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Irre Wolken (eBook)

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2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01274-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Irre Wolken -  Markus Berges
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Ein schüchterner Neunzehnjähriger, Dienst in der Psychiatrie; überraschend langweilige Psychosen, echte Risiken und Elektroschocks. Und dann kommt Anne Schmidt auf die Station. Die Patientin ist gefährlich wie ein Sturm, aber sie zieht den jungen Pfleger in ihren Bann. Es sind die Tage der Tschernobyl-Katastrophe im April 1986, da läuft Anne bei einem Spaziergang davon. Als der Junge sie einfängt, fleht sie ihn an, sie laufen zu lassen, beschwört in seinen Armen ihre Genesung. Gegen alle Regeln lässt er sie gehen, um sie gleich am Abend wiederzusehen. Der kurze Frühling ihrer verbotenen Liebe beginnt. Markus Berges erzählt von der Freiheit und ihren Exzessen, vom Jungsein als dem Ort des ersten, größten Glücks - und dessen Preis.

Markus Berges, geboren 1966 in Telgte, studierte Germanistik und Geschichte. Als Sänger und Songschreiber der Band «Erdmöbel» wurde er als «großer zeitgenössischer Lyriker» (taz) und Erzähler «wie traumverloren dahingeraunter Geschichten» (Die Zeit) bezeichnet. «Erdmöbel» veröffentlichten bislang vierzehn Alben, zuletzt «guten morgen, ragazzi». Markus Berges erster Roman, «Ein langer Brief an September Nowak», erschien 2010, sein zweiter, «Die Köchin von Bob Dylan», 2016. Markus Berges lebt mit seiner Familie in Köln.

Markus Berges, geboren 1966 in Telgte, arbeitete in der Psychiatrie, während er Germanistik und Geschichte studierte. Als Sänger und Songschreiber der Band «Erdmöbel» wurde er als «großer zeitgenössischer Lyriker» (taz) und Erzähler «wie traumverloren dahingeraunter Geschichten» (Die Zeit) bezeichnet. 2010 erschien der Roman «Ein langer Brief an September Nowak», 2016 «Die Köchin von Bob Dylan». «Literaturkritik» schrieb: «Zählt zum Besten, was die deutsche Literatur in den letzten Jahren hervorgebracht hat.»

Die schönsten Märchen aus aller Welt, Band 1


«Ey, leise!»

Wann immer wir nachts auf dem Weg in die Disko an der Klapsmühle vorbeikamen, gab es jemanden, der «Ey, leise» rief: «Pscht jetzt, ey, leise, mach mal Musik aus!» Dann kurbelten alle die Fenster runter und lauschten dem Fahrtwind, bis wer sagte: «Ich kann se schreien hören!»

Wir brüllten daraufhin dann immer selber wie die Verrückten. Es war ein Ritual, aber ich war wohl nicht der Einzige, der gelegentlich glaubte, tatsächlich etwas gehört zu haben.

Die Psychiatrie am Stadtrand wurde «Die Hülle» genannt, nach einer alten Ortsbezeichnung. Unsere Heimatforscher stritten, inwiefern das aus dem Althochdeutschen herrührte, von «huliva», Pfuhl, oder von «hule», kleiner Sumpfhügel, oder von vor Ort verscharrten Pestopfern, achtlos in Tücher «gehüllt», oder ob «Die Hülle» spätmittelalterlichen Ackerkäufen zu verdanken war, und zwar eines Ehepaars namens «Ter Hullen». Doch außer den zwei pensionierten, heimatforschenden Lehrern interessierte das niemanden. Zu sinnfällig war der Name. «Die Hülle» bezeichnete etwas, das man stets nur von außen sah, wo etwas versteckt wurde. Und natürlich klang es nach «Die Hölle».

Den Satz «Der gehört in die Hülle» hörte ich zum ersten Mal im Sommer 73. Es war das Ende meines ersten Schuljahrs, und wir bekrickelten gerade Straßen und Bürgersteige mit Figuren, Spielfeldern und noch ein wenig experimentellen Flüchen und Schimpfnamen. Aber neben unseren Kritzeleien waren zwischen den Reihenhausreihen zuletzt andere, fremde Zeichen aufgetaucht. Wir selbst hatten nur weiße Kreide und Malsteine und staunten, dass da jemand offenbar etwas ganz anderes benutzte.Denn seine Zeichnungen leuchteten und verblassten nicht.

Eines Abends sahen wir ihren Schöpfer. Es war mein Nachbar, ein dürrer, langer Erwachsener, der mir nie besonders aufgefallen war. Leer gespielt bogen mein Siedlungsfreund und ich gerade in unseren Weg ein, da sahen wir ihn aus der Ferne am Boden knien, zwischen Töpfen. Mein Freund bog sofort nach Hause ab, klingelte, seine Mutter öffnete, und er war im Elternhaus verschwunden. Seine Mutter stand noch einen Moment auf den Stufen und schaute wie ich in Richtung des Malers. «Dann bis morgen», sagte sie und verschwand ebenfalls.

