Bubu. Erinnerungen aus meiner Kindheit und Jugend (eBook)
348 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7568-9910-4 (ISBN)
Peter Lesser (1933-2019), geboren in Chemnitz, war Literaturkenner und -liebhaber. Unter dem Namen Bubu war Peter Lesser im Familien- und Freundeskreis bekannt. Die Erzählungen spielen in der Zeit von 1936 bis 1951 und behandeln die diktaturgeprägte Kindheit und frühe Jugend des Autors in Chemnitz. Peter Lesser wuchs in Chemnitz in der bekannten Kauffahrtei auf, wo sein Vater, Willy Lesser, Geschäftsführer des Konsum war. Anfang der 1950er Jahre zog die Familie Lesser nach Hamburg. In Hamburg gründete Peter Lesser 1977 'sportspaß e.V.'
7. Im Westen oder: Lakritzschnecken II
Der Westen, das waren für mich Lakritzschnecken.
Wenn ich nach unserer Flucht nach West-Berlin einen Groschen frei hatte – das war selten genug der Fall – schlich ich mich zum nächsten Kiosk (meine Mutter, meine Geschwister brauchten davon nichts mitzubekommen) und kaufte mir Lakritzschnecken.
Für einen Groschen bekam man 1951 vier kleinformatige, dünne Schnecken (wie sie heute ausschließlich angeboten werden) oder zwei schwerere, größere, breitbandigere Schnecken, die ich bevorzugte, da ich mit ihnen den Lakritz Geschmack am intensivsten auskosten konnte.
Ich rollte die Schnecke komplett auf, machte aus ihr eine meterlange Lakritz-Schnur und zog mir diese dann mit Lippen und Zähnen, die Hand half ein bisschen nach, in den Mund. Eine lockere, köstliche Mundfüllung, die ich langsam kaute und schluckte; ich wollte lange etwas von dem entbehrten Genuss haben.
Das also war der Westen für mich. Ich war noch nicht 17 Jahre alt, das letzte Mal hatte ich Lakritz im Chemnitzer Heimgarten vor dem Kriege beim Kaufmann Huster & Meyer bekommen, meiner Mutter die Pfennige dafür, die sie nicht hatte, abgequält, nein, das stimmt natürlich nicht, das letzte Mal, nach einer unendlich langen Pause, in der ich nirgendwo Lakritz bekam, hatte ich die Schnecken erst vor drei oder vier Monaten gegessen, als ich von Chemnitz aus allein mit dem Zug nach West-Berlin gefahren war und mir Susanne Suhr fünf Westmark geschenkt hatte, die ich sofort, noch bevor ich vom Anhalter Bahnhof aus die Heimreise antrat, in eine Lakritz-Orgie verwandelte.
Ich habe davon erzählt. Damals war die Mauer noch nicht gebaut – sie kam zehn Jahre später – und man reiste noch relativ problemlos von Ost nach West und umgekehrt.
Nun hatten wir unsere sächsische Heimat endgültig verlassen und waren unserem geflüchteten Vater gefolgt, der schon in Hamburg am Hansaplatz, Bahnhofsnähe, in der Pension der Witwe Lau logierte und beim Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften Arbeit gefunden hatte.
Wir waren in West-Berlin bei der Familie Partsch untergekommen, politischen Freunden meines Vaters, die ihre Altbauwohnung in Charlottenburg umräumten, die Möbel rückten, damit Flüchtlinge aus der DDR dort für einige Wochen unterschlüpfen konnten, bevor sie vom Flughafen Tempelhof nach Westdeutschland ausgeflogen wurden.
Bei der Familie Partsch wohnte auch Carlo, ein italienischer Student, ein Kommunist reinsten Wassers, den ich wie ein Weltwunder bestaunte. Carlo las mir täglich den Leitartikel des Neuen Deutschland vor. Das hatte ich noch nicht erlebt: Einen jungen Menschen, der wirklich an die Sprüche von Karl Marx, Lenin und Stalin (!) glaubte und sie als pure Wahrheit herunterbetete. Imperialismus sei die höchste Stufe des Kapitalismus. Die Sowjetunion sei die Heimat der Werktätigen. West-Berlin sei der Vorposten der internationalen Plutokratie, des kriegshungrigen Geldkapitals. Und so fort.
