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Fräulein Gold: Die Lichter der Stadt (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
464 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01336-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fräulein Gold: Die Lichter der Stadt -  Anne Stern
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Sehnsüchtig erwartet: Band 6 der Nr.-1-Bestsellerreihe um die Berliner Hebamme mit Herz und Spürnase. Berlin, 1929: Hulda Gold arbeitet als Hebamme in einer Mütterberatungsstelle in Schöneberg. Für ihre Schützlinge tut sie alles. Aber sie muss auch für sich und ihre kleine Tochter Meta kämpfen, denn das Leben als alleinerziehende, ledige Mutter ist selbst in ihrem Heimatkiez alles andere als leicht. Als sie eine junge Schauspielerin am berühmten Theater am Nollendorfplatz betreut, lernt sie eine neue Facette ihres Viertels kennen: die faszinierende Welt der Künstlerinnen und Bühnenstars, in der nichts ist, wie es scheint. Doch mit der beginnenden Weltwirtschaftskrise kämpft auch das Theater ums nackte Überleben. Als es zu einer seltsamen Einbruchsserie im Viertel kommt, ist Hulda alarmiert, denn nicht nur einer ihrer Freunde ist von der Gefahr direkt betroffen. Sie beginnt, Nachforschungen anzustellen, und muss all ihren Mut und ihren unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn unter Beweis stellen - nicht nur für sich selbst, sondern auch für Meta.

Anne Stern ist promovierte Germanistin und Historikerin und lebt in Berlin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller.

Anne Stern ist promovierte Germanistin und Historikerin und lebt in Berlin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller.

Prolog


Samstag, 27. August 1927

Die klapprige Leiter schwankte gefährlich, als sich Harry auf einer der oberen Sprossen auf die Zehenspitzen stellte und zur Decke des Theatersaals reckte. Nur die Notbeleuchtung brannte und tauchte den Raum mit den klobigen Bühnenaufbauten und den hohen Filmleinwänden in schummriges Licht. Einen Moment hielt er inne und bemühte sich, die Balance wiederzugewinnen, während er mit beiden Händen den schweren Vorhangstoff umklammerte, den er anbringen wollte.

Milli lachte. Sie saß unten auf dem Bühnenrand, baumelte mit den Beinen und sah zu ihm hinauf, wie er da wie ein lausiger Akrobat auf der Leiter herumzappelte.

«Es hilft nichts, dich an dem Ding festzuhalten», sagte sie. «Jedenfalls nicht, solange es nicht an der Decke hängt, sondern nur in der Luft schwebt.»

«Sehr witzig.» Harry ließ den roten Samtstoff sinken, sodass der Saum unten am Fuß der Leiter auf dem Boden schleifte. «Was glaubst du, was ich hier gerade mache?»

«Ich dachte, du wolltest den Vorhang anbringen», sagte Milli ungerührt und zog an ihrer Zigarette. Die Glut glomm rot im Halbdunkel des leeren Theatersaals auf. «Aber offenbar hast du nur vor, dir den Hals zu brechen.» Ein Rauchring schwebte durch die Luft zu Harry hinauf und verlor sich an der unbeleuchteten Decke.

«Dann hilf mir doch», sagte er und sah sie herausfordernd von seinem Aussichtspunkt an.

«Ich?»

Sie machte eine gezierte Bewegung durch das kurz geschnittene Haar. Anschließend bog sie den Kopf mit dem silbernen Stirnreif zurück und reckte das Kinn, mimte die große Diva – ziemlich überzeugend, wie er zugeben musste.

«Ich bin Schauspielerin, Harry, keine Bühnenarbeiterin. Piscator hat mich nicht engagiert, um hier Handlangerdienste zu machen.» Aber sie lächelte.