Ich musste an ihm vorbei. Also fing ich an, auf den Kantstein zu treten, erst nur mit links, schließlich mit beiden Füßen, um mich, scheinbar balanceversunken, an ihm vorbeizumogeln. Er hatte Lappen um die Knie gebunden, ein sehr großer Mann, jetzt gekrümmt wie ein Fragezeichen mit der Nasenspitze fast am Boden. Er malte an einer Frau. Fast war ich schon an ihm vorbei, da hörte ich: «Was isst ein Rok?»

Womöglich hatte er nur mit sich selbst gesprochen. Aber der Mann war kein Fremder, mit dem man nicht reden sollte. Vom Sehen kannte ich ihn. Außerdem war es ja sein Gehweg, das Stück vor seinem eigenen Haus, das er gestaltete.

«Elefanten», antwortete ich.

«Halt», er drehte den Kopf, «bleib stehen», er richtete den Oberkörper auf. Sein Blick hatte etwas Eulenhaftes, die Langsamkeit seiner Lider. «Warum sagst du das? Elefanten?»

«Sie haben gefragt, was er isst.»

«Was habe ich gefragt?»

«Was isst ein Rok, haben Sie gefragt.»

«Jawohl.»

«Und da habe ich Elefanten gesagt.»

Er lächelte versonnen über mich hinweg, als winke ihm aus seinem Haus jemand zu.

«Wie heißt du?»

Ich sagte ihm meinen Namen.

«Und ich bin Hans. Und das mit den Elefanten sollst du jetzt erklären.» Er blickte mich wieder an. Freundlich, es war eine Bitte.

«Der Rok ist ein riesiger Vogel. Ein Riesenvogel. Sein Schnabel ist so groß wie ein Segelschiff. Mit drei Masten. Die kleinste Feder vom Rok ist größer als das Blatt von einer Palme. Und am liebsten isst er Elefanten.»

«Du meinst einen Vogel?»

«Aus ‹Sindbad der Seefahrer›.»

«Sindbad. Die Geschichte, nicht? Kannst du denn schon lesen, mein Kleiner?»

«Ja, aber ‹Sindbad der Seefahrer› hat mir meine Mutti vorgelesen.»

«Und wo ist deine arme Mutti jetzt?»

«Zu Hause.» Ich zeigte auf unser Haus, das nächste.

«Dann lies doch mal.» Er wies auf die frisch von ihm bemalten Gehwegplatten. Da war eine Frau mit Rock.

«Das hier», deutete er auf seine Zeichen.

«Das kann ich nicht lesen. Ist das Französisch?»

Er lachte auf. «Na komm, kleiner Mann, dann sieh mal zu, dass du vor Sonnenuntergang zu Hause bist.»

Ich begriff nicht sofort, dass damit das Gespräch zu Ende war. Schließlich balancierte ich die verbliebenen Meter nach Hause.

Als die Sonne viel später tatsächlich untergegangen war, lag ich wach im Bett und hörte, dass jemand klingelte. Ungewöhnlich für diese Uhrzeit. Von unten hörte ich Stimmen.

Am nächsten Morgen hatte ich es schon wieder vergessen. Beim Frühstück, nicht weniger ungewöhnlich, klingelte es wieder. Meine Mutter ging zur Tür, und es dauerte, bis sie zurückkam. Fragend sah sie mich an: «Herr Kurbjuweit wollte sich dein Märchenbuch ausleihen.»

«Welches Märchenbuch?», fragte ich, obwohl ich ja wusste, dass ich nur «Die schönsten Märchen aus aller Welt, Band 1» besaß.

«Der war gestern Abend schon mal hier. Da warst du schon im Bett. Er hat gesagt, er bringt’s heute noch zurück.»

Mir war völlig klar, dass meine Mutter bereits die Treppe hinauf und in mein Zimmer gegangen war, das Buch genommen und es, ohne mich zu fragen, verliehen hatte. Andererseits war das besser, als wenn ich selbst es ihm hätte aushändigen müssen.

«Woher kennt der dich?», fragte meine Mutter.

«Der kennt mich gar nicht.»

«Aber er hat gesagt, du hättest ihm ‹Sindbad der Seefahrer› empfohlen.»

«Na ja …», ich erzählte ihr, wie es gewesen war, und aß dabei mein Nutellabrot.

Da sagte meine Mutter: «Der gehört in die Hülle.»

Sie begann, den Tisch abzuräumen. «Ihr bleibt lieber weg von dem.»

