Der Dreh von Inkarnation (eBook)
445 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77549-3 (ISBN)
Tief in den Archiven der Zeit- und Bewegungspionierin Lillian Gilbreth liegt ein Geheimnis. Berühmt für die Herstellung solider Lichtspuren, die die Bewegungsmuster von Arbeitern aufzeichnen, hatte Gilbreth, zur Begeisterung von NASA und KGB, die Möglichkeiten von Massenüberwachung und Big Data revolutioniert.
Aber hatte sie, wie sie in einem ihrer Briefe andeutet, gegen Ende ihres Lebens tatsächlich auch ein »perfektes« Uhrwerk entdeckt, das »alles verändern« würde?
Eine weltumspannende Jagd beginnt, nach dieser einen Box, die in ihrem Nachlass fehlt, und wir folgen einem jungen Bewegungserfassungsforscher namens Mark Phocan durch unsere flirrende Gegenwart, über geopolitische Verwerfungslinien und durch Experimentierzonen und mitten hinein in die Dreharbeiten zum Blockbuster-Film Inkarnation, einer epischen Weltraumtragödie, die endgültig die Geheimnisse menschlicher Erfahrung lüften soll...
Tom McCarthy, geboren 1969, ist Schriftsteller, Künstler und Generalsekretär der International Necronautical Society, einem semi-fiktiven Avantgarde-Netzwerk. Er hat zahlreiche Essays, Erzählungen und Romane veröffentlicht, die in 25 Sprachen übersetzt und für Kino, Theater und Radio adaptiert worden sind. Für sein Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, u. a. den ersten Windham-Campbell-Literaturpreis. McCarthy lebt mit seiner Familie in Berlin.
Ulrich Blumenbach, geboren 1964 in Hannover, studierte Anglistik, Germanistik und Geschichte in Münster, Sheffield (Großbritannien) und Berlin. Seit 1993 ist er als Übersetzer aus dem Englischen sowie aus dem Amerikanischen Englisch ins Deutsche tätig. Außerdem ist Ulrich Blumenbach Lehrbeauftragter für den Studiengang Literarisches Übersetzen an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Er lebt mit seiner Familie in Basel.
Der Dreh von Inkarnation ist eine hellsichtige Breitwand-Odyssee durch medizinische Labore, Computergrafikstudios und militärische Forschungseinrichtungen, dunkle Orte, an denen die Grenzen unserer Möglichkeiten - zu unterhalten, zu verstehen, zu heilen, zu töten - ständig getestet und weiter verfeinert werden.
»Tom McCarthy schiebt ... unterschiedliche Handlungsstränge geschickt ineinander und webt sein komplexes Netz aus motivischen Bezügen, die ein faszinierendes literarisches Universum entstehen lassen.«
Florian Schmid, neues deutschland 30.03.2023
Über die dynamischen Eigenschaften von Wellen in periodischen Systemen
Aus der S-Bahn, durch das wechselnde Gitter aus Ästen und Brückenpfeilern sieht man ihn am westlichen Zipfel des Tiergartens, wenn man in ostwestlicher oder westöstlicher Richtung unterwegs ist: einen fünf Stockwerke hohen blauen Klotz. Das Gebäude schwebt unnatürlich über dem Boden, aufgebockt auf zwei riesigen rosa Röhren, die aus seinen Seiten hervortreten, sich abwärtskrümmen und unter ihm vereinen wie eine Krabbe, die sich vor Angst oder Wut oder in einer Art Paarungsritual aufbäumt. Was ist das? Das ist die Versuchsanstalt für Wasserbau und Schiffbau, ein Außenposten, den die Technische Universität Berlin einem kaiserlichen Pachtvertrag verdankt. Die VWS hat Kriege, Bodenwerterhöhungen und alles andere irgendwie überdauert und steht auf der kleinen, länglichen Insel, um die herum sich der Landwehrkanal in zwei Schleusen teilt, die hinter ihr wieder verschmelzen, um alle Knoten, Spiralen und andere Spuren früherer Stockungen oder Sperren bereinigt.