Ich sagte ihm einige Male: »Daran glaubt doch kein vernünftiger Mensch!« Ich habe zu Hause in Chemnitz niemanden getroffen, der diese Schlagworte, diese Propaganda ernst nahm, keinen Lehrer und keinen Schüler und schon gar keinen Sportsfreund. Diese Phrasen schrieb man in Klassenaufsätzen, Gegenwartskunde, und damit hatte es sich. Die Realität sah anders aus, im Osten und im Westen. Das wusste drüben jeder.
Ich sagte das Carlo. Ich regte mich richtig auf.
Ich musste es doch wissen. Ich kam doch von drüben. Und nicht nur ich. Täglich flüchteten Hunderte aus der DDR und konnten und wollten nicht zurück in die sogenannte Heimat der Werktätigen.
Ich wurde lauter und Carlo wurde immer leiser bei unseren Auseinandersetzungen. Er hatte auf alles eine Antwort, die sich logisch anhörte. Er sprach perfekt Deutsch. Und er war – wenn er nicht den politischen Agitator gab – ein prima Kerl. Er machte im Keller des Hauses Partsch für mich ein vergessenes, rostiges Fahrrad wieder fit und radelte mit mir durch Berlin, durch den Westen und auch durch den Osten.
Meine Mutter beschwor mich: »Bleib im Westen, fahr nicht bei den Russen rum, die behalten dich noch drüben!« Doch ich liebte das Risiko, folgte Carlo, der in jedem schäbigen Ost-Berliner HO-Laden einen Beweis für den Siegeszug des Sozialismus sah, blind. Angst hatte ich nicht, aber Wut. Wie konnte jemand so borniert sein wie Carlo?
Carlo studierte Soziologie und Psychologie. Aber er hatte immer Zeit für Radtouren. Er hatte eine komplette Glatze, nur an den Rändern seines Kopfes (der mich ein bisschen an Lenin erinnerte) wuchs noch zartes, dünnes, rotes Haar. Und er hatte Sternenaugen, grau-grün, unbesiegbar-freundlich schimmernd. Auch wenn ich ihn – wir kannten uns inzwischen besser – einen unbelehrbaren Spinner nannte, dessen kommunistischen Phrasenkäse in meiner Heimat niemand, wirklich niemand, ernst nehmen könne, hob er in seiner Replik nicht die Stimme, sondern antwortete mir in einem Tonfall und mit einem Augenglanz, als hätte ich ihm gerade die angenehmsten Schmeicheleien ins Ohr geflötet.
Zu uns – zu Carlo und mir – gehörte noch Renan, eine türkische Studentin, Tochter vermögender, europäisch orientierter Eltern aus Istanbul, damals eine der wenigen Auslandsstudentinnen an der West-Berliner Universität. Renan hatte ebenso wie Carlo eines der winzigen Mädchenzimmer in der riesigen Altbauwohnung der Familie Partsch gemietet: Die Familie brauchte Geld, von uns als DDR-Flüchtlinge konnte und wollte sie keines verlangen.
Mit Renan verband mich: Auch sie liebte Lakritzschnecken. Das war für mich eine Sensation gewesen, als sie auf unserer Dreier-Radtour den kleinen, runden Kiosk Kudamm Ecke Hardenbergstraße ansteuerte, mir den Lenker ihres Rades in die Hand schob und zehn große Lakritzschnecken für 50 Pfennig kaufte. Sie hielt mir die Tüte hin, ich griff zu, während Carlo den Kopf schüttelte, keinen Appetit hatte und lieber weiter über sein zweites Leib- und Magenthema – neben dem nicht aufzuhaltenden Sieg des Sozialismus und Kommunismus in Ost und West – referierte: die Unterdrückung der Frau im Islam.