Am Abend hatte Herr Kurbjuweit mein Märchenbuch noch nicht zurückgebracht. Und mein Vater, der beim Frühstück schon auf dem Weg zur Arbeit gewesen war, sagte genau den gleichen Satz: «Der gehört in die Hülle. Der Kurbjuweit gehört wieder in die Hülle.»

«Was ist die Hülle?», fragte ich.

«Was das ist, willst du wissen? Früher», begann mein Vater, «früher sagte man Klapsmühle. Das ist ne Irrenanstalt. Eine Psychiatrie. Das ist, wo die Verrückten sind. Das verstehst du noch nicht.»

Natürlich wusste ich, was Verrückte sind. Andererseits kannte ich keinen persönlich. Wenn mein Vater, weil ich bei uns im Garten einen Ball in die Beete oder Sträucher geschossen hatte, den Bereich, den er «die Anlagen» nannte, die Fassung verlor und zu schreien nicht wieder aufhörte, war das nicht verrückt, sondern normal.

«Und was machen die Verrückten da?», fragte ich.

«Was machen die? In Behandlung sind die. Früher war um die Hülle noch ne Mauer drum rum. Als ich n Koten war, da hielten sie da noch die ganz Gefährlichen in Käfigen.»

Offenbar sah mir mein Vater die Wirkung dessen, was er gesagt hatte, an. «Mein Junge, da musst du keine Angst haben», beschwichtigte er, «so was erzählte man damals. Gesehen hat’s ja keiner wegen den Mauern … Junge, keine Angst. Der Kurbjuweit malt ja nur.»

Zwei Mal war in den kommenden Tagen am Abendbrottisch noch Thema, dass Herr Kurbjuweit mein Buch nicht zurückbrachte, aber nur nebenbei. Dann begannen die Ferien, und ich blieb damit allein.

 

Schon an den letzten Schultagen waren uns Siedlungskindern Halbmonde aufgefallen. Bislang hatte Herr Kurbjuweit immer nur Kästchen gefüllt, hatte seine kleinen Gemälde jeweils auf einzelnen Gehwegplatten platziert. Jetzt aber erstreckten sich plötzlich über mehrere Platten graublaue Halbmonde. Oder Krallen, dachte ich.

Dann, als die Ferien anfingen, kam wieder etwas Neues hinzu. Ich hielt mein erstes richtiges Zeugnis in Händen, und als ich fast zu Hause war, sah ich die Federn. Vielleicht dachte man das auch nur wegen des Grüns, vielleicht waren es auch Blätter, in jedem Fall waren sie wesentlich filigraner ausgeführt als die bisherigen Figuren von Herrn Kurbjuweit. Als Federn gaben sie Aufschluss darüber, welch ein Ungetüm sich zwischen unseren Häusern einzunisten begann. Mit meinem Zeugnis, lauter Zweien, auch in Sport, war dann sogar mein Vater zufrieden.

Das Kunstwerk wuchs, aber ich, ja niemand von uns sah Herrn Kurbjuweit jemals wieder malen. Abends im Bett überlegte ich, ob er vielleicht nachts zugange wäre. Einmal schlich ich mich aus dem Zimmer hinaus ans Fenster im Flur, das hinaus auf den Weg ging. Niemand zu sehen, kein Künstler mit Taschenlampe. Es war noch nicht mal richtig dunkel. Zwar wurde ich im August sieben, musste aber, Ferien hin oder her, um acht ins Bett. Vergeblich nahm ich mir vor, später noch mal hinauszusehen. Aber ich schlief, denn den ganzen Tag war ich draußen gewesen, meine Kraft war verbraucht wie Kreide.

 

Irgendwann waren wir uns alle einig, dass es wirklich ein Vogel wurde. Wenn wir Langeweile hatten, gingen wir gucken, und sowieso kam man ständig daran vorbei, lief darüber hinweg. Gerätselt wurde, was es denn nun sein sollte. Ein Huhn, meinten einige, einen Adler sahen andere. Schließlich schossen aus den Flügelspitzen Finger hervor. Das waren Klingen, ich wusste es. Später erkannte jemand die Steigbügel, Mechtild Knoppe, glaube ich. Sie erzählte immer von einer Cousine, die ein Pony besaß.

Stets stand ich schweigend dabei und wusste als einziger Bescheid. Eines Tages sah man...

Erscheint lt. Verlag 30.1.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1986 • 80er Jahre • Achtziger Jahre • BRD • Bundesrepublik • deutscher Roman • Freiwilliges Soziales Jahr • Jugend • Jugendliebe • Jungsein • Liebesgeschichte • Literatur • Psychiatrie • Psychische Krankheit • Roman • Tschernobyl • Wes Anderson • Zivildienst
ISBN-10 3-644-01274-1 / 3644012741
ISBN-13 978-3-644-01274-5 / 9783644012745
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