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Das Band, das uns hält (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61340-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Band, das uns hält -  Kent Haruf
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Die achtzigjährige Edith Goodnough wurde verhaftet. Ihr Nachbar weiß um Ediths Lebenstragödien und die kleinen Lichtblicke, die vielleicht unweigerlich zu diesem Januar 1977 führten: die entbehrungsreiche Kindheit, der Tod der Mutter, der durch einen Unfall abhängige, stets wütende Vater. Wahrhaftig und einfühlsam entführt Kent Haruf abermals in ein Leben, in dem es an dem meisten fehlt, in dem es Herz und Beharrlichkeit braucht, um die Geschenke darin zu entdecken.

Kent Haruf, geboren 1943 in Colorado, war ein amerikanischer Schriftsteller. Alle seine sechs Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado. Er wurde unter anderem mit dem Whiting Foundation Writers' Award, dem Wallace Stegner Award und dem Mountains & Plains Booksellers Award ausgezeichnet. Sein letzter Roman, ?Unsere Seelen bei Nacht?, wurde zum Bestseller und mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen verfilmt. Kent Haruf starb 2014.

Edith Goodnough ist nicht mehr auf dem Land. Sie liegt jetzt im Krankenhaus der Stadt, in diesem weißen Bett, mit einer Nadel im Handrücken und einem Mann, der auf dem Gang vor ihrem Zimmer Wache hält. Diese Woche wird sie achtzig. Eine schöne, anständige Frau mit weißem Haar, die im ganzen Leben nie mehr als zweiundfünfzig Kilo gewogen hat und seit diesem Silvesterabend noch viel weniger. Trotzdem gehen der Sherif‌f und die Anwälte davon aus, dass sie sich so weit erholen wird, dass man sie in einen Rollstuhl setzen und dann durch die Stadt zum Gerichtsgebäude fahren kann, um ihr den Prozess zu machen. Sollte es überhaupt dazu kommen, ist nicht klar, ob sie so weit gehen würden, ihr Handschellen anzulegen. Bud Sealey, der Sherif‌f, hat sich als Mistkerl entpuppt, schon klar, trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er einer Frau wie Edith Goodnough das antut.

Andererseits glaube ich auch nicht, dass Bud Sealey jemals vorhatte, ein Mistkerl zu werden. Erst vor neun Tagen saß er auf einem Barhocker am Tresen des Holt Café. Es war Freitagnachmittag, gegen halb drei, in der täglichen Flaute, wenn aller Papierkram erledigt ist und er nichts mehr zu tun hat, außer abzuwarten, dass die Kids aus der Highschool kommen und anfangen, die Main Street auf und ab zu rasen oder raus auf den Highway 34 zu fahren, um Wendemanöver auf dem Asphalt zu üben. Bud hatte also Zeit. Er ruhte sich ein bisschen aus. Sein Stück Butterscotch Pie hatte er bereits verputzt, und Betty hatte den Teller weggeräumt. Als er jetzt darauf wartete, dass seine zweite Tasse schwarzer Kaffee abkühlte, saß er mit dem Rücken zum Tresen auf seinem Hocker, sodass er die Männer an den Tischen vor sich hatte. Sie waren in ihren Stadtklamotten und Schirmmützen hereingekommen. Zwei oder drei hatten ihm wie immer auf den Rücken geklopft und sich auf die anderen Hocker oder an die nächsten Tische gesetzt, damit sie den Gesprächen folgen konnten und auf dem Laufenden blieben.

An diesem Nachmittag redete fast nur Bud. Er erzählte ihnen eine Geschichte. Ich glaube, ein Großteil der Männer hatte diese Geschichte mindestens schon zweimal gehört, aber vermutlich dachte keiner daran, ihn davon abzuhalten, sie noch einmal zum Besten zu geben, denn das Einzige, was sie im Übermaß hatten, war Zeit. Damit meine ich, dass sich zwei oder drei aus dem Berufsleben, mit dem sie nicht einmal hatten anfangen können, bereits zurückgezogen hatten.