Mit einer höheren Auflösung gescannt, als den meisten S-Bahn-Passagieren zur Verfügung steht, bildet sie einen Komplex von ineinandergesteckten Baukörpern. Das auffällige Krustentier ist der Umlauf- und Kavitationstank UT2, dessen Rohrschleife 3300 Tonnen Wasser fasst, die auf zehn Meter pro Sekunde beschleunigt werden können – ideal für Kielfeld- und Kavitationsforschung, Widerstands- und Propulsionsversuche sowie ähnliche Untersuchungen von Strömungsdynamiken. Im Dröhnen der zwei Megawatt starken Schiffsdieselmotoren und in den Schwingungen der Turbinenschaufeln der riesigen Pumpe, die die Blechverkleidungen der Wände und Böden erbeben lassen, spielen sich Dramen der Verdünnung wie der Verdichtung ab, zyklische Spannungen und Superkavitationen laufen sich auf Kommando tot, Schiffsmodelle, Steuerruder und Propeller werden auf verschiedenen Stufen belastet, denen dann Anfangsfließwerte und Erosionszuwachsraten entnommen werden. Zu Füßen des turmhohen Monstrums liegen wie Essensreste oder halbgelaichter Nachwuchs einige lange, flache Hangars. Im Hangar mit der Wellenmaschine im Seegangsbecken – das genau wie der UT2 immer wieder mit Wasser aufgefüllt wird, das dem Landwehrkanal entnommen wird, dann in diesen zurück und weiter in die Spree fließt – findet das heutige Geschehen statt.
Hier wird Neptuns Zorn entfesselt und auf ein Versorgungsschiff gelenkt, einen Ankerziehschlepper und zwei Bohrinseln. Dipl.-Ing. Arda Gökçek, Haustechniker und Flutenwächter der VWS, steht am vertieften Ende des Flachwasserbeckens, Daumen und Finger gleiten über das GlidePad eines MacBooks, skalieren Maße, modifizieren Kennziffern, justieren Wellenhöhe und Hublänge sowie charakteristische und gravitationsbedingte Geschwindigkeiten nach oben oder unten. Als sich das Profil auf seinem Monitor, der Rhythmus seiner Kurven und Intervalle mit den Zielvorgaben für heute deckt, löst sich Gökçeks Hand vom Laptop, schwebt ein paar Zentimeter über der Tastatur, seine Augen gleichen ein letztes Mal die graphischen Konturen ab, dann tippt er entschlossen auf die Leertaste. Gut hundert Meter weit weg ächzt die Wellenmaschine am anderen Beckenende; Antriebsarme, Riemenscheiben und Verbindungsarme, Antriebszapfen, Flanschlager und Pleuelstangen setzen sich in Bewegung, schließen sich, üben Schub aus und drücken einen schrägen Schwingflügel immer wieder gegen die Wassermassen. Und dann kommt sie die lange schmale Strecke entlang, die Kuppe verdoppelt das Licht der in regelmäßigen Abständen an der Decke angebrachten Neonröhren, eine nach der anderen, hebt jeden inversen Spektrallichtstrich seiner Quelle entgegen, bevor die Spiegelung von den dunklen Strudeln des nachfolgenden Tals wieder verschluckt wird: die erste Welle. Ihr folgen die zweite und die dritte und die vierte, sie überspülen die grünen Kacheln der Beckenwände und erneuern mit absoluter Präzision immer wieder dieselbe Hochwassermarke.
Spüren der Schlepper und die Bohrinseln ihr Kommen? Natürlich nicht; alle Ausbreitungsvektoren des Mediums, in dem sie sich befinden, sind hier aufgetragen, Phasengrenzen und Eigenfrequenzen sind transparent berechnet worden; es gibt keinen Spielraum für Unklarheiten und noch weniger für Phantasien – aber jedes Mal, wenn Gökçek in den letzten, schrumpfenden Sekundenbruchteilen vor dem Auftreffen der ersten Welle die nachgebauten Städte, Dämme, Kreuzfahrtschiffe, Hafenmauern oder Windparks im Ausbreitungsbereich sieht, hat er das Gefühl, in der bloßen Struktur der Modelle, im Zusammenhalt ihrer Atome eine Zunahme der konzentrierten Stasis zu spüren; geradezu eine Anspannung, als würden sie sich wappnen; als wüssten sie irgendwie …
