Die Leiche im Sieltief. Ostfrieslandkrimi (eBook)
180 Seiten
Klarant (Verlag)
978-3-96586-716-1 (ISBN)
Jan Olsen ist das neue Pseudonym eines seit 1991 in verschiedenen Genres erfolgreichen Schriftstellers. Jan ist mit einer Hebamme verheiratet, hat drei inzwischen erwachsene Kinder und darf sich seit Kurzem auch Großvater nennen. Als Kind des Nordens ist er der Nordsee mit all ihren rauen und lieblichen Facetten besonders zugetan und ließ kaum eine Ferienzeit verstreichen, ohne diese Gestade mit seiner Familie zu besuchen. Auch heute noch stehen Ferien an der Nordsee jedes Jahr auf dem Programm. Seine Vorliebe für die Nordsee und die dort lebenden Menschen kann er in seinen Ostfrieslandkrimis nun nach Herzenslust ausleben.
Kapitel 1
Vereinzelte Schneeflocken tanzten über die flache, endlos erscheinende Landschaft der Krummhörn hinweg und verliehen dem tristen Morgengrauen dieses Januartages mit ihrer verträumten Verspieltheit eine heitere, luftige Note. Die mattweißen Flocken schienen unentschlossen, ob sie sich auf den brachliegenden Feldern und Straßen niederlassen wollten oder das unbeschwerte Herumschweben noch ein wenig ausdehnen sollten.
Der niedergefallene Schnee zeichnete weiß die Linien der Ackerfurchen nach, bedeckte die Äste der kahlen Bäume, die die Straße säumten oder die einsamen Gehöfte umstanden; er hatte sich in einer dünnen Schicht auf dem Asphaltband gesammelt oder war am Fahrbahnrand zu niedrigen Wällen zusammengeweht worden. Der Schneefall hatte in der Nacht eingesetzt, war jedoch nicht stark genug gewesen, um die Landschaft unter einer weißen Decke zu begraben. Die Krummhörn wirkte eher, als wäre sie sparsam mit Puderzucker bestäubt worden.
Dem selbstvergessenen Schweben einiger Flocken wurde ein jähes Ende gesetzt, als sie gegen die Windschutzscheibe des in gemäßigtem Tempo dahinfahrenden Fords klatschten und von dem Scheibenwischer prosaisch beiseite gewischt wurden. Staatsanwalt Henning Lindau, der auf dem Beifahrersitz saß, klammerte sich mit einer Hand am Haltegriff fest, während die andere flach und mit abgespreizten Fingern auf der Klappe des Handschuhfachs ruhte.
»Wäre es nicht besser gewesen, wir hätten die Bundesstraße genommen?«, fragte er an die hochgewachsene, schlanke Frau gerichtet, die das Fahrzeug lenkte. »Dort wäre der Winterdienst womöglich bereits längsgefahren.« Er hob die Hand und deutete fahrig nach vorn. »Hier aber … das reinste Chaos!« Hastig platzierte er die Hand wieder auf dem Armaturenbrett.
Carla Oberlander warf ihrem Chef einen flüchtigen Blick zu. »Das bisschen Schnee wird uns schon nicht umbringen«, sagte sie begütigend. Mit dem Mittelfinger schob sie sich eine Strähne ihres brünetten Haars aus der Stirn, was ihr einen missbilligenden Blick des Staatsanwaltes eintrug.
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie beide Hände am Lenkrad behalten würden«, sagte er.
Carla deutete mit einem Kopfnicken auf den nach vorn ausgestreckten Arm des Staatsanwaltes. »Und Sie sollten die Hand da wegnehmen. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass uns etwas zustößt und der Beifahrer-Airbag auslöst, könnte das sehr schmerzhaft für Sie werden.«
Als hätte der stämmige Mann mit der Halbglatze sich die Finger an einer heißen Herdplatte verbrannt, zog er die Hand zurück und umklammerte stattdessen den Rand des gepolsterten Sitzes. »Sie haben es echt raus, einem die Furcht zu nehmen«, merkte er säuerlich an.
»Ich fahre Ihnen zuliebe nur sechzig«, gab Carla geduldig zurück. »Bei dieser Geschwindigkeit kann uns einfach nichts passieren.« Sie drehte am Lenkrad und folgte einer scharfen Biegung, von denen die Cirkwehrumer Straße nicht gerade wenige aufzuweisen hatte.
Henning Lindau verkrampfte noch mehr. Voller Sorge blickte er über seine Schulter hinweg auf die Rückbank und die kreisrunde Friesentorte, die dort stand. Sie war dick mit Puderzucker bedeckt und sah aus, als hätte sie eine Menge von dem Schnee draußen abbekommen. Das geschichtete Kunstwerk aus Mürbeteig, Blätterteig, Schlagsahne und Pflaumenmus ruhte unverrückbar auf der Servierplatte, die sich in der Kurve jedoch ein paar Millimeter bewegt zu haben schien, wie es dem Staatsanwalt vorkam.
»Alles in Ordnung mit unserem Mitbringsel für die Greetsieler Polizeistation?«, erkundigte sich Carla.
»Noch ja«, gab Henning angestrengt zurück. »Wir hätten die Bundesstraße nehmen sollen«, begann er dann aber von Neuem. »Da gibt es bei Weitem nicht so viele halsbrecherische Kurven.«
Die Sekretärin seufzte. »Das wäre ein deutlicher Umweg gewesen und hätte die Fahrt von Emden nach Greetsiel nur unnötig in die Länge gezogen.«
»Ich möchte meiner Frau aber nicht beichten müssen, dass es ihre schöne Torte nicht unversehrt bis zu den Greetsieler Ermittlern geschafft hat, weil meine Sekretärin …«
»Wenn der Torte etwas geschieht, werde ich mit Ihrer Frau sprechen«, versprach Carla mit einem Unterton in der Stimme, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass sie fest davon ausging, dass eine solche Unterhaltung nicht stattfinden würde, weil der Torte nichts Schlimmeres widerfahren würde, als von Ruth Fasan, Hagen Reese und Alice Bergmann mit Genuss verspeist zu werden.
