuft es hinaus – als hätte es keine Diabetiker gegeben, als das Wort dafür noch nicht erfunden war. Das namenlose Gefühl, das Hans Christian Andersen ein Leben lang nicht in Ruhe ließ und durch Europa jagte, war Verliebtheit in junge Männer, deren Körper (und nicht nur schöne Seelen) ihn anzogen. Daß dieses Gefühl bei ihm womöglich nie oder nur viertelherzig in die wollüstige Tat umgesetzt wurde – was keineswegs sicher ist –, ändert nichts an der Polarität und Spektralfarbe seines...
Erscheint lt. Verlag | 12.12.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Anthony Powell • Biografien Schriftsteller • bücher literatur • Buddenbrooks • Der Mann ohne Eigenschaften • Der Prozess • Elias Canetti • Essays • Essaysammlung • Florian Illies • Franz Kafka • Gilbert Keith Chesterton • Giuseppe Tomasi di Lampedusa • Hans Christian Andersen • Jorge Luis Borges • Literaturgeschichte • Literaturklassiker • Literaturwissenschaft • Lolita • Marcel Proust • Ö1 Buch des Monats • Robert Musil • Schriftsteller Porträts • Thomas Mann • Virginia Woolf • Vladimir Nabokov • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-644-01912-6 / 3644019126 |
ISBN-13 | 978-3-644-01912-6 / 9783644019126 |
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