Jetzt sind die Wellen da, durchrütteln und erschüttern die Modelle, lassen sie ausscheren – horizontal, vertikal, longitudinal, transversal und kreuz und quer dazwischen – auf Wegen, die zufällig scheinen, das aber keineswegs sind, und darum geht es: Kameras in den Beckenwänden verfolgen jede Welle, jede Woge und jedes Wiegen, erkennen und übersetzen in den wild verfilzten Linien ein Muster, das sich retro- wie prospektiv betrachten lässt und dessen Unschärfe in klare Parameter transformiert wird, die sich, einmal modelliert, nicht nur zum Nutzen künftiger Planungen von Offshore-Anlagen wieder aufskalieren, sondern bei Kreuzung ihrer eigenen Verbreitungs- und Verschiebungsvektoren auch übertragen, extrapolieren und in wer weiß was alles einspeisen lassen. In den nächsten sechzehn Monaten werden die aufbereiteten Daten von heute auf so verschiedenen Gebieten wie Infraschall und Seismokardiographie zum Tragen kommen, in der Erforschung von Keimkonvektionen in Flugzeugkabinen und der Ausbreitung von Gerüchten in sozialen Medien. Die Dinge stehen in Verbindung mit anderen Dingen, die mit anderen Dingen in Verbindung stehen. Gestern sind 103 asiatische Bergarbeiter bei einer Methanexplosion ums Leben gekommen; in einem kleinen südamerikanischen Staat hat ein Putsch stattgefunden; eine große Walschule ist an Westeuropas Küste gestrandet. Die Seiten von Gökçeks Zeitung, die aufgeschlagen auf einem Hocker neben einem halbvollen Kaffeebecher liegt, rascheln in seinem Windschatten auf, als er eine Trittleiter hochsteigt. Von der erhöhten Position aus beobachtet der Techniker die Boote, die in Dünung und Seegang wie betrunken schlingern und tanzen und an den zerschmetterten Riffen der Gerüstbeine und Anker der Bohrplattformen vorbeischießen. Die Erhöhung beruhigt ihn; er steht über den in der Ebene tobenden Schlachten, ist unbeteiligt. Bilder vom Bosporus regen sich bei ihm im Hinterkopf, durchlaufen verschiedene Gestalten – weniger ein in Urlauben und bei längeren Familienbesuchen aus Autofenstern und von Moscheeterrassen flüchtig erblicktes Panorama als eine überkommene Erinnerung, eine Idee …
Die Wellenmaschine ächzt; der Schwingflügel bewegt sich im selben Rhythmus. Die Lagerzapfen der Gleitlager, die die Kurbelwelle an Ort und Stelle halten, müssen geölt werden, das hört Gökçek am gereizten Ton. Wo die glatten Wasserflächen im Becken noch nicht von den Modellen aufgebrochen werden, sind sie von einem Öl- und Schmutzfilm überzogen, einem Niemandsland, übersät von toten Insekten, die sich von den Spiegelungen breiter Streifen freien Luftraums und leuchtender Dachsparren haben anlocken lassen, den trügerischen Versprechen der Gemeinschaft. Der Ankerziehschlepper mit dem gehärteten Paraffinbug hat sich in den Gerüstbeinen der einen Bohrplattform verkeilt. Computermodellierungen können einem nicht alles zeigen. Manchmal muss man etwas selber machen, eine kleine Welt erschaffen und der Tücke der chaotischen Objekte entgegentreten. Am Beckenrand greift Gökçek nach einer Stechstange, die neben Schlauch- und Drahtrollen sowie Tuchfetzen und Schnüren an J-Haken hängt, beugt sich über den Beckenrand und versucht, den Schlepper freizubekommen. Sein rechter Fuß, den er nach hinten ausstreckt, um das Gleichgewicht zu halten, stößt gegen den Hocker; Kaffee schwappt aus dem Becher auf die Zeitung. Auf einer Arbeitsfläche neben dem Hocker liegen eine Dose Isopropanolspray, eine CD-Rom, eine Rolle Toilettenpapier, ein Eislutscherstiel, ein zerknautschter...
Erscheint lt. Verlag | 2.4.2023 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Making of Incarnation |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Berlin • Big Data • Chronophotographie • Copyright • England • Film • Filmset • Forschung • Fotografie • Fotographie • Franz Kafka • Franz Kafka des Google Zeitalters • Kamera • Kunst • Lilian Gilbreth • Loie Fuller • Modern Dance • Moderner Tanz • neues Buch • Physik • Science Fiction • Tanz • Tanzwissenschaft • Technik • Technologie • Überwachung • Universität • Urheberrecht • Wissen • Wissenschaftler • Zeitstudien • Zukunft • Zukunftsforschung |
ISBN-10 | 3-518-77549-9 / 3518775499 |
ISBN-13 | 978-3-518-77549-3 / 9783518775493 |
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Größe: 2,1 MB
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