Miss Camerons Weihnachtsfest (eBook)
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01855-6 (ISBN)
Rosamunde Pilcher wurde 1924 in Lelant/Cornwall geboren, arbeitete zunächst beim Foreign Office und trat während des Zweiten Weltkrieges dem Women´s Royal Naval Service bei. 1946 heiratete sie Graham Pilcher und zog nach Dundee/Schottland. Rosamunde Pilcher schrieb seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Ihre Romane haben sie zu einer der erfolgreichsten Autorinnen der Gegenwart gemacht. Rosamunde Pilcher starb im Februar 2019.
Rosamunde Pilcher wurde 1924 in Lelant/Cornwall geboren, arbeitete zunächst beim Foreign Office und trat während des Zweiten Weltkrieges dem Women´s Royal Naval Service bei. 1946 heiratete sie Graham Pilcher und zog nach Dundee/Schottland. Rosamunde Pilcher schrieb seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Ihre Romane haben sie zu einer der erfolgreichsten Autorinnen der Gegenwart gemacht. Rosamunde Pilcher starb im Februar 2019.
Das Vorweihnachtsgeschenk
Es war zwei Wochen vor Weihnachten. An einem düsteren, bitterkalten Morgen fuhr Ellen Parry, wie sie es die letzten zweiundzwanzig Jahre an jedem Morgen getan hatte, ihren Ehemann James die kurze Strecke zum Bahnhof, gab ihm einen Abschiedskuss, sah seine Gestalt mit dem schwarzen Mantel und der Melone durch die Sperre verschwinden und fuhr dann vorsichtig auf der vereisten Straße nach Hause.
Als sie über die langsam erwachende Dorfstraße und dann durch die sanfte Landschaft kroch, flogen ihre Gedanken, die zu dieser frühen Stunde wirr und undiszipliniert waren, in ihrem Kopf herum wie Vögel in einem Käfig. Es gab um diese Jahreszeit immer ungeheuer viel zu tun. Wenn sie das Frühstücksgeschirr gespült hatte, wollte sie eine Einkaufsliste für das Wochenende zusammenstellen, vielleicht Apfelpasteten mit Rosinen backen, ein paar Weihnachtskarten in letzter Minute schreiben, ein paar Geschenke in letzter Minute kaufen, Vickys Zimmer putzen.
Nein. Sie besann sich anders. Sie wollte Vickys Zimmer nicht putzen und das Bett nicht beziehen, bevor sie nicht sicher wusste, dass Vicky Weihnachten bei ihnen sein würde. Vicky war neunzehn. Im Herbst hatte sie in London eine Stelle gefunden und eine kleine Wohnung, die sie mit zwei anderen Mädchen teilte. Die Trennung war jedoch nicht endgültig, denn am Wochenende kam Vicky meistens nach Hause, brachte manchmal eine Freundin mit und jedes Mal einen Sack schmutzige Wäsche für Mutters Waschmaschine. Als sie das letzte Mal da war, hatte Ellen angefangen, von Weihnachtsplänen zu sprechen, aber Vicky hatte ein verlegenes Gesicht gemacht und sich schließlich ein Herz gefasst, um Ellen zu eröffnen, dass sie dieses Jahr möglicherweise nicht zu Hause sein würde. Sie wolle sich vielleicht einer Gruppe junger Leute anschließen, die in der Schweiz Ski laufen und eine Villa mieten wollten.
Ellen, die diese Mitteilung völlig unvorbereitet traf, war es gelungen, ihre Bestürzung zu verbergen, doch insgeheim wurde ihr schwindelig bei der Aussicht, Weihnachten ohne ihr einziges Kind zu verbringen; dennoch war ihr bewusst, dass Eltern nichts Schlimmeres tun konnten, als Besitzansprüche zu zeigen, sich zu weigern, loszulassen, ja überhaupt irgendetwas zu erwarten.
Es war sehr schwierig. Wenn sie nach Hause kam, war die Post vielleicht schon da gewesen und hatte einen Brief von Vicky gebracht. Sie sah im Geiste den Umschlag auf der Fußmatte liegen, Vickys große Handschrift.
Liebste Ma! Schlachte das gemästete Kalb und schmücke die Flure mit Stechpalmen, die Schweiz ist gestorben, ich werde zu Hause sein und die Feiertage bei dir und Dad verbringen.