Henning bedachte seine Sekretärin mit einem verkniffenen Grinsen. »Ich werde Sie beim Wort nehmen, Frau Oberlander«, drohte er spielerisch.
»Es wird schon nichts …« Die Sekretärin verstummte und schaute angestrengt in den Rückspiegel.
»Was ist?«, wollte Henning wissen.
»Ein Raser«, antwortete Carla missbilligend. »Und Licht hat er auch nicht an!«
Lindau neigte sich in seinem Sitz nach vorn und sah in den Seitenspiegel auf der Beifahrerseite. Das unbeleuchtete Fahrzeug, das sich ihnen in hoher Geschwindigkeit von hinten näherte, war wegen der schlechten Sichtverhältnisse nur schwer auszumachen.
»Ein Sportwagen«, stellte Henning fest, als der Wagen sich ihnen bis auf wenige Meter genähert hatte. »Die taubengraue Lackierung macht ihn bei diesen Witterungsbedingungen fast unsichtbar.«
Carla nickte angespannt. »Ein Mazda MX-5 mit flexiblem Verdeck«, sagte sie. »Ein schöner Wagen, der seinen Besitzer in diesem Fall aber leider zum Rasen animiert.«
Ein Hupen schallte zu ihnen herüber.
»Lassen Sie sich von dem bloß nicht nervös machen!«, mahnte Henning.
In diesem Moment setzte der Sportwagen zum Überholen an. Carla schüttelte fassungslos den Kopf. »Da vorne kommt eine Kurve … und der überholt trotzdem!«
»Sie überholt trotzdem«, berichtigte Lindau, der einen Blick ins Innere des Mazdas warf, als dieser an ihnen vorbeizog. »Es sitzt eine Frau am Steuer.«
»Und wenn schon!« Carla war sichtlich angespannt. Sie schrie spitz auf, als der Sportwagen vor ihnen plötzlich haarscharf einscherte und dann hart abbremste.
In einem Reflex riss die Sekretärin das Steuer herum und verhinderte so gerade eben noch einen Auffahrunfall. Der Ford verlor die Bodenhaftung und geriet ins Rutschen. Carla versuchte, den Wagen abzufangen, konnte es aber nicht verhindern, dass er auf den Seitenstreifen geriet. Das schneebedeckte welke Grün hätte einen idealen Untergrund für eine Schlittenfahrt abgegeben, eignete sich aber überhaupt nicht dazu, um ein außer Kontrolle geratenes Fahrzeug wieder auf die Spur zu bringen. Der Ford rutschte trotz durchgetretener Bremse und eingescherten Lenkrads mit der Kühlerhaube voran geradewegs in den Straßengraben, wo seine Schlitterpartie ein abruptes Ende fand.
*
Geschockt und für den Moment unfähig, sich zu regen, saßen Henning Lindau und Carla Oberlander in den Sitzen des schräg im Straßengraben feststeckenden Autos. Die Scheinwerfer beleuchteten effektvoll die Böschung des Grabens, während die Scheibenwischer trotz der misslichen Lage gleichmütig ihren Dienst verrichteten. Der Motor war abgewürgt und die beiden Airbags hatten sich mit einem Knall zu beachtlichen Ballons aufgeplustert. Jetzt sackten sie vor den Fahrzeuginsassen langsam in sich zusammen.
Henning drückte den Balg nieder und spähte angestrengt zur Straße hinauf. Nach einem Fahrzeug hielt er jedoch vergebens Ausschau. Der Mazda war hinter der Kurve verschwunden. »Sie ist einfach weitergefahren!«, konstatierte er fassungslos. »Sie muss doch mitgekriegt haben, was uns widerfahren ist!«
»Ein Fall von Fahrerflucht oder zumindest ein Fall von unterlassener Hilfeleistung«, kommentierte Carla zornig. Sie sah nach hinten und verzog dann das Gesicht. »Drehen Sie sich lieber nicht um«, sagte sie.
»Die Friesentorte?«, fragte Henning voller böser Vorahnungen.
»Liegt im Fußraum«, bestätigte Carla bedauernd.
Der Staatsanwalt rang die Hände. »Als hätte ich es nicht geahnt!«
Carla drückte den Wagenschlag auf, was wegen der Schräglage des Fahrzeugs nicht ganz einfach war. Mühsam kletterte sie ins Freie, während Schneeflocken um sie herum wirbelten. Kurz darauf musste sie feststellen, dass ihr mintgrünes Kostüm nicht dafür gemacht war, die Böschung eines Straßengrabens zu erklimmen. Ihre Hackenschuhe waren ihr dabei auch keine große Hilfe. Dennoch schaffte sie es und stand schließlich auf dem Seitenstreifen der Straße. Kalter Wind griff in ihr Haar und strich ihre Beine entlang.
Da die Beifahrertür von der Böschung blockiert wurde, musste Henning ebenfalls auf der Fahrerseite aussteigen. Aufmerksam, wie...
Erscheint lt. Verlag | 27.1.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
ISBN-10 | 3-96586-716-4 / 3965867164 |
ISBN-13 | 978-3-96586-716-1 / 9783965867161 |
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