Wie auch immer, die Geschichte, die Bud ihnen an diesem Nachmittag erzählte, handelte von einem Kerl, der auf der National Western Stock Show mit einem Stück rosa Strick herumlief, den er sich umgebunden hatte, als wäre er eins der landwirtschaftlichen Ausstellungsstücke in den Hallen des Pavillons. Er stellte sich sozusagen selbst zur Schau. Das heißt, bis die Polizei ihn festnahm und wegen unsittlichen Verhaltens und Erregung öffentlichen Ärgernisses ins Gefängnis steckte. Man erteilte ihm eine Verwarnung. Ein paar Wochen später, als er vor dem Richter steht – einem alten Mann mit Nickelbrille und kaum noch Haar auf dem Kopf –, sagt der zu ihm: »Ich werde dir nur eine einzige Frage stellen, mein Junge, und ich erwarte eine Antwort darauf. Bist du verrückt?« Und der Kerl mit dem rosa Strick sagt: »Nein, Sir, ich glaube nicht.« Darauf der Richter: »So so, bist du dann vielleicht nur halb verrückt?« Und der Kerl sagt …

Doch dieses Mal kam Bud nicht dazu zu erzählen, was der Kerl antwortet, weil just in diesem Augenblick jemand im Holt Café erschien, den weder Bud noch irgendeiner der anderen Männer kannte. Er fragte, wer von ihnen der Sherif‌f sei. Und einer der Jungs zeigte auf Bud.

Wie sich herausstellte, war dieser Neue ein Zeitungsreporter aus Denver. Er war gerade erst angekommen. Auf dem Polizeirevier hatte man ihm gesagt, er würde den Sherif‌f wahrscheinlich im Holt Café finden, und so war es auch. Deshalb ist das für mich der Zeitpunkt, kurz nach halb drei an einem Freitagnachmittag im April, an dem Bud Sealey ernsthaft zum Mistkerl wurde. Denn kurz darauf gingen Bud und dieser Mann aus Denver nach draußen zu Buds Streifenwagen. Anschließend fuhren sie die Main Street hinauf, und ich glaube nicht, dass sie sehr weit gekommen waren, bis Bud ihm die Geschichte von dem fünfundzwanzig Kilo schweren Sack mit Körnerfutter erzählte, den jemand in den Hühnerstall geschleift und in erreichbarer Nähe der sechs oder sieben Hühner, wo er vor Regen oder Schnee geschützt war, aufgeschlitzt hatte.

Doch das reichte nicht. Er war noch nicht zufrieden. Der Mann aus Denver wollte mehr als nur Hühnerfutter. Also bog Bud in eine der Wohnstraßen ein, fuhr unter den blühenden Ulmen am Straßenrand einen Häuserblock oder zwei weiter, und dann in der Birch Street oder Cedar Street packte er den angebundenen Hund noch obendrauf. Erzählte, wie man den milchäugigen alten Köter, der noch nie angebunden worden war, bis auf jenen Dezembernachmittag vor dreieinhalb Monaten, gefunden hatte, ebenfalls in unmittelbarer Nähe von Futter und Wasser, das für mehrere Tage reichen würde.

Doch auch das genügte nicht. Das Hühnerfutter und ein alter Köter hatten den Appetit des Manns aus Denver nur noch mehr angeregt. Außerdem fing er jetzt vermutlich an, Bud zu bedrängen, hartnäckig immer mehr zu fordern. Andererseits kam Bud da aber auch der Gedanke, es könnte für ihn etwas dabei herausspringen. Vielleicht bildete er sich ein, es würde seine zwanzigjährige Investition in die örtlichen Bezirkswahlen absichern, wenn sein Name auf der Titelseite einer Zeitung aus Denver erschiene, als wäre es so etwas wie der endgültige Abschluss einer Versicherung mit uns, die dafür sorgte, dass wir am ersten Dienstag im November das Kreuz neben seinen Namen machten. Denn wenn sein Name in den großen Zeitungen der Stadt an prominenter Stelle oder sogar auf der Titelseite erschiene, wären wir stolz auf ihn, stolz darauf, dass einer von uns so etwas schaffte, und dann müsste er nie wieder Geschichten im Holt Café erzählen, um unsere Stimmen einzusammeln. Er müsste nur noch seinen Namen zur richtigen Zeit auf die entsprechende Wahlliste setzen lassen und dafür sorgen, dass er korrekt buchstabiert wurde, und dann – verdammt noch mal – einfach weiter die Arztrechnungen seiner Frau bezahlen und die Studiengebühren an die staatliche Universität von Boulder überweisen, wo sein Sohn, wie es aussah, es nie zu was bringen, geschweige denn einen Abschluss machen würde.

