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«Mir geht's gut, wenn nicht heute, dann morgen.» (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01768-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

«Mir geht's gut, wenn nicht heute, dann morgen.» -  Dirk Stermann
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Fast ihr ganzes Leben hat Erika Freeman in New York verbracht, dann sitzt sie eines Abends in der Talkshow von Dirk Stermann, «Guten Abend, Österreich», und verzaubert ihren Gastgeber und die Nation. Im hohen Alter lebt sie wieder in ihrer Heimatstadt Wien, jeden Mittwoch kommt Dirk sie nun besuchen, um sich mit ihr bei Kipferln und Melange über Gott und die Welt und über ihr faszinierendes Leben zu unterhalten. Geboren 1927, ist Erika mit 12 Jahren vor den Nazis nach New York geflohen. Sie wächst in einem Waisenhaus auf, hat Anteil an der Gründung Israels und wird nach dem Studium Psychoanalytikerin; ganz auf sich gestellt, ihre Mutter hat den Krieg nicht überlebt. Ihr Vater, vermeintlich im KZ gestorben, glaubt seinerseits, als Einziger der Familie überlebt zu haben, bis er mitten auf dem Broadway seinen Bruder trifft. Als Therapeutin ist Erika bald eine Berühmtheit, die Riege ihrer Patienten reicht von Brando bis Monroe. Nun, mit 95, ist sie wieder Österreicherin geworden, residiert im berühmten Hotel Imperial, wo einst Hitler nächtigte, und wenn man sie fragt, wie es ihr geht, sagt sie: «Gut. Wenn nicht heute, dann morgen.»

Dirk Stermann, geboren 1965 in Duisburg, lebt seit 1987 in Wien. Er zählt zu den populärsten Kabarettisten und Fernsehmoderatoren Österreichs und ist auch in Deutschland durch Fernseh- und Radioshows sowie durch Bühnenauftritte und Kinofilme weit bekannt. 2016 erschien sein Roman Der Junge bekommt das Gute zuletzt, und NDR Kultur urteilte: «Ein lustiger deutscher Medienstar, der als österreichischer Romancier sehr ernst genommen werden sollte.» 2019 folgte Der Hammer und 2022 Maksym.

Dirk Stermann, geboren 1965 in Duisburg, lebt seit 1987 in Wien. Er zählt zu den populärsten Kabarettisten und Fernsehmoderatoren Österreichs und ist auch in Deutschland durch Fernseh- und Radioshows sowie durch Bühnenauftritte und Kinofilme weit bekannt. 2016 erschien sein Roman Der Junge bekommt das Gute zuletzt, und NDR Kultur urteilte: «Ein lustiger deutscher Medienstar, der als österreichischer Romancier sehr ernst genommen werden sollte.» 2019 folgte Der Hammer und 2022 Maksym.

Eins Mittwochs Erika


Hillary Clinton lacht. Sie sitzen bei einer Gala in New York nebeneinander. Erika trägt wie Hillary ein Abendkleid. Beide haben großartige Laune. Erika beugt sich hinüber und sagt etwas. Hillary beginnt zu wiehern.

«Was hast du denn da zu ihr gesagt», frage ich.

«Siehst du meinen Orden?»

Ich nicke. Bei uns im Studio trägt Erika an ihrem roten Kleid einen goldenen Orden.

«Das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Hillary fragte mich, was das ist, und ich sagte ihr: They tried to kill me, now they decorate me!»

Jetzt lacht auch das Studiopublikum.

 

Franz Schubert hatte recht gehabt. Er hatte mir als Erster von Erika erzählt. Sie sei Wienerin, als Kind allein vor den Nazis nach New York geflohen und viele Jahre später die Psychoanalytikerin der Hollywoodstars geworden. Eine fantastische Frau, sagte Franz. Sie lebt jetzt wieder in Wien. Wollt ihr sie nicht in die Fernsehshow einladen?

Davor hatten wir über Stefan Troller gesprochen, den 1921 in Wien geborenen Schriftsteller, Journalisten und Dokumentarfilmer, zu dessen hundertstem Geburtstag ein toller Dokumentarfilm gemacht worden war. Der Film lief gerade in Wien.

Interviews hatte Troller gern als «Menschenfresserei, die vom warmen Blut ihrer Opfer lebt», bezeichnet. Er war aus Wien vor den Nazis geflohen, nach Paris und Amerika und später wieder zurück nach Paris. Nach der Filmpremiere waren alle ins Café Korb gekommen, wo Franz als Impresario arbeitet. Franz bat den Hundertjährigen darum, ein Filmplakat für das Café zu signieren. Gern, sagte Troller und tat es auch. Später las Franz, was der ehrwürdige Greis auf das Plakat geschrieben hatte: «Wo bleibt eigentlich meine Frittatensuppe, die ich vor einer halben Stunde bestellt habe?»