Natürlich hatte ihn Renan, die Türkin, dazu inspiriert. Alle Frauen im Islam tragen Kopftücher, sie müssen das tun. Fünfmal beten am Tag ist Pflicht für jeden Gläubigen. Die Eltern verkaufen und verheiraten ihre minderjährigen Töchter; sie werden nicht gefragt, ob ihnen der Partner zusagt. Die armen Geschöpfe werden beschnitten.
Was ist das? Ich wagte Carlo nicht zu fragen. Aber ich sagte ihm: »Renan trägt doch kein Kopftuch.«
Carlo: »Sie ist Christin, kein Moslem. Sie gehört zu uns, sie ist die Ausnahme.«
Ich: »Aber du bist doch kein Christ.«
Carlo: »Natürlich nicht. Schon Karl Marx sagt: Religion ist Opium fürs Volk.« Da war Carlo wieder bei seinem anderen Lieblingsthema.
Meine Frau glaubt es mir nicht, wenn ich ihr sage: »Religiöse Fragen langweilen mich.« Das war – auch wenn meine Hand ein wenig zittert, als ich das aufschreibe – nie anders. Auch als Carlo gegen den Islam wetterte, hörte ich nur mit einem halben Ohr hin. Das regte mich nicht so auf wie Carlos marxistische Siegessprüche, wenn wir mit unseren Rädern an den kümmerlichen, verfallenden HO- und Konsum-Läden in Ost-Berlin vorbeiradelten.
Auch Renan, die Carlo doch beeindrucken wollte, schien die Unterdrückung der Frau im Islam nur wenig zu kümmern. Sie trug kein Kopftuch, sondern zeigte ihr volles, schönes, tiefdunkles Haar, das ihr über die Schulter fiel, bis hinab auf einen, pardon, stattlichen Hintern.
Manchmal hatte ich den Eindruck, sie hörte Carlo noch weniger aufmerksam zu als ich. Von ihr habe ich keinen Kommentar in Erinnerung, nicht zum Islam und schon gar nicht zu Karl Marx, Carlos verehrtem Propheten einer schöneren, gerechteren Welt.
Renan ließ Carlo und mich ohnehin am liebsten vorausradeln, sie zuckelte hinterher, mal 50, mal 100 Meter hinter uns, aber wenn sie in West-Berlin einen Kiosk, eine Trinkhalle oder eine Imbissbude entdeckte (das gab es im Osten praktisch nicht), trat sie rasant in die Pedale ihres Herrenrades – ja, Renan fuhr zu meiner Überraschung ein Herrenrad mit hohem Einstieg –, war blitzschnell bei uns und wandte sich gleich und ausschließlich an mich, den Fachmann, und fragte lachend: »Ob es hier Lakritzschnecken zu kaufen gibt?«
Renan aß, genoss die Lakritzschnecken wie ich: Sie rollte sie auf zur Schnur und zog sie sich dann mit Lippen und Zähnen genießerisch in den Mund.
»Wollen wir uns eine Schnecke teilen?«, fragte sie mich manchmal. Ich hatte auf die Frage gewartet, wie erhofft.
Renan reichte mir das eine Ende der meterlangen Lakritz Schnur, das andere führte sie in ihren Mund (volle Lippen!). Dann begann der Spaß: Wir kauten uns aufeinander zu, den anderen fest im Blick, wobei wir darauf achten mussten, nicht zu zeitig zuzubeißen, denn dann fiel das köstliche Lakritz in den Straßenstaub.
Für Renan war wichtig: Beim Aufeinander-zu-kauen durften wir uns nicht zu nahe kommen,...
Erscheint lt. Verlag | 12.12.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
ISBN-10 | 3-7568-9910-1 / 3756899101 |
ISBN-13 | 978-3-7568-9910-4 / 9783756899104 |
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