Aber ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob Bud wirklich so dachte. Was ich angedeutet habe, beruht allein auf dem, was ich von ihm weiß, nach diesen fünfzig Jahren, die ich ihn kenne und mich ungefähr einmal die Woche mit ihm unterhalte. Alles, was ich sagen kann, ist, dass sein Streifenwagen etwas später an diesem Nachmittag draußen auf dem Land war und dass er und der Mann aus Denver noch immer darin saßen, sich noch immer unterhielten, einander beschnüffelten wie zwei Rüden, die sich über die neu entdeckten Wonnen mit einer läufigen Hündin austauschen. Nur ging es hier nicht um Paarung, nicht um Liebe oder das Wetter, nicht mal um den Preis von fetten Mastschweinen auf dem Schweinemarkt in Brush. Es war mehr als das. Ich glaube, es war viel mehr als das, denn genau dann und dort, zwischen Maisstoppeln auf der einen und grünem Weizen auf der anderen Seite der Straße, wurde Bud zum Verräter und lieferte ihm Edith Goodnough aus.

Er erzählte ihm, wie Edith im Dezember hier gesessen hatte, still in ihrem Schaukelstuhl, wartend, während ihr Bruder Lyman schräg gegenüber im Bett lag, mit dem Gesicht zur Wand, und laut schnarchte. Das hätte Bud ihm nicht erzählen müssen. Es gab schon genug, auch ohne das. Nur gut, dass der Mistkerl nichts von Lymans Reiseprospekten und dem Kürbiskuchen wusste, denn dann hätte er ihm als Zugabe auch noch davon erzählt. Ganz sicher.

Ich selbst erzählte ihm, als er mich am folgenden Nachmittag aufsuchte, gar nichts.

 

Das ist jetzt acht Tage her. Samstag. Als Erstes höre ich die Reifen auf dem Kiesweg, danach die Wagentür. Es ist noch zu früh für die Rückkehr von Mavis und Rena Pickett aus der Stadt, deshalb schaue ich aus dem schmalen Treibgang auf, wo ich die Rinder verarzte, und als ich das Nummernschild aus Denver sehe, denke ich, dass es einer dieser staatlichen Landwirtschaftsvertreter sein muss, der mir eine neue Sorte Dünger andrehen will. Selbst als ich den Schlips und die gelbe Hose sehe, denke ich das noch; mittlerweile ziehen sich einige der Jungen an, als wollte man sie jeden Augenblick zu einem Pingpongmatch auf‌fordern. Wie auch immer, da ist er, steigt aus seinem Wagen und kommt auf mich zu. Er erreicht die Koppel, findet das Gatter und fummelt am Riegel herum. Sieht aus, als käme er nicht dahinter, wie man es öffnet, denn jetzt versucht er drüberzuklettern. Nicht besonders gut für die Scharniere. Trotzdem zieht er sich hoch, und als das Gatter unter ihm hin und her schwankt, schwingt er beide Beine auf die andere Seite und lässt sich in die Koppel neben mich fallen.

»Ich bin auf der Suche nach Sanders Roscoe«, sagt er.

Ich wende mich wieder der Kuh zu. Verpasse ihr die Injektion, sie brüllt auf, dann öffne ich den Treibgang, und sie trottet los, galoppiert dann mit gesenktem Kopf davon und spritzt dabei frischen Kuhmist auf. Ein Spritzer, so groß wie eine halbe Dollarmünze, landet auf seinem Hemd neben dem Schlips.

»Sie haben ihn gefunden«, sage ich.

Er sieht nicht viel älter aus als ein Kind, aber bislang habe ich nicht viel von seinem Gesicht gesehen. Im Augenblick hat er den Kopf...

Erscheint lt. Verlag 24.5.2023
Reihe/Serie Ein Holt Roman
Ein Holt Roman
Übersetzer pociao pociao, Roberto de Hollanda
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel The Tie that Binds
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Bruder • Brutalität • Colorado • Familie • Farmer • Geschwister • Holt • Kent Haruf • Kleinstadt • Krankenhaus • Krieg • Lebensgeschichte • Lebenswege • Roman • Schicksal • Schicksalsschlag • Schwester • Zusammenhalt
ISBN-10 3-257-61340-7 / 3257613407
ISBN-13 978-3-257-61340-7 / 9783257613407
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