Troller war für den Film mit dem Kamerateam in die alte Wohnung seiner Familie gegangen. In der Wohnung lebt heute ein älteres Ehepaar. Troller ging durch die Wohnung, und dann fiel ihm der große Bücherschrank im Wohnzimmer auf.

«So einen Schrank hatten wir auch», sagte er. Das Ehepaar wurde unruhig und erklärte, den Schrank habe man nach dem Krieg gekauft, es könne also nicht der Schrank der Trollers sein.

Troller nickte und flüsterte dann der Regisseurin zu: «Da steht sogar noch das Buch im Regal, das ich zu meiner Bar Mizwa geschenkt bekommen habe.»

«Wien, das fidele Grab an der Donau, dessen Bewohner allein sein wollen, aber dafür Gesellschaft brauchen», zitierte Franz Alfred Polgar, und ich sah mich im Kaffeehaus um.

«Mag Troller Wien noch?», fragte ich.

«Paris mag er mehr», antwortete Franz. «Die Frittatensuppe kam dann aber gleich, nachdem er’s aufs Plakat geschrieben hat.»

«Gut», sagte ich. «Ich mag es, wenn Wiener Emigranten gut behandelt werden, wenn sie in die Stadt zurückkehren.»

Billy Wilder, Lotte Lenya, Arnold Schönberg, Hedy Lamarr, Carl Djerassi, der Vater der Antibabypille, Sigmund Freud, Kurt Gödel, Otto Preminger, Max Reinhardt, Theodor Reik, Franz Werfel, Paul Wittgenstein, Fritz Lang, Friedrich Torberg, der Filmproduzent Eric Pleskow und Tausende andere. Sie kamen aus Wien und wurden vertrieben.

«Pleskow war auch einmal als Gast in meiner Sendung», sagte ich.

«Wie viele Oscars hat er gewonnen?», fragte Franz.

«Vierzehn. West Side Story, Amadeus, Einer flog übers Kuckucksnest, Das Schweigen der Lämmer, Rocky, Der Stadtneurotiker, Der letzte Tango von Paris.»

«Eine Legende.»

«Ja, eine Legende. Er sprach sehr leise. Als ich ihn vor der Sendung begrüßte, sagte er, er wisse nicht, warum ich ihn eingeladen habe. Nach der Sendung sagte er, jetzt wisse er es.»

«Ich hab die Sendung gesehen. Er war großartig.»

«Er liebte Alkohol, Zigaretten und Innereien und wurde trotzdem so alt.»

«Alle Wiener lieben Alkohol, Zigaretten und Innereien.»

«Er hat sogar während der Sendung geraucht.»

«Pleskow und Helmut Schmidt waren die Einzigen, die das durften. Als Helmut Schmidt starb, fand man in seinem Keller 5000 Stangen Mentholzigaretten, wusstest du das?»

 

In der Sendung hatten wir ein Video mit Grußbotschaften an ihn gezeigt. Jody Foster, Kevin Costner, Woody Allen, Anthony Hopkins. Ein Hauch von Hollywood in unserer kleinen Nacht-und-Nebel-Show.

«Jody Foster hat zu meiner Frau gesagt, ich nehme ihn mit zur Oscarverleihung. Und meine Frau sagte, du kannst ihn behalten.» Großes Gelächter. Die Zuschauer hatten ihn geliebt. Weil er leise sprach, hatten wir das Publikum gebeten, während des Gesprächs mit ihm sehr ruhig zu sein. Er saß da in der Stille, rauchte, lächelte und bezauberte.

«Mit alten Emigranten haben wir immer gute Erfahrungen gemacht. Wie alt ist diese Erika Freeman?»

«92», sagte Franz. «Aber du wirst sehen, sie ist im Kopf jünger als wir!»

 

Erika ist klein, aber ihre blonden Haare leuchten im Scheinwerferlicht. Sie trägt einen roten Pullover, eine rote Jacke. Das goldene Ehrenkreuz um den Hals.

«Ihr habt eine sehr empfindliche Seele», sagt sie.

«Wer, wir Schauspieler?», fragt mein Kollege.

«Nein», sage ich. «Sie meint Marlon Brando und mich.»

«Marlon Brando war ja sexuell sehr aktiv», wirft mein Kollege ein.

«Nicht mit mir», sagt Erika, und das Publikum lacht. «Interessant war, dass er niemals mit einer weißen Frau schlafen konnte. Das war der Schutz vor dem Wunsch, mit der eigenen Mutter zu schlafen.»

«Darfst du uns das erzählen, weil er tot ist?», frage ich.

«Nein. Weil das bekannt ist. Geheimnisse würde ich nicht erzählen. Auch nicht über Tote.»

Man merkt, dass sie es gewohnt ist, im Scheinwerferlicht zu stehen. In Amerika war sie in vielen Shows zu Gast. Sie spielt mit der Kamera, mit den Zuschauern.

«Wie würdest du als Psychoanalytikerin Donald Trump einordnen», frage ich.