Harry fiel keine Erwiderung ein. Er konnte ihr nicht böse sein. Eigentlich war Milli schwer in Ordnung und ein guter Kamerad. Und nebenbei eine knorke Schauspielerin, die, wenn sie sich anstrengte, vielleicht einmal genauso berühmt werden würde wie die große Tilla Durieux, die im neuen Stück hier im Haus die Hauptrolle spielte. Aber an der gerade erst eröffneten Piscator-Bühne im Theater am Nollendorfplatz gab es keine große Trennung zwischen Arbeitern, Dramaturgen und Schauspielern. Sie alle dienten dem Theater, sie alle bewunderten – manche mehr, manche weniger – Erwin Piscator, den großen Intendanten, und wollten ihm und seinen Ideen folgen. Jeder leistete seinen Beitrag, so wie das in einer echten Gemeinschaft nun einmal war. Auch wenn Harry natürlich zu Ohren gekommen war, dass es trotzdem dann und wann Streit mit den anderen gab, mit den Stückeschreibern und den Dramaturgen, wenn diese nach den Proben noch zusammensaßen, ihre Zigarren rauchten, tranken und mit den Händen in der Luft herumfuchtelten. Piscator sei elitär, hatte jemand gesagt, ein bürgerlicher Piefke im proletarischen Kostüm. Und außerdem ein Traumtänzer, der keine Ahnung vom Geschäft habe. Nur von der Kunst, das ja, doch ein Theater musste schließlich auch Gewinne machen. Warum sonst hatte Piscator sich bei der Volksbühne mit dem gesamten Vorstand überworfen? Warum sonst hatte er seinen Hut nehmen müssen und hier im Theater am Nollendorfplatz einen Neuanfang versucht? Es war ein ungeheures Wagnis, in diesen Zeiten eine neue Bühne zu gründen, und nur durch eine ordentliche Finanzspritze eines Gönners war das Risiko überhaupt möglich. Doch Harry glaubte an den kleinen, schlanken Mann mit den feinen Gesichtszügen, der sich mit den Arbeitern solidarisierte und versicherte, er mache Theater für jedermann.

Mit aller Kraft zerrte Harry nun an der schweren Stoffbahn. Es wäre doch gelacht, wenn er das Ding nicht endlich an seinen Platz bringen würde, damit die Probe heute Abend mit Vorhang stattfinden konnte. Mit zusammengebissenen Zähnen reckte er sich erneut, und tatsächlich gelang es ihm diesmal, erst einen, dann zwei Haken, die an einer Schiene die Decke entlangliefen, in die Ösen des Stoffes zu schieben. Ermutigt schob er seinen Körper weiter nach vorn, streckte sich zum dritten Haken – und verlor seinen Halt.

Er wedelte mit den Armen, flog durch die Luft und landete unsanft auf den Bühnenbrettern. Es schepperte, und er fand sich, zur Hälfte vom heruntergerissenen Vorhang bedeckt, auf dem Hosenboden wieder. Die Leiter krachte einen halben Meter neben ihm auf die Dielen.

Milli war aufgesprungen, doch als sie sah, dass ihm nichts passiert war, begann sie lauthals zu lachen. Sie drückte die Zigarette am Rand der Bühne aus und musterte ihn halb spöttisch, halb mitleidig.

Harry rieb sich den Steiß und fluchte. Dann sah er in Millis fröhliches Gesicht mit dem weit aufgerissenen Mund und den blitzenden Augen und musste einfach mitlachen.

«Hast du auch eine Fluppe für mich?», fragte er und befreite sich von dem schrecklichen Vorhang.

Im Sitzen rutschte er auf seinem schmerzenden Hinterteil über die Dielen zum Bühnenrand. Milli setzte sich neben ihn, zündete erst sich, dann ihm eine Zigarette an. Ein wenig roter Lippenstift klebte noch am Mundstück, als sie sie ihm reichte.

Da saßen sie nun wie zwei Schulgören auf der Mauer und pafften einträchtig.

«Glaubst du, es wird ein Erfolg?», fragte Harry ins Dämmerlicht hinein.

«Das hier?» Milli machte eine unbestimmte Geste durch den Raum. «Auf jeden Fall! Wir werden eine Legende sein.»

Die Bestuhlung im Parkett war schon fertig, die Billetts für diese Plätze würden teuer verkauft werden. Oben auf den Rängen dagegen wollte Piscator die Karten zu Spottpreisen verscheuern, er wollte sein Theater nicht nur mit erlauchten Gästen des Bürgertums, sondern auch mit Arbeitern füllen. Ein proletarisches Haus sollte es werden. Und trotzdem würde er nicht an den modernsten Mitteln, den teuersten Kostümen, den größten Talenten der Stadt sparen, so hatte er es bei seiner Ansprache vor ein paar Tagen verkündet, als die Proben begonnen hatten. «Wir werden Theatergeschichte schreiben», hatte er beteuert, ganz ähnlich wie Milli eben. Und Harry, der kein Künstler, sondern nur ein einfacher Arbeiterjunge war, hatte sich bei dem Wir mitgemeint gefühlt und war stolz gewesen. Von klein auf hatte er Theaterluft geschnuppert, hatte seinen Vater, einen Maschinenbauer, stets begleitet und wollte in dessen Fußstapfen treten. Denn der Duft nach weißer Schminke, nach süßlichem Kunstblut und staubigen Polstersesseln war ihm vertrauter als alles andere. Es war eine Welt der Maskerade und Tünche im Gesicht der Schauspieler, doch dahinter, das wusste Harry, zeigte sich die Wahrheit. Es war eine andere Wahrheit als die, die in den Zeitungen stand, aber deshalb doch kein bisschen weniger wahrhaftig und groß.

