Von Außerirdischen und Dampfmaschinen: Geschichten vom Planeten Absurdistan (eBook)
200 Seiten
Uksak E-Books (Verlag)
978-3-7389-7256-6 (ISBN)
Überdruck
(2012)
Für Richard
Das trommelfellzerfetzende Tuten der großen Dampfpfeife auf der Spitze der Reichstagskuppel riss mich wie alle anderen Bewohner der Hauptstadt Punkt sechs aus dem Schlaf des Gerechten. Mit einem schicksalsergebenen Aufstöhnen wälzte ich mich aus dem Bett, mitten hinein in die Reste meines Abendessens. Die Dampfnudeln schmeckten bereits leicht ranzig.
Während ich mich reckte und streckte, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Es war noch ziemlich dunkel, aber recht viel heller würde es erfahrungsgemäß den ganzen Tag über nicht werden – nicht im späten Frühjahr. Die Wolkendecke, erzeugt von Abertausenden von kleinen und großen Dampfmaschinen, hing heute wieder mal besonders tief; die Aussichtsplattform des Funkturms war kaum noch zu erkennen. Die Hälfte des Jahres glich die Hauptstadt stets einer Dampfküche. Es gab Spinner, die behaupteten, jenseits der Wolkendecke befinde sich so etwas wie ein großer Feuerball, den sie »Sonne« nennen, aber das ist natürlich nackter Nonsens. Genauso gut könnte man behaupten, die Erde sei eine Kugel oder es gebe eine effizientere Energiequelle als die Dampfmaschine.
Ich stakste, immer noch nicht ganz wach, in die Küche meines Wohnklos und kontrollierte den Wasserstand in der Zwei-Liter-Kanne. Sie war fast leer, aber morgen, Samstag, war wieder eine Wochenration fällig, und so benutzte ich das restliche Wasser, um meinen schönsten Besitz, das Resultat zweier langer Jahre des Kneipenverzichts, in Gang zu setzen: Ein nagelneues Dampfradio der Marke »HighSteam 2034«. Für die Kurznachrichten würde das Wasser hoffentlich noch reichen.
Bevor ich mich an die Inbetriebnahme machte, überprüfte ich nochmals, ob alle notwendigen Utensilien bereitlagen: Hitzeisolierte Handschuhe, ein kleiner Feuerlöscher, ein Trichter zum Einfüllen des Wassers und eine Schutzbrille – die setzte ich als Erstes auf. Ich ölte den Zylinder und alle Lager, dann nahm ich mit spitzen Fingern das Sicherheitsventil heraus und überprüfte es. Schlamperei gibt’s bei mir nicht; wäre nicht das erste Dampfradio, das seinem nachlässigen Besitzer um die Ohren flog!
Als Brennstoff dienten die letzten paar Seiten eines verbotenen Reiseführers über Liechtenstein, den ich im Müllcontainer hinter einem der Abgeordnetenpaläste gefunden hatte. Ich durfte keinesfalls vergessen, neuen Brennstoff zu besorgen; vielleicht konnte ich an meinem Arbeitsplatz etwas abzwacken.
Endlich war alles bereit, und ich setzte das Schwungrad in Bewegung. Während ich darauf wartete, dass das Dampfradio seine Betriebstemperatur erreichte, schlüpfte ich aus dem Pyjama und kratzte mir mit einem schon ziemlich stumpfen Schaber den Dreck vom Körper. Mit dem letzten Tropfen aus der Wasserkanne befeuchtete ich meine Fingerspitzen und fuhr mir damit über die Augen; ein Luxus, den ich mir leisten zu können glaubte.
Wie sich später herausstellen sollte, hatte ich nur allzu recht damit.
Kaum war ich angezogen, klang die gedämpfte Stimme des Nachrichtensprechers auf. Schon bei den ersten Worten spitzte ich die Ohren: Aus Anlass des 20. Jahrestags der Gründung der GVD, der Großen Vereinheitlichten Dampfpartei, hatte sich Unter den Linden ein Häuflein Reaktionärer zu einer verbotenen Demonstration zusammengerottet. Der Sprecher vermutete die Hintermänner in den Reihen der verbotenen PRV, der Partei zur Renaissance des Verbrennungsmotors, und empfahl allen unbescholtenen Bürgern der Deutschen Dampfrepublik dringend, den Schauplatz der Demonstration weiträumig zu umgehen.
Die Verbrennungsmotor-Gruftis müssen wieder mal Dampf ablassen, dachte ich kopfschüttelnd. Von denen hielt man sich lieber fern. Zum Glück musste ich auf dem Weg zur Arbeit nicht dort vorbei, und bis in die Nähe des Regierungsviertels hatten es die Reaktionäre noch nie geschafft, denn die mit Dampfhämmern ausgerüsteten Schlägertrupps des Umweltministeriums versetzten ihnen stets vorher einen empfindlichen Dämpfer.
Ich kontrollierte die Wasserstandsanzeige des Radios und nahm dann die Brennerschale heraus. Der Nachrichtensprecher verstummte mitten im Wort. Ich öffnete das Dampfabsperrventil, um den Druck abzulassen. Als Frühstück verschlang ich hastig eine übrig gebliebene Dampfnudel, wobei ich mich bemühte, meine überempfindlichen Geschmacksnerven möglichst wenig mit dieser in Kontakt kommen zu lassen. Die Nahrung war wirklich etwas eintönig, Nationalspeise hin oder her.