«Ein armer Mensch. Sein Vater mochte ihn nicht, und seine Mutter sagte mir einmal, sie hoffe, ihr nichtsnutziger Sohn würde niemals in die Politik gehen.»

«Seine eigene Mutter?»

«Ja, sie kannte ihn wohl am besten. Ich saß einmal bei einem Abendessen am Nebentisch von Donald Trump. Und ich habe gesehen, dass er einen Fettsteiß hat.»

Ich blicke sie fragend an.

«Ein Po, auf dem man Gläser abstellen kann. Sein Sakko hat hinten zwei Schlitze, damit alles hineinpasst.»

«Und deswegen ist er so, wie er ist? Weil er einen sehr dicken Po hat?»

«Nein, nicht nur. Ein Vater, der ihn nicht mag, eine Mutter, die ihn für einen Nichtsnutz hält, und ein Gesäß, auf das man Dinge stellen kann. Ich war an dem Abend mit Barbra bei dem Essen, und sie wollte gleich einen Teller auf Trumps Po stellen.»

«Welche Barbra?»

«Streisand.»

«Du kennst Barbra Streisand?»

«Natürlich. Sie hat ja meine Mutter gespielt.»

«Barbra Streisand hat deine Mutter gespielt?»

«Ja, in ‹Yentl›. Kennst du den?»

 

Am Mittwoch nach der Sendung rief Franz an und fragte, ob ich Zeit hätte, ins Café Korb zu kommen. Erika sei da und würde mich gerne wiedersehen. Tagesfreizeit ist mein Hobby; ich sagte zu.

Ich zog mich an und ging zu Fuß von der Berggasse zur Brandstätte, vorbei an der Strickemanufaktur, die Seile für Segler herstellt und im Schaufenster mit dem Spruch wirbt: «Stricke – Körper und Seele baumeln lassen». Ein sehr wienerisches Plakat.

Vorbei an dem historischen Werbeschild des Apothekers Jul. Trnkóczy für seine Linderung der Atemnot versprechenden Asthmazigaretten.

Im gut gefüllten Café Korb sah ich mich um. An der Wand hing das Plakat mit der Frittatensuppen-Nachfrage von Stefan Troller, und hinter einem der Tische entdeckte ich Erika.

Sie trank einen kleinen Braunen. Ich musste unweigerlich an den Witz denken, in dem ein Nazi im Kaffeehaus zum Kellner «Ein kleiner Brauner!» sagt, und der Kellner antwortet: «Das seh ich, aber was wollen Sie trinken?»

Ihre Tasse war bis an den Rand gefüllt. Ich setzte mich ihr gegenüber, vorsichtig , dass der Kaffee nicht überschwappte.

Sie strahlte mich an. «Wie schön, dass du Zeit hast!»

«Du hast schon gearbeitet?», fragte ich.

«Ja, eine Klientin aus New York. Sie ist seit Jahren bei mir.»

«Aber in New York ist es doch mitten in der Nacht!»

«Ihr Termin bei mir ist immer um 9. Und bei mir war es 9.»

«Bei ihr war es 3 Uhr in der Nacht!»

«Ja, aber es war eine gute Stunde.»

Sehr langsam führte sie die volle Tasse zum Mund. Ich erwartete, dass sie den Kaffee verschütten würde, aber die 93-Jährige trank und stellte die Tasse wieder ab, ohne dass ein Tropfen verschüttet wurde.

«Bei meinem Therapeuten hängt ein Comic aus dem New Yorker an der Wand», sagte ich. «‹Wir kommen auf die Welt, dekonstruieren unsere Kindheit und dann sterben wir.›»

Sie lachte.

«Ich find den Satz eher deprimierend», sagte ich und schlug unter dem Tisch meine Beine übereinander. Der Tisch wackelte, und neben ihrer Tasse bildete sich eine kleine Pfütze. «Oh, Pardon!» Ich wischte sie mit einer Serviette weg.

«Warum ist das deprimierend? Wir kommen auf die Welt, das ist doch schon mal sehr gut. Wir schauen, was in unserem Leben passiert, auch gut. Und wenn der Herrgott findet, dass wir genug angestellt haben, gehen wir.»

«Woody Allen hat irgendwo gesagt, dass er nach Jahrzehnten der Psychoanalyse jetzt damit aufgehört hat, weil es nichts gebracht hat.»

«Na ja, in der Zeit wurde er ein Star. Wird ihm die Psychoanalyse schon nicht geschadet...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2023
Zusatzinfo Mit 4 s/w-Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Erika Freeman • Freundschaft • Gespräche mit Therapeutin • Holocaust Überlebende • Israel • Lebensgeschichte • Literatur Bestseller • Nationalsozialismus • New York • Österreich • Psychoanalyse • Psychologin • Resilienz • Romane 2023 • Romane Neuerscheinung • Shoah • Traumatherapie • Wien • Willkommen Österreich
ISBN-10 3-644-01768-9 / 3644017689
ISBN-13 978-3-644-01768-9 / 9783644017689
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