Kali riss ihr bluttriefendes Maul auf.
Die Todesgöttin amüsierte sich. Der Berg Meru, auf dem die indischen Götter wohnten, bebte unter ihrem höhnischen Gelächter.
Kali war schrecklich anzusehen. Sie trug eine Kette aus Menschenschädeln um ihren Hals. Blut tropfte aus ihren Augen. In jeder ihrer zehn Hände trug sie eine tödliche Waffe: Schwerter, Keulen, Äxte und andere Mordinstrumente.
Sie verkörperte Zerstörung und Vernichtung.
Götterberg Meru, Indien
Der goldene Berg mit den drei glänzenden Spitzen überragte alle anderen Achttausender des Himalaja. Von Menschenaugen gesehen oder von Menschenhänden berührt werden konnte er trotzdem nicht. Er befand sich in einer anderen, mystischen Dimension.
Dieser Berg war der Mittelpunkt der Welt, jedenfalls nach indischer Vorstellung. Auf seinem Gipfel lebten im Swarga, einer indischen Variante des Paradieses, die himmlischen Geister und Götter.
Jedes dieser Wesen hatte seine eigene Sphäre, wobei sich ihre Umgebungen auch überlappen und ergänzen konnten. Viele Götter und Göttinnen waren als Liebespaare miteinander verbunden. Sie komplettierten sich gegenseitig symbiotisch. Einer war ohne den anderen nicht denkbar.
So wie Kali mit ihrem Gatten Shiva. Da Kali die Todesgöttin war, hatte sie den männlichen Gott natürlich getötet und tanzte auf seinem Leichnam.
Gleichzeitig lebte und existierte Shiva aber trotzdem, wenn auch auf einer anderen Ebene. Dieser Widerspruch war mit menschlicher Logik nicht zu verstehen.
Die üblichen Maßstäbe von Zeit und Raum galten auf dem Berg Meru ebenfalls nicht. Deshalb konnte niemand sagen, wie lange Kalis Lachanfall dauerte.
»Was soll der Unfug??«
Die donnernde Stimme, die diesen Satz herausgeschleudert hatte wie eine Lavaeruption, gehörte Brahma.
Der Allerhöchste, das erste Bewusstsein im Universum, verzog seine vier Gesichter unwillig. Brahma war mit dem Fell einer schwarzen Antilope bekleidet. Wie üblich saß er in Yogastellung in seinem prächtigen Streitwagen, der von sieben Schwänen gezogen wurde.
»Warum führst du dich auf wie eine Närrin, Kali?«, grollte der mächtige Gott noch einmal.
Die Zerstörer-Göttin drehte sich so schnell zu ihm hin, dass noch mehr Blut aus ihren Augen spritzte und auf ihre schwarze Haut und ihre üppigen Brüste fiel.
»Ich lache über euch, o Brahma! Über euch alle - denn in Wahrheit seid ihr die Narren!«
»Wir wissen, dass du gerne Unfrieden stiftest.«
Mit diesen Worten hatte sich Krishna eingemischt. Der ewig jugendliche schöne Gott mit der leuchtend blauen Haut ließ seine Querflöte sinken und hielt in seinem Flötenspiel inne. »Und daher beliebt es dir, uns jetzt als Narren zu beschimpfen.«
»Mir beliebt gar nichts, du blauhäutige Kröte!«, schnappte Kali. »Ihr seid Narren! Das ist eine Tatsache!«
»Und warum sollen wir Narren sein?«, wollte nun Brahma wissen.
»Weil ihr auf Asha Devi vertraut!«
Für einen Moment herrschte eine unheimliche Ruhe auf dem Berg Meru.
Kali hatte die anderen Götter provozieren wollen.
Asha Devi, die Inspectorin bei der India Demon Police, war ein erklärter Liebling der Götter. Sie stand unter dem besonderen Schutz von Shiva und von Durga, der Kriegsgöttin.
Daher verwunderte es auch nicht, dass Durga nun zornig das Wort ergriff.
»Asha Devi ist uns treu ergeben! Wenn es jemals ein sterbliches Wesen gegeben hat, das den Göttern vertraut, dann ist es Asha Devi!«
Durga hatte sich drohend vor Kali aufgebaut. Sie galt als im Kampf unbesiegbar. Auf ihrem Haupt thronte ein schwerer Goldhelm. Sie ritt auf einem wilden Löwen und hatte in jedem ihrer unzähligen Arme eine Kriegswaffe.
Doch Kali zeigte sich wenig beeindruckt.
»Die Wahrheit ist, eben schwer zu ertragen, Durga. Wenn Asha Devi wirklich in eine ausweglose Lage gerät, wird sie den Göttern schnell abschwören.«
»Niemals!«
Kali lachte höhnisch. »Nein, niemals! Ihr werdet es nämlich niemals zulassen, dass Asha Devi ernsthaft in Gefahr gerät. Weil ihr genau wisst, dass ich Recht habe!«
»Du hast Unrecht, Kali«, brummte nun Hanuman, der riesige Affengott. Er verzog seine wulstigen Lippen und klirrte mit dem Metall seiner Rüstung. »Asha Devi vertraut uns, den Göttern. Egal, wie schlimm ihre Lage auch sein mag - sie wird sich niemals gegen uns, ihre Beschützer, wenden.«
»Auch, wenn sie in die Höllen kommt?«, fragte Kali mit teuflischer Schläue.