Sie war so überzeugt, dass der Brief da sein würde, brannte so sehr darauf, ihn zu lesen, dass sie sich erlaubte, ein bisschen schneller zu fahren. Im fahlen Licht des Wintermorgens waren jetzt die gefrorenen Gräben und die schwarzen, vereisten Hecken zu erkennen. Sanfte Lichter schienen in den Fenstern der kleinen Häuser, der Hügel hatte eine Schneehaube auf. Ellen dachte an Weihnachtslieder und den Duft von Fichtenzweigen, und plötzlich war sie von Aufregung ergriffen, dem alten Zauber der Kindheit.
Fünf Minuten später parkte sie den Wagen in der Garage und ging durch die Hintertür ins Haus. Nach der Eiseskälte draußen war es in der Küche wohltuend warm. Die Reste vom Frühstück standen auf dem Tisch, aber sie sah darüber hinweg und durchquerte die Diele, um nach der Post zu sehen. Der Briefträger war da gewesen, ein Stapel Umschläge lag auf der Fußmatte. Sie hob sie auf, so überzeugt, einen Brief von Vicky vorzufinden, dass sie, als keiner da war, ihn übersehen zu haben glaubte und den Stapel noch einmal durchging. Aber von ihrer Tochter war nichts dabei.
Einen Augenblick war sie von Enttäuschung übermannt, doch dann gab sie sich einen Ruck, nahm sich zusammen. Vielleicht mit der Nachmittagspost … Eine Reise voller Hoffnung ist schöner als die Ankunft. Sie ging mit dem Stapel Umschläge in die Küche, warf ihren Schaffellmantel ab und setzte sich hin, um die Post zu lesen.
Es waren vornehmlich Briefkarten. Sie öffnete eine nach der anderen und stellte sie im Halbkreis auf. Rotkehlchen, Engel, Weihnachtsbäume und Rentiere. Die letzte Karte war riesig groß und extravagant, eine Reproduktion von Breughels Schlittschuhläufern. Mit herzlichen Grüßen von Cynthia. Cynthia hatte außerdem einen Brief geschrieben. Ellen schenkte sich einen Becher Kaffee ein und las ihn.
Vor langer Zeit waren Ellen und Cynthia die besten Schulfreundinnen gewesen. Aber als sie erwachsen waren, hatten sich ihre Wege getrennt und ihrer beider Leben ganz verschiedene Richtungen eingeschlagen. Ellen hatte James geheiratet, und nach einer kurzen Zeit in einer kleinen Londoner Wohnung waren sie mit ihrer neugeborenen Tochter in dieses Haus gezogen, wo sie seither lebten. Einmal im Jahr fuhr sie mit James in Urlaub, meistens an Orte, wo James Golf spielen konnte. Das war alles. Die übrige Zeit tat sie die Dinge, mit denen Frauen in aller Welt ihre Zeit verbrachten, kochen, einkaufen, nähen, den Garten jäten, waschen und bügeln. Einladungen geben und von ein paar guten Freunden eingeladen werden; nebenbei ein bisschen karitative Arbeit und Kuchenbacken für den Basar der Frauenliga. Das alles stellte keine großen Anforderungen an sie und war, wie sie wohl wusste, ein bisschen fade.
Cynthia hingegen hatte einen angesehenen Arzt geheiratet, drei Kinder geboren, ein eigenes Antiquitätengeschäft eröffnet und einen Haufen Geld verdient. Ihre Urlaube waren unvorstellbar aufregend, sie reisten kreuz und quer durch die USA, wanderten in den Bergen von Nepal oder besuchten die Chinesische Mauer.
Ellens und James’ Freunde waren Ärzte, Rechtsanwälte oder Geschäftskollegen; Cynthias Haus in Campden Hill aber war ein Treffpunkt für die faszinierendsten Leute. Berühmte Gesichter vom Fernsehen würzten ihre Partys, Schriftsteller diskutierten über den Existenzialismus, Künstler stritten über abstrakte Kunst, Politiker ergingen sich in gewichtigen Debatten. Als sie einmal nach einem Einkaufstag bei Cynthia übernachtete, saß Ellen beim Abendessen zwischen einem Kabinettsminister und einem jungen Mann mit pinkfarbenen Haaren und einem einzelnen Ohrring. Das Bemühen, sich mit dem einen oder anderen dieser Individuen zu unterhalten, war ein aufreibendes Erlebnis gewesen.