«Ich werde jedenfalls alles geben», sagte Milli und blies weitere Rauchringe zur Decke.

Harry glaubte ihr aufs Wort. Ihr Profil mit der klassischen Nase und dem energischen Kinn war das eines zukünftigen Stars, fand er. Am liebsten hätte er einmal ihre Hand genommen und ihr einen Kuss aufgedrückt, doch er wagte es nicht. So sah er sie nur von der Seite an, bewunderte die langen Wimpern und die weiche Linie ihrer Wangenknochen im Halblicht. Und er nahm sich vor, keine einzige Vorstellung zu verpassen, in der sie mitspielte, und sie nicht aus den Augen zu lassen, solange er das Glück hatte, im Theater in ihrer Nähe zu arbeiten.

«Du …», sagte er gedehnt, als ihm etwas einfiel. «Heute während der Probe hat jemand nach dir gefragt.»

«So?» Sie drückte ihre Zigarette aus. «Wer denn? Ein heimlicher Bewunderer?»

«Es war eine Frau», sagte Harry. «Sie war äußerst schick, Haare wie schwarzer Lack und mit einem richtigen Pelzkragen am Mantel.»

Irrte er sich, oder wurde Milli blass?

«Hat sie was gesagt?»

Harry zuckte die Schultern. «Nicht viel. Nur, dass ich dich grüßen soll.» Er suchte in seinem Gedächtnis nach der seltsamen Formulierung, die die Fremde gebraucht hatte. «Von deiner Vergangenheit soll ich dich grüßen», sagte er dann, als er sich wieder erinnerte.

«Also, ich habe keine Ahnung, wer das ist», blaffte Milli und wirkte beinahe zornig.

In ihren Augen stand ein Ausdruck, den Harry noch nie darin gesehen hatte. Sonst war Milli ein Ausbund an Lebensfreude und Selbstbewusstsein mit ihren großspurigen Gesten und ihrem verführerischen Lächeln. Doch jetzt wirkte sie auf einmal wie ein verängstigtes Kind.

«Das war alles?», fragte sie heiser. An ihrer Schläfe pochte eine kleine Ader.

Harry nickte verwundert. «Ja», sagte er. «Vielleicht war es auch nur ein Scherz?», fügte er zerknirscht hinzu, weil er Milli Kummer gemacht hatte. «Die Frau kam mir vor, als hätte sie sich verkleidet.»

«Ja, wahrscheinlich hatte sie das auch», sagte Milli und nickte bekräftigend. «Eine von diesen Verrückten, die hoffen, ein Engagement bei einem Theater zu bekommen, wenn sie sich nur genug auftakeln.» Ihre Wangen hatten wieder Farbe.

«Komm», sagte sie und sprang auf. «Ich werde mal nicht so sein und dir mit dem Vorhang helfen. Schließlich will ich nicht zusehen, wie du gefeuert wirst, ehe in diesem Kasten auch nur die Premiere stattgefunden hat.»

Harry stand ebenfalls auf. Er war froh, dass Milli wieder die Alte zu sein schien. Aber sie hatte ihn nicht täuschen können. Sie wusste ganz genau, wer diese Frau war, die heute während der Probe zum Hintereingang des Theaters gekommen war. Er hatte es in dem Erschrecken gesehen, das über ihr Gesicht gehuscht war. Doch wenn sie ihm nicht sagen wollte, woher sie sich kannten und was diese aufgedonnerte...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2023
Reihe/Serie Die Hebamme von Berlin
Die Hebamme von Berlin
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 1920er Jahre • alleinerziehend • Alleinerziehende • Berlin • Berlin Krimi • Berlin Roman • Bestseller • Bestsellerautorin • Ensemble • Erich Kästner • Erwin Piscator • Familie • Frau • Geburt • Geburtsheilkunde • Geschenke für Frauen • Hebamme • Hebammenwissen • Kinderpsychologie • Kita • Kommissar • Krimi • Kriminalroman • Kultur • Künstlerviertel • Liebesroman • Mutter • Mütterberatung • Nachtleben • nollendorfplatz • Radikalisierung • Reformpädagogik • Schauspielerin • Schicksal • spiegel bestseller • Spiegel Bestseller 2022 • Spiegel Bestseller 2023 • Spiegel-Bestsellerautorin • Starke Frau • Tänzerin • Theater • Tochter • Todesfall • Weibliche Kriminalpolizei • weiblicher Ermittler • Weihnachtsgeschenk • Weimarer Republik • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-644-01336-5 / 3644013365
ISBN-13 978-3-644-01336-0 / 9783644013360
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