»Warum sollte Asha Devi in die Höllen geschickt werden? Sie hat nichts Böses getan.«
Brahma ließ keinen Zweifel daran, dass ihn dieses Gerede gewaltig störte.
»Asha Devi soll in den Höllen landen, damit ihr Glaube geprüft wird«, schlug Kali daher vor, um die Sache voranzubringen. »Ihr werdet sehen, dass sie schon bei den kleinsten Schwierigkeiten uns, den Göttern, abschwört.«
»Das glaube ich nicht!«, rief die Kriegsgöttin wütend.
»Dann probiert es aus!«, forderte Kali mit einem sadistischen Lächeln.
»Wir sollen Asha Devi in die Höllen jagen?«
»Ja!«, bestätigte die Todesgöttin eifrig. »Beweist mir, dass ich Unrecht habe! Asha Devi soll ohne göttliche Hilfe in den Höllen überleben!«
Die anderen Götter zögerten. Kali war berüchtigt für ihre Intrigen. Sie dachte sich gewiss etwas dabei, dass sie Asha Devi in die Abgründe der Finsternis stürzen wollte. Die Todesgöttin tat nichts ohne Grund.
Und doch konnten die Herrscher des Berges Meru diese Frechheit nicht auf sich sitzen lassen.
»So sei es«, sagte Brahma schließlich. »Aber was ist, wenn Asha Devi um Hilfe fleht?«
»Dann soll sie ihr gewährt werden«, räumte Kali unwillig ein.
»Aber du hast doch gesagt, dass Asha Devi ohne göttliche Hilfe in der Hölle zurechtkommen soll!«, erinnerte Krishna die Todesgöttin.
»Ich weiß, was ich gesagt habe! Dann muss sie eben ein sterblicher Mensch unterstützen.«
»Ein Sterblicher?«, hakte Durga nach. »Der wird doch selbst im Handumdrehen in den Abgründen der Unterwelt vernichtet werden!«
Darauf erwiderte Kali nichts. Sie grinste nur hämisch, während ihr weiterhin das Blut aus ihren entsetzlichen Augen lief.
»Und an welchen von den Milliarden Sterblichen hast du gedacht?«, fragte Shiva.
»An keinen bestimmten«, räumte die Todesgöttin ein.
»Dann schlage ich Professor Moronthor vor!«
Alle schauten Shiva an, nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte. Den anderen indischen Göttern war bekannt, dass Shiva bereits einmal mit dem Dämonenjäger zusammengetroffen war. Und auch Kali, die Todesgöttin, kannte Moronthor persönlich.
Allerdings schien sie mit der Idee nicht einverstanden zu sein.
»Das geht nicht!«, schrie sie.
»Warum nicht, Kali?«, wollte nun der mächtige Brahma wissen.
»Weil… weil… weil Moronthor kein richtiger Sterblicher ist! Er hat von der Quelle des Lebens getrunken.«
»Aber er kann durch Gewalt vernichtet werden«, erinnerte Shiva. »Und Gewalt gibt es in den Höllen mehr als genug.«
»Und außerdem ist er noch nicht einmal Inder!«, knirschte Kali. Es gefiel ihr offenbar gar nicht, dass Moronthor Asha Devi im Notfall beistehen sollte.
»Schluss damit!«, bestimmte Brahma. »Moronthor wird Asha Devi in der Unterwelt beistehen, falls sie um Hilfe bittet.«
»Aber nur, wenn er seine Waffen nicht mitnehmen darf!«, forderte Kali. »Wenn Moronthor in die Abgründe der Höllen herabsteigt, muss er sein Amulett, die Arrayhd-Kristalle und so weiter in der Menschenwelt lassen!«
»Wie kommst du eigentlich dazu, solche Bedingungen zu stellen?«, zürnte Durga.
»Ich bin die Göttin der Vernichtung und des Todes, nicht wahr? Wenn Moronthor mit seinen mächtigen weißmagischen Waffen in den Höllengründen kämpft, kann es zu Störungen in der kosmischen Harmonie kommen, zum absoluten Chaos!«
»Du bist doch sonst begeistert von Chaos und Verwirrung«, fauchte Shiva.
»Ich erfülle eben meine Aufgabe gewissenhaft, lieber Gatte. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass Zerstörung und Schöpfung nur zwei Seiten einer Medaille sind.«
Die Götter waren unruhig. Wieder einmal hatten sie sich von Kali herausfordern lassen. Niemand konnte sagen, was für ein Spiel die Zerstörerin mit ihren Forderungen eingeleitet hatte. Die Folgen waren unabsehbar.
Hanuman, der riesige Affengott, verzog sein rotes Gesicht und peitschte mit seinem gelben Schwanz, der mehrere Kilometer lang war, den Felsboden.
Er war von allen Göttern...