Schließlich angelte ich meine Infrarotbrille aus dem Hängeschrank und verließ die Wohnung – ich war auf dem Weg zu einem weiteren erfüllten Arbeitstag. Sie müssen nämlich wissen, dass ich eine immens wichtige Position einnahm: Ich war Zweiter Kesselpolierer der großen Dampfmaschine im Regierungsviertel. Ja, richtig, ich war es, der dafür sorgte, dass der mehr als fünfzig Meter hohe, kilometerweit sichtbare Kupferkessel so schön glänzte! Denn der Erste Kesselpolierer stand immer nur dumm rum und kommandierte.
Auf dem Flur rannte ich beinahe in Erich, meinen Arbeitskollegen, einen untersetzten Mann mit rotem Gesicht, der stets zu einem Witz aufgelegt war, meist auf Kosten anderer. Kurz gesagt, ein Hansdampf in allen Gassen. (Na ja, streng genommen war er nicht direkt ein Kollege, sondern er stand im Rang über mir: Er war der Erste Überdruck-Kontrolleur. Aber das macht ja nun keinen großen Unterschied mehr.) Heute jedoch schien Erich nicht nach Späßchen zumute zu sein, er machte im Gegenteil ein Gesicht, als wäre er unter eine Dampfwalze geraten: flach und lang. Und sein Kopf zeigte in einem komischen Winkel nach rechts. Um mir ins Gesicht zu sehen, musste er seinen Körper nach links drehen.
»Morgen, Michi«, sagte er traurig.
»Morgen, Erich. Was ist passiert?«
»Kann meinen Nacken nicht mehr bewegen. Muss zum Arzt. Kann heute nicht zur Arbeit. Sagst du Bescheid?« Sein rotes Gesicht zuckte dabei mehrmals, als bereite ihm jedes einzelne Wort Schmerzen.
»Hast du’s schon mal mit einer Dampfkompresse probiert?«, fragte ich.
»Mein Dampfgarer hat seinen Geist ausgehaucht. Kannst du mir mal deine Ausgabe von Band 451 der Reihe ›Steam For Dummies‹ ausleihen, du weißt schon, Professor Bömmels ›Wat is een Dampfmaschin‹?«
»Sorry, den habe ich schon längst verheizt.«
Seine Schultern sanken herab, und sein Gesicht wurde noch länger. »Seit sie nicht nur das Wasser, sondern auch den Brennstoff rationiert haben, um damit die großen Fabriken unter Dampf zu halten, wird das Leben immer schwieriger.«
Doch mit solchen aufrührerischen Äußerungen war er bei mir auf dem falschen Dampfer. Ich hatte keine Lust, wegen Erich meinen pensionsberechtigten Job zu riskieren. Noch einmal würde ich kaum genug Vertrauliches zusammentragen können, um den Personalchef unter Druck zu setzen.
»Willst du etwa wieder zurück in die Zeit der umweltzerfressenden Verbrennungsmotoren, der Kohle- und Kernkraftwerke?«, fuhr ich ihn an. »Du weißt doch, was die Regierungszeitung darüber schreibt!«
Er erschrak sichtlich. »Natürlich nicht! Ich wollte nur sagen … Na, ist ja auch egal. Bis morgen – hoffe ich.« Er hob die Rechte zu einem kurzen Gruß, machte eine 180-Grad-Kehrtwende und wankte zurück in seine Wohnung.
»Bis morgen«, antwortete ich und atmete auf.
Schade, dass ich ihn nun nicht wiedersehen werde. Er war, alles in allem, kein übler Kerl.
Ich hastete die drei Treppen hinunter, bevor ich noch jemandem in die Arme laufen konnte, denn ich war ohnehin zu spät dran. Draußen trieb mir die dampfende Atmosphäre sofort den Schweiß aus allen Poren. Beschleunigten Schrittes legte ich die zweihundert Meter zur nächsten U-Bahn-Haltestelle zurück, vorbei an den Denkmälern von James Watt und Thomas Newcomen, die gerade mithilfe von Dampfdruckreinigern vom Taubenmist befreit wurden. Bevor ich mich in den Untergrund wagte, setzte ich die Infrarotbrille auf.
Zu dumm, dachte ich, dass noch niemand etwas gegen den Dunst in den U-Bahnhöfen erfunden hat! Doch wie anders sollten die Bahnen angetrieben werden als durch Dampflokomotiven?
Noch ehe ich den Fuß der Treppe erreichte, nahm mich das Gedränge der Werktätigen auf und schob mich automatisch in Richtung Bahnsteig, an dem ich drei U-Bahnen später anlangte. Der zähe Strom der Menge quetschte mich durch eine offene Wagentür. Meine linke Hand machte schmerzhafte Bekanntschaft mit einer Dampfabzugshaube, die irgendein Trottel mit sich schleppte, und mein Kinn bohrte sich in den Hinterkopf eines Klappergestells von einem Männchen, das mir daraufhin sein Gesicht zuwandte. Durch die Infrarotbrille sah es violett aus, mit gelb glühenden Raubtieraugen. Seine Nase zuckte, dann öffnete es den Mund – einen feurigen Rachen.
»Wie riechst denn du?«, fuhr es mich an. Es brauchte wohl ein Ventil für seinen Frust. »Du duftest ja direkt! Gib’s zu, du hast dich gewaschen, vor höchstens einer Woche!«
»Verdunste«, zischte ich, »sonst dampfe ich dich ein!« Ich ballte die freie Rechte zur Faust.
Doch das war offensichtlich die falsche Antwort, denn nun erhob das Klappergestell seine Fistelstimme: »Er hat sich gewaschen! Hierher! Ergreift den Wasservergeuder! Den Umweltschreck! Den Volksschädling!«
Gegen den entfesselten Zorn der Menge gab es nur eine Verteidigung:...
Erscheint lt. Verlag | 7.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
ISBN-10 | 3-7389-7256-0 / 3738972560 |
ISBN-13 | 978-3-7389-7256-6 / 9783738972566 |
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