Hinterher hatte Ellen sich Vorwürfe gemacht. «Ich habe nichts, worüber ich reden kann», sagte sie zu James. «Außer, wie ich Marmelade koche und meine Wäsche weiß kriege, wie diese schrecklichen Frauen in der Fernsehwerbung.»
«Du könntest über Bücher sprechen. Ich kenne keinen Menschen, der so viele Bücher verschlingt wie du.»
«Über Bücher kann man nicht sprechen. Lesen ist lediglich das Erleben der Erlebnisse von anderen Leuten. Ich sollte etwas tun, selbst etwas erleben.»
«Was ist mit damals, als wir die Katze verloren haben? Ist das kein Erlebnis?»
«O James.»
In diesem Moment wurde die Idee geboren. Sie hatte deswegen nie etwas unternommen, aber in diesem Augenblick war die Idee geboren worden. Wenn Vicky von zu Hause fortging, vielleicht könnte sie dann …? Ein paar Tage später erwähnte sie es abends beiläufig zu James, aber er las die Zeitung und hörte kaum zu, und als sie nach ein paar Tagen noch einmal darauf zu sprechen kam, hatte er es, überaus freundlich, mit Gleichgültigkeit zugeschüttet, ganz so, als leerte er einen Wassereimer über einem Feuer aus.
Sie seufzte, ließ Bestrebungen Bestrebungen sein und las Cynthias Brief.
Liebste Ellen! Wollte der Karte noch schnell ein paar Zeilen beifügen, bloß um mich mal zu melden und dir das Neueste mitzuteilen. Ich glaube nicht, dass du die Sanderfords, Cosmo und Ruth, mal kennengelernt hast, als du hier warst.
Ellen hatte die Sanderfords nicht kennengelernt, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht genau wusste, wer sie waren. Wer hatte nicht von den Sanderfords gehört? Er war ein bedeutender Filmregisseur, sie war Schriftstellerin und verfasste ironische, komische Familienromane. Wer hatte die beiden nicht bei Podiumsdiskussionen im Fernsehen erlebt? Wer hatte Ruths Artikel über die Erziehung ihrer vier Kinder nicht gelesen? Wer hatte seine Filme nicht bewundert, mit ihrer versteckten, originellen Aussage, ihrer Empfindsamkeit und visuellen Schönheit? Was sie auch taten, die Sanderfords waren eine Nachricht wert. Allein ihnen zuzusehen genügte, um einem gewöhnlichen Sterblichen das Gefühl zu geben, fade und vollkommen unzulänglich zu sein. Die Sanderfords. Leicht verzagt las Ellen weiter:
Sie haben sich vor einem Jahr scheiden lassen, in aller Freundschaft, und von Zeit zu Zeit kann man sie immer noch zusammen beim Mittagessen sehen. Aber sie hat sich in deiner Nähe ein Haus gekauft, und ich bin überzeugt, dass sie sich über einen Besuch freuen würde. Ihre Adresse ist Monk’s Thatch, Trauncey, und die Telefonnummer ist Trauncey 232. Ruf sie mal an und sag ihr, ich habe dir gesagt, du solltest dich mal bei ihr melden. Fröhliche Weihnachten, viele liebe Grüße, Cynthia.
Trauncey war nur anderthalb Kilometer entfernt, praktisch nebenan. Und Monk’s Thatch war eine alte Wildhüterhütte, an der monatelang ein Schild «Zu verkaufen» angebracht gewesen war. Jetzt musste das Schild wohl verschwunden sein, denn Ruth Sanderford hatte das Häuschen gekauft und wohnte dort ganz allein, und von Ellen wurde erwartet, dass sie mit ihr Verbindung aufnahm.
Bei dieser Aussicht war ihr bange zumute. Wenn der Neuankömmling ein normaler Mensch...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2023 |
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Übersetzer | Dorothee Asendorf, Margarete Längsfeld |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Christmas • Cornwall • Geschenkbuch für Frauen • kleine geschenke für frauen • kurze Liebesgeschichte • Kurzgeschichte Liebe • Liebe • Liebesroman • Romane für Frauen • Romantische Geschichten • Schicksal • Schottland • Weihnachten • Weihnachtsbuch • Weihnachtsgeschichten für Erwachsene • Winter |
ISBN-10 | 3-644-01855-3 / 3644018553 |
ISBN-13 | 978-3-644-01855-6 / 9783